Image„Wenn wir die Frage des EU-Austritts tabuisieren, amputieren wir unsere Sehnsucht nach Freiheit und Geborgenheit.“

Interview mit Boris Lechthaler zur 20. ordentlichen Vollversammlung der Solidarwerkstatt Österreich, bei der ein neues Statut beschlossen wurde.

Werkstatt-Blatt: Am 9. November fand in Wien die 20. ordentliche Vollversammlung der Solidarwerkstatt statt. Dabei wurde eine Neufassung der Statuten beschlossen. Warum?

Boris: Dass die Neufassung der Statuten mit dem runden Geburtstag zusammengefallen ist, ist eher ein glücklicher Zufall. Sie hätten auch schon bei der 19. oder erst bei der 21. Vollversammlung diskutiert und beschlossen werden können. In jedem Fall bildet diese Neufassung einen wichtigen Markstein in der Entwicklung unserer Organisation.

Werkstatt-Blatt:  Bei Statuten denkt man doch eher an ein dürres Regelwerk denn an einen Markstein.

Boris: Das alte Statut war tatsächlich ein dürres, etwas zusammengeschustertes Regelwerk. Das Neue formuliert auch Regeln, aber in klarem Bezug zu - erstmals stimmig artikuliertem - Zweck und Mittel der Organisation. Es skizziert damit gewissermaßen den Bauplan entlang dem wir auch unser Programm überarbeiten wollen. Dabei geht es darum, Emanzipation völlig neu zu formulieren. Betrachten wir Emanzipation sowohl als Anspruch zur Veränderung der Machtverhältnisse, als auch als Aufforderung zur Selbstermächtigung, finden wir heute weithin nur noch Ruinen.

ImageWerkstatt-Blatt: Welchen Beitrag leistet das neue Statut, um aus diesen Ruinen herauszukommen?

Boris: Mit dem Satz: „Unsere Sehnsucht nach Freiheit und Geborgenheit kann nur lebendig werden und lebendig bleiben, weil wir sie auf einen konkreten politischen Raum beziehen.“ leiten wir die Bestimmung des Vereinszwecks ein. In der Sehnsucht fühlen wir uns mit allen Menschen verbunden. Das, was uns vielleicht von anderen unterscheidet, ist der Schluss, sie auf einen konkreten politischen Raum beziehen zu müssen, damit sie lebendig wird und bleibt. Freiheit und Geborgenheit sind in einem unauflöslichen menschlichen Widerspruch verbunden. Erliegt man der Versuchung, diesen Widerspruch in Harmonie auflösen zu wollen, verliert sich unweigerlich der Bezug zur konkreten gesellschaftlichen Praxis im Hier und Heute. Emanzipation als Versprechen für die Zukunft verstellt sich quasi selbst den Weg. Die Erfahrung oder auch nur Ahnung der Uneinlösbarkeit des Versprechens ist mitverantwortlich für die tiefsitzende Frustration über die emanzipativen Strömungen in der Gesellschaft. Unsere Herangehensweise unterscheidet sich grundlegend: Freiheit und Geborgenheit waren, sind und bleiben gewissermaßen Treibstoff des Handelns in der menschlichen Gesellschaft; auch wenn sie frustriert wurden und mitunter auch zukünftig werden. Dadurch werden wir bewegt, deshalb sind wir in der Solidarwerkstatt aktiv. Wir sind nicht in einer historischen, religiösen oder sonstigen Mission unterwegs. Gerade die Bezugnahme auf einen konkreten politischen Raum im Hier und Heute statt der Erfüllung einer transzendenten Mission hat es uns auch in den vergangenen 20 Jahren ermöglicht, mit Geschick und Konsequenz gegen die EU-vermittelte sozialreaktionäre Wende anzukämpfen, während andere hinter dem Banner einer Mission oftmals die Orientierung verloren haben.

Werkstatt-Blatt: „Der Zweck der Solidarwerkstatt ist deshalb die Förderung aller Aktivitäten, die zu einem freien, solidarischen, neutralen und weltoffenen Österreich beitragen.“ Dieses Österreich „verweigert die Unterordnung unter das EU-Konkurrenzregime“ heißt es weiter im neuen Statut. Das heißt der Austritt aus der EU ist weiter ein wichtiger Punkt für die Solidarwerkstatt?

Boris: Ja. Hier gibt es bei uns keinen wahrnehmbaren Dissens. Die EU-Austrittsfrage ist das konkrete Beispiel für die vorhin geäußerten Überlegungen schlechthin. Freilich wissen wir, dass ein Austritt aus der EU unsere Gesellschaft nicht in einen Garten unaufhörlicher Glückseligkeit verwandelt. Das treibt uns auch gar nicht an. Was wir aber auch wissen: Wenn wir die Frage des Austritts so wie reihum tabuisieren, gehen wir der entscheidenden machtpolitischen Auseinandersetzung aus dem Weg, wir amputieren unsere Sehnsucht nach Freiheit und Geborgenheit und die Hoffnung auf eine andere Gesellschaft wird zum toten Ritual.

Werkstatt-Blatt: „Wir wollen mit unserer gemeinsam erarbeiteten Haltung politisch wirkmächtig werden.“, heißt es im Statut. Politische Wirkmächtigkeit wird gemeinhin mit Parteiförmigkeit assoziiert. Will die Solidarwerkstatt eine Partei werden?

Boris: Gerade die Verbindung von politischer Wirkmächtigkeit mit Parteiförmigkeit im Rahmen der Konkurrenzdemokratie ist eine wesentliche Hürde für die Entfaltung eines emanzipativen Machtprojekts. Heutige Parteiförmigkeit spaltet die Gesellschaft unten und ermöglicht den Elitenkonsens oben. Diese Mechanik wirkt zwingend beinahe unabhängig von den Zielen, die sich einzelne Parteien an die Fahne heften. Was wir brauchen sind Information, Überzeugung und Organisation. Eine solidarische und demokratische Wende, „die Überwindung der politischen und wirtschaftlichen Machtzusammenballung in den Händen weniger“, muss selbst organisiert werden. Die Solidarwerkstatt ermuntert ihre Mitglieder in Gemeinderäten, Betriebsräten, bei der unmittelbaren Interessenswahrnehmung aktiv zu werden. Wir erinnern daran, darauf zu achten, „dass sich ihre Tätigkeit … frei von der Gängelung durch Parteiestablishments und Einzelinteressen Vermögender entwickelt“. Wir haben auch im Statut verankert, dass die Solidarwerkstatt an keinen übergeordneten Listenwahlen teilnimmt.

„Die Solidarwerkstatt ist … programmatisch, politisch, organisatorisch und wirtschaftlich völlig unabhängig von Parteien und Einzelinteressen Vermögender.“ heißt es unter § 3.5. und unter § 3.7.5. haben wir auch festgehalten, dass wir eine „allgemeine, laufende Subventionierung unserer Überzeugungsarbeit aus Steuermitteln“ ablehnen. Abhängigkeiten wirken oft lange bevor die Akteure es selbst merken. Ausdruck unseres emanzipativen Machtanspruchs ist auch, dass wir nunmehr die Mitgliedschaft in unserer Organisation als Recht jedes Menschen in Österreich, der unsere Ziele und Regeln teilt, formulieren.

Werkstatt-Blatt: Wie passt diese neue Statut zur praktischen Arbeit der Solidarwerkstatt?

Boris: Ich denke, dass das neue Statut unsere praktische Arbeit sehr gut widerspiegelt und umgekehrt. Bei der Vollversammlung wurde ja nicht nur das neue Statut beschlossen, sondern auch im Mai 2014 wieder eine Aktion: „Solidarstaat statt EU-Konkurrenzregime!“ durchzuführen, auch die Fortsetzung der Kampagnen gegen das "EU-two-pack" ,Drohnenkrieg – Nein Danke! “ oder auch eine intensivere Auseinandersetzung um Betriebsarbeit wurden beschlossen.


Das neue Statut der Solidarwerkstatt Österreich, beschlossen am 9. November 2013

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