ImageBei der Vorstandssitzung am 27. Februar 2010 in Linz beschließt der Vorstand der Werkstatt Frieden & Solidarität ein Diskussionspapier unter dem Titel "Solidarstaat Österreich statt EU-Konkurrenzregime." Damit wollen wir zur Diskussion darüber einladen, wie wir einen solidarischen Ausweg aus der Krise erkämpfen können. Wir freuen uns über Diskussionsbeiträge. Mail an Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!


Solidarstaat Österreich statt EU-Konkurrenzregime
Überlegungen der Werkstatt Frieden & Solidarität  zum Kampf gegen Arbeitslosigkeit und Rotstiftpolitik

Die Wirtschafts- und Finanzkrise erreicht jetzt nach und nach die Bevölkerung: zum einen über den Spardruck auf die öffentlichen Finanzen und zum anderen über die massiv gestiegene Arbeitslosigkeit. Die jetzt medial groß inszenierte Einführung einer Bankensteuer ist letztlich eine kosmetische Maßnahme, die dazu dient, tiefe Einschnitte in die öffentlichen Haushalte (Sozialabbau, Investitionsstopp) und die Erhöhung von unsozialen Massensteuern ideologisch abzusichern. Die EU-Kommission hat einer harten Sparkurs vorgegeben, bis 2013 muss Österreich laut Vorgabe aus Brüssel 6 Milliarden Euro einsparen. Die Regierung hat sich bereits zu einer „primär ausgabenseitigen Budgetkonsolidierung“ bekannt. Härtester Spardruck kommt von der Industriellenvereinigung, deren Chef Veit Sorger ein Einsparvolumen von 9 bis 12 Milliarden Euro einfordert. Er liegt damit fast auf Augenhöhe mit dem Brachialkurs der FPÖ: Bereits im Frühjahr 2009 brachten die Rechtsextremen einen Antrag in den Nationalrat, der die Absenkung der Staatsquote um 4% (rd. 12 Milliarden) Euro zum Inhalt hatte.

Diese Politik verschärft die Krise weiter: So sollen etwa die Gemeindeinvestitionen auf Jahre eingefroren werden, die Arbeitslosigkeit wird dadurch weiter einsteigen bzw. auf hohen Niveau verharren. Besonders davon betroffen sind Jugendliche, deren Arbeitslosenquote bereits jetzt – nach nationalen Kriterien – bei rd. 15% liegt.  Immer mehr bestätigt sich unsere Einschätzung, dass das durch die EU entfachte Konkurrenzregime des Binnenmarktes und der Währungsunion nicht zur Integration sondern zur Spaltung und Hierarchisierung Europas führt, das den Macht- und Kapitaleliten der großen Staaten – allen vor Deutschlands – immer direkteren Zugriff auf andere Länder und Regionen verschafft. Das zeigt sich im Fall Griechenlands besonders deutlich. Zuerst wurden die dortigen Unternehmen durch die deutsche Exportindustrie niederkonkurriert, weil die Möglichkeit des Schutzes der eigenen Märkte nicht mehr möglich ist, jetzt wird das Land an den Pranger und unter Kuratel von Brüssel/Berlin gestellt.  

Der Widersinn von Massenarbeitslosigkeit und Sozialabbau ist so haarsträubend, dass ein ununterbrochenes mediales Dauertrommelfeuer notwendig ist, um ihn nicht ins Bewusstsein der Menschen sickern zu lassen. Arbeitslosigkeit und Sozialabbau bedeuten letztlich, dass man den Menschen den Konsum von Reichtum verweigert, während und weil man sie gleichzeitig daran hindert, diesen Reichtum zu schaffen. Besonders deutlich zeigt sich das bei den Pensionskassen: 400.000 Menschen werden zur Arbeitslosigkeit verurteilt, während gleichzeitig wegen der „demographischen Lücke“ die Pensionen weiter gesenkt werden sollen. Überlegen wir uns einmal, was 400.000 arbeitslose Menschen heißt: Pro Beschäftigten (umgerechnet auf Vollzeitäquivalente) wird in Österreich jährlich eine Wertschöpfung von rd. 70.000 Euro geschaffen. Gleichzeitig kostet ein Arbeitsloser durchschnittlich ca. 15.000 Euro. D.h. pro Arbeitslosen gehen in Summe rd. 85.000 Euro jährlich verloren. Das ist als ob man Güter und Dienstleistungen im Ausmaß dieses Werts einfach ins Meer kippen würde. Sollte sich die Arbeitslosigkeit auf dem Niveau von 400.000 einpendeln, dann würde das bedeuten, dass wir jährlich 34 Milliarden Euro ins Meer kippen. Das sind deutlich mehr als 10% des BIP. Zum Vergleich: Die gesamten Ausgaben für Pensionen betrugen im Jahr 2007 etwas über 30 Milliarden. Arbeitslosigkeit ist daher eine der größten Verschwendungen, die es gibt - natürlich unter der Voraussetzung, dass wir auch den stofflichen Inhalt der Arbeit im Blick haben. Diese Verschwendung vervielfacht sich, wenn man bedenkt, welche Arbeit nicht oder viel zu wenig in unserer Gesellschaft geleistet wird: Mangel an Bildung, Mangel an Gesundheit und Raubbau an natürlichen Ressourcen.

All diese Verschwendungen werden durch die von EU-Kommission, EZB, Regierung, Industriellen und Rechtsextremen forcierte Rotstiftpolitik zugespitzt.  Wir brauchen eine massive Erhöhung der öffentlichen Ausgaben und des gemeinschaftlichen Konsums, wenn wir einen Ausweg aus diesem zynischen Teufelskreis finden wollen. Und wir müssen immer mitbedenken: Es werden nicht nur die vorenthaltenen Produkte und Dienstleistungen der Arbeitslosen quasi ins Meer gekippt. Es werden auch ihre Schaffenskraft, Kreativität, ihr Selbstbewusstsein, ihr Stolz permanent angegriffen und entsorgt. Dieses neoliberale Regime demütigt und verletzt immer mehr Menschen durch Arbeitslosigkeit, Existenzunsicherheit und wachsenden Sozialdarwinismus – mit all den fatalen Folgen, die das auch politisch haben kann. Der Ausweg aus der Krise erfordert daher eine Politik, die die Menschen wieder ermutigt und ihnen wirtschaftliche und menschliche Perspektiven gibt. Wir brauchen den Aufbau eines Solidarstaates statt der Unterordnung unter das neoliberale EU-Konkurrenzregime.  


1. Ausweitung des Sozialversicherungsprinzips – Für das Recht auf Gesundheit, Pflege, Bildung und öffentliche Mobilität  

Das Sozialversicherungsprinzip, wie wir es derzeit vom Grundsatz her im Bereich der Krankenversicherung haben, stellt eine enorme Errungenschaft dar. Es beruht auf einem solidarischen Verteilungsprinzip, wo jede/r entsprechend seiner/ihrer Leistungsfähigkeit, jeder/m aber entsprechend seiner/ihrer Bedürfnisse gegeben wird: d.h. individueller Rechtsanspruch auf qualitativ hochstehende Leistungen für jeden und jede. Gerade bei Gütern mit hohen externen Effekten wie Gesundheit, Bildung oder umweltfreundlicher Mobilität ist das mit hohem Zusatznutzen verbunden: Wenn es jedem gut geht, geht es allen noch besser. Die Rückbindung der Finanzierung an die Wertschöpfung (derzeit nur unzureichend realisiert) sorgt zudem für eine stabile Einnahmengrundlage. Solche Finanzierungsmodelle können auch die Grundlage für mehr demokratische Mitbestimmung sein. Denn wo jede/r beträgt, soll auch jede/r mitbestimmen können, z.B. über die Wahl der Versicherten-VertreterInnen, der Fahrgast-VertreterInnen in den Aufsichtsräten der Verkehrsunternehmen, usw. Gesellschaftlicher Fortschritt bemisst sich unserer Meinung nach maßgeblich daran, die Bereiche des gemeinschaftlichen Konsums auszuweiten:

- Recht auf Pflegeversorgung durch Einbeziehung der Pflege in die Sozialversicherung
Recht auf kostenlose Benutzung der öffentlichen Verkehrsmitteln bei gleichzeitiger Finanzierung über eine wertschöpfungsbezogene Mobilitätsabgabe 
- Ausweitung des Rechts auf Bildung durch eine solidarische „Bildungsversicherung“: Das könnte z.B. heißen: jeder und jede hat das Recht auf fünf zusätzliche Bildungsjahre über die abgeschlossene Sekundärphase (AHS, BHS, Lehre) hinaus. Das (existenzsichernde) Einkommen in dieser Zeit – Bildung ist gesellschaftlich sinnvolle Arbeit! – wird über eine entsprechende solidarische Bildungsversicherung finanziert, unabhängig davon ob es in Form eines Studiums oder in Form anderer Bildungswege, ob unmittelbar nach der Schule oder während der Erwerbsbiographie in Anspruch genommen wird. Letztlich wird dadurch der Ruf der Studierendenbewegung „Reiche Eltern für alle!“ auf ein materielles, sozial lebbares Fundament gestellt. 

2. Sozial-ökologische Investitionsoffensive: 

Einige zentrale Projekte für eine solche Investitionsoffensive:

- Ausbau eines flächendeckenden öffentlichen Verkehrs mit dichtem Takt nach dem Vorbild der Schweiz.

- Investitionen für ein energieautarkes Österreich durch den Ausbau erneuerbarer Energien und Energiesparprogramme
- Gemeinsame Schule aller bis zum 14. Lebensjahr – flächendeckende Ganztagsschulen

- Recht auf einen Kinderbetreuungsplatz nach dem ersten Lebensjahr

- Förderung kommunaler Investitionsprogramme

 3. Zukunftsfähige und sozial gerechte Steuer- und Abgabenpolitik  

- Ausweitung der wertschöpfungsbezogene Finanzierung (1) auf jene Bereiche, wo Rechte für alle Menschen verallgemeinert werden sollen und stabile Einnahmengrundlage unabdingbar sind: Gesundheit und Pflege, Bildung, öffentliche Mobilität. Unseren – zugegebenermaßen kursorischen Berechnungen zufolge – würde das für den Bildungsbereich ca. 3 bis 5% des BIP, für eine Pflegeversicherung ca. 2% des BIP und für die Mobilitätsabgabe ca. 1% des BIP bedeuten. D.h. wir kämen wohl auf eine sog. „Staatsquote“ (besser „Solidar- oder Gemeinschaftsquote“ von über 50% - na und!). Wir treten in diesem Zusammenhang den von Attac, Gewerkschaften, Grünen usw. vorgetragenen Forderungen entgegentreten, solche Leistungen an die Finanzierung durch Vermögens-, Finanztransaktions- oder Umweltabgaben zu binden. Denn das hieße in der Konsequenz: Wir müssten gesellschaftliche Übel  (exzessive Ungleichverteilung, Spekulation und Umweltraubbau) hegen und pflegen, um die Sozial-, Gesundheits- und Bildungstöpfe finanzieren zu können. (2)

- Einkommens- und Vermögensbesteuerung haben neben dem Aspekt der allgemeinen Mittelaufbringung vor allem den Zweck, Verteilungsgerechtigkeit herzustellen. Wir stellen daher auch zur Debatte, ab welchem Einkommen ein Spitzensteuersatz von 100% legitim ist. Denn ab einer bestimmten Höhe hat Einkommen absolut nichts mehr mit Leistung zu tun sondern nur mehr mit der Macht, andere zu berauben (3). Niemand kann hier objektiv eine Linie mit dem Lineal ziehen, aber die Frage welche Mindest- und welche Höchsteinkommen wir gesellschaftlich als zulässig erachten, muss breit demokratisch erörtert und beschlossen werden. Darüber hinaus gibt es weitere Bereiche, wo Steuerreformen notwendig sind: breitere Basis für die Einkommenssteuer und gemilderte Progression in den mittleren Bereichen; Erhöhung von Vermögens- und Konzernsteuern, Einbeziehung der Kapitalerträge in die normale Einkommenssteuerprogression (unter Einbeziehung von Spekulationsgewinnen), Abschaffung von Privatstiftungen, Börsenumsatzsteuer, uvm.

- Produkt- bzw. Konsumsteuern sollen vor allem der Lenkung dienen: hin in Richtung umweltfreundlicher, arbeitsintensiver, die regionalen Kreisläufe stärkender Produkte und Dienstleistungen, d.h. selektive Senkung der Mehrwertsteuer in diesen Bereichen; Abgabe auf den Import von fossilen Energien zweckgebunden für kommunale Programme zur Förderung erneuerbarer Energien; Abschaffung der Mehrwertsteuerbefreiung für den Export, Wiedereinführung der Luxusmehrwertsteuer, etc.

4. Vollbeschäftigungspolitik - Für das Recht auf Arbeit! 

Vollbeschäftigung wird gebetsmühlenartig für unmöglich erklärt. Wir halten das für Unsinn. Vollbeschäftigungspolitik wird schlicht und einfach nicht gewollt, weil die Peitsche der Arbeitslosigkeit die Menschen gefügig macht. Wir verfügen sehr wohl über vielfältige Instrumentarien für eine Politik, die die Arbeitslosigkeit weitgehend eliminiert:

- Öffentliche Investitionsprogramme, insbesondere auf kommunaler Ebene·        
- Ausweitung der Beschäftigung insbesondere in den zukunftsfähigen Bereichen Bildung, Forschung, Gesundheit, Sozialwesen, erneuerbare Technologien, öffentlicher Verkehr, usw.
- Stärkung des öffentlichen Eigentums in wirtschaftlichen Kernbereichen
- Stärkung der Massenkaufkraft durch eine aktive Lohnpolitik
- Aktive Arbeitsmarktpolitik
, die auch einen „zweiten“ Arbeitsmarkt fördert·        
- Arbeitszeitverkürzung ohne Lohnverluste; insbesondere in Verbindung mit einer Ausweitung der Bildungszeiten (letztlich Durchsetzung und Verallgemeinerung einer neuen Erwerbsbiographie, wie sie derzeit nur für AkademikerInnen gilt: von 5 bis 65 Jahren ca. zwei Drittel unmittelbare Arbeit, ca. ein Drittel Bildungs- und Ausbildungszeiten) (4)

5. Kooperativer, solidarischer Gesamtrahmen 

Es gibt freilich eine entscheidende Voraussetzung für alle bisher aufgelisteten Politiken: Sie brauchen einen kooperativen, solidarischen Gesamtrahmen, wo die Menschen souverän, demokratisch und ergebnisoffen über die Ausgestaltung ihrer Solidarbeziehungen entscheiden können. Jedem der oben angeführten Politikvorschläge kann durch ein Konkurrenzregime die Luft ausgelassen werden. Auf der Grundlage eines solidarischen Rahmens sind vielfältige Regulations- und Eigentumsweisen möglich, ein konkurrenzieller Rahmen dagegen drängt zu öden wirtschaftlichen und sozialen Monokulturen. Es ist geradezu der Hauptzweck des EU-Konkurrenzregimes, einen solchen kooperativen Gesamtrahmen auf nationaler Ebene zu zertrümmern und zugleich dessen Aufbau auf europäischer Ebene zu verhindern. Freilich wäre ein kooperativer, solidarischer Rahmen auf europäischer, ja auf globaler Ebene wünschenswert, aber die EU-Verträge und die durch sie geschaffenen Institutionen (und das ist die EU!) sind das blanke Gegenteil davon. Wir sehen daher Österreich als den zentralen politischen Raum für den Aufbau eines Solidarstaates. Hier wird er sein – oder er wird nicht sein. Wir wissen, mit welchen Konsequenzen beides verbunden ist. 

Diskussionspapier der Werkstatt Frieden & Solidarität, beschlossen bei der Vorstandssitzung am 27.2.2010, Linz 


Anmerkungen:

(1) Wertschöpfungsbezogene Finanzierung meint hier also die gesamte Brutto-Wertschöpfung: neben den Löhnen, Gehältern und Selbständigen-Einkommen auch die gesamten Betriebsüberschüsse (inkl. Abschreibungen). Diskutiert müsste in diesem Zusammenhang auch die Aufhebung bzw. Anhebung von Höchstbemessungsgrundlagen.

(2) Zur Klarheit: Natürlich sind wir für höhere Vermögenssteuern, Einführung von Finanztransaktionssteuern und Umweltabgaben – aber als Lenkungsabgaben, um soziale und ökologische Fehlentwicklungen zurückzudrängen. Ihr Erfolg bemisst sich daran, dass diese Einnahmen zurückgehen. Gerade deshalb sind sie als nachhaltige Finanzierungsgrundlage für den Sozialstaat vollkommen ungeeignet.

(3) Die Einkommensunterschiede werden immer irrsinniger. Wenn z.B. Magna-Chefmanager Siegfried Wolf am ersten Tag des neuen Jahres nach 1 ½ Stunden Arbeit seine erste Vormittagspause macht, hat er bereits das verdient, wofür die Magna-ArbeiterInnen noch weitere 365 Tage werken müssen.

(4) Die Forderung nach der 35 Stundenwoche bei vollem Lohnausgleich ist nach wie vor wichtig, fraglich ist jedoch, wie sinnvoll die – ohnehin virtuelle – Lizitierung der Wochenarbeitszeit nach unten ist, wo die besonders Radikalen schon weit unter der 30 Stundenwoche angekommen sind.  Nicht nur weil diese Debatte weit von der gesellschaftlichen Wirklichkeit entfernt ist, sondern auch und vor allem, weil sie sehr stark im industriellen Paradigma verhaftet bleibt: Die Produktivität in der Industrie wächst, daher runter mit der Arbeitszeit. Ausgeblendet wird dabei, dass jene Bereiche, in denen wir die Ausweitung der Beschäftigung brauchen und wollen, vor allem Dienstleistungsbereiche sind, wo wir eine ähnliche Rationalisierung wie in der Industrie gerade nicht wollen, weil hier die Beziehungsarbeit im Vordergrund steht: Pflege, Bildung, Sozialarbeit uvm. Außerdem müssen wir die demokratiepolitischen Herausforderungen der Wissensgesellschaft im Blick behalten: Wenn wir wollen, dass Menschen die immer komplexeren gesellschaftlichen Verhältnisse demokratisch mitgestalten können, brauchen die Menschen viel mehr Zeit für Bildung – in einem umfassenden Sinn. Auch das sehen wir als gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit in einer zukunftsfähigen Gesellschaft.