Das Jammern der Länder Wien, NÖ und der WKÖ, Ministerin Gewessler liefere keine Alternativen, ist unbegründet.
Am 1.12.2021 präsentierte Klimaschutzministerin Leonore Gewessler gemeinsam mit dem Umweltbundesamt-Experten Günther Lichtblau die Evaluierung der ASFINAG-Bauprojekte und verkündete, dass sowohl der südliche Teil der Wiener Lobauautobahn S1 mit dem Lobautunnel als auch die Marchfeld-Autobahn S8 Richtung Bratislava nicht gebaut werden. Der Aufschrei aus Kreisen der „Autobahn-Lobby“ war groß. Der Wiener Bürgermeister Michael Ludwig sprach wörtlich von „Pflanzerei“, die Länder Wien und Niederösterreich, die Wirtschaftskammer und andere drohen seither mit Milliardenklagen und sowohl Ludwig als auch die Wiener Planungsstadträtin Ulli Sima behaupteten, dass Gewessler „keine Alternativen“ vorgelegt habe.
Tatsächlich haben Gewessler und Lichtblau bei der kurzen Pressekonferenz „nur“ das Ergebnis der Bauprojekte-Evaluierung präsentiert. Bürgermeister Ludwig, Ulli Sima, die NÖ-Landeshauptfrau Johanna Mikl-Leitner und all die anderen Tobenden bzw. ihre FachreferentInnen waren anscheinend zu bequem, das parallel zur Pressekonferenz publizierte, 154 Seiten umfassende Ministeriumsdokument (Endnote 1) auch nur anzuschauen. Ab Seite 48 werden zu jedem einzelnen (gestrichenen) Autobahnprojekt machbare Alternativen (Substituierbarkeit) aufgelistet. Der Aufschrei, die Ministerin habe keine Alternativen geliefert, ist entweder fachliche Schlampigkeit oder übelste politische Propaganda.
Da ich als Umweltwissenschaftler und Aktivist seit 2003 mit der Thematik befasst bin, habe ich bereits im Vorfeld der Gewessler-Präsentation, unterstützt von einem Team der Plattform „Lobau-Forum“, eine kleine Broschüre zu Öffi-Alternativen im Raum Wien und Umgebung gestaltet. Sie wurde vorerst nur online veröffentlicht (Endnote 2) und stützt sich auf diverse frühere Studien verschiedener Autoren. Im Folgenden einige Schwerpunkte daraus:
Parallel zur Lobauautobahn-Trasse:
Die Schnellbahnlinie S80
Die Linie S80 verbindet den 22. Wiener Bezirk, die „Donaustadt“, mit dem Süden und Südwesten von Wien - insofern ideal geeignet als Ersatz für Pendlerströme auf der staugeplagten innerstädtischen Autobahn A23 und für die nun gestrichene Lobauautobahn. Die S-Bahnzüge fahren jedoch (wie bereits im Werkstattblatt 2/2021 erwähnt) keineswegs im 10-Minuten-Takt, sondern auch in der Spitzenzeit nur zweimal pro Stunde. Ein 15-Minuten-Takt soll erst nach dem Umbau der Verbindungsbahn im Westen Wiens erfolgen, etwa 2026 oder 2027. Ein hochrangiger Politiker sagte mir dieser Tage am Rande einer Pressekonferenz, der dichte Takt im Ostteil der Linie sei während der Umbauarbeiten im Westen nicht möglich, weil der Wiener Hauptbahnhof zu klein dimensioniert wurde, sodass dort ein Wenden im dichten Taktverkehr nur schwer machbar sei. Ich muss dies noch verifizieren, hörte aber inoffiziell schon vor Jahren, dass die Reduktion des Hauptbahnhofs von ursprünglich 16 geplanten auf nur zehn Gleise (damit beiderseits mehr lukrative Hochhäuser Platz haben) mittelfristig Probleme machen werde. Beheben lässt sich dieses Problem wohl nicht mehr.
Allerdings ist ÖBB-Insidern zufolge der derzeitige Halbstunden-Takt nicht nur der mangelnden „Bestellung und Bezahlung durch die Stadt Wien“ geschuldet, sondern der Trassenüberlastung (trotz innerstädtisch zweigleisigem Ausbau) durch unterschiedlich schnelle Güterzüge, Schnellbahnen, Eilzüge und Fernzüge (Bratislava). Der bereits in den 1990er Jahren geplante und dann schubladisierte viergleisige Ausbau von Simmering bis Erzherzog-Karl-Straße muss also dringend realisiert werden.
Ebenso ist der Neubau der durch die ÖBB in Abstimmung mit der Stadt Wien aufgelassenen Haltestellen Lobau und Hausfeldstraße zu fordern. Letztere Station wäre ein Knotenpunkt mit einer wichtigen Straßenbahnlinie. Gleich daneben besetzen derzeit Umweltschützer im von der Räumung bedrohten Camp Wüste die Baustelle der Hochleistungsstraße Stadtstraße, wo nach den Wünschen der Autobahn-Lobby künftig der Pendler- und LKW-Verkehr aus der Slowakei und von der S8 zur staugeplagten Südosttangente A23 brausen würde.
Der rasche Ausbau der S-Bahn-Linie S80 und der noch immer eingleisigen, nicht elektrifizierten Eisenbahn-Hauptstrecke von Wien nach Bratislava gehören zu den wichtigsten Maßnahmen, um Pendlerströme in diesem Bereich zumindest zum Teil auf die Schiene zu verlagern.
Weitere Maßnahmen im Schnellbahnnetz
Wer über die Linie S80 in den Nordwesten Wiens weiterfahren möchte, muss auch künftig einen riesigen Umweg über den Bahnhof Hütteldorf machen. Bereits seit gefühlten Ewigkeiten gibt es die Forderung von Verkehrsplanern, die Vororteschnellbahn S45 bei Unter St. Veit mit der S80 zu verbinden, mit Umsteigemöglichkeit zur U-Bahn-Linie U4. Bautechnisch ist all dies kompliziert, aber wenn wir 1969 zum Mond fliegen konnten, werden wir auch dieses Problem lösen.
Das nördliche Ende der Linie S45 solle, verspricht die Politik seit Jahren nebulös, entlang von Donau und Handelskai mit den Linien U1 und U2 verknüpft und mindestens bis zur Station Praterkai verlängert werden. Gleisanlagen sind vorhanden, jedoch liegt das Projekt im Tiefschlaf. Im inoffiziellen Gespräch schieben Stadt Wien und ÖBB die Schuld aufeinander bzw. auf die „schwierige Finanzierung und schlechte Gesprächsbasis“. Dies, obwohl das Projekt wesentlich kostengünstiger ist als ein U-Bahn-Bau oder gar die nun gestoppten milliardenteuren insgesamt 18 Kilometer Autobahntunnel unter Donau und Lobau.
Der Lobauautobahn-Tunnel sollte die Donaustadt mit Schwechat samt Flughafen verbinden. Wenn man diesen Weg mit Öffis anstrebt, hat man Pech. Die Linie S80 und die Flughafen-Schnellbahn S7 kreuzen einander zwar bei der potenziellen Station Hasenleiten, wo sogar Platz für eine solche Haltestelle vorbereitet wurde. Die Station wurde jedoch aus Einsparungsgründen nicht gebaut - dieses Manko gehört längst „repariert“. Zusätzlich gibt es Konzepte für ein oder zwei geschlossene S-Bahn-Ringlinien um Wien, die auf ihre Verwirklichung warten.
Öffi-Attraktivierung im Wiener Umland
Der Bau von Straßenbahnlinien ist wesentlich rascher und kostengünstiger möglich als der Bau von Vollbahn-Strecken (also „echten“ Eisenbahntrassen). Die Badner Bahn zeigt vor, wie man mit einer Lokalbahn, die im Umland auf eigenem Gleiskörper verkehrt, in der Stadt jedoch das Straßenbahnnetz verwendet, extrem erfolgreich sein kann. In den Randbereichen von Wien und im nahen Umland wäre, wie auch Verkehrsexperten der TU Wien betonen, der Bau von weiteren Lokalbahnen außerordentlich sinnvoll. Ihre Beförderungskapazität ist wesentlich höher als jene von Autobussen. Nur müssen sich Wien, NÖ und der Bund halt auf eine Koordination von Bau- und Betriebsmaßnahmen einigen, anstatt dass Wien und NÖ im Kantönligeist ersticken wie bisher bei der Frage, ob Busse der Wiener Linien auch die Wiener Stadtgrenze überschreiten sollen.
Im südlichen Weinviertel, also im Einzugsgebiet der nun gestrichenen Lobauautobahn, wurde erst im Dezember 2019 ein vierastiges Kreuz von Regionalbahnlinien vom Land NÖ stillgelegt. Eine wesentliche Ursache war, dass man die Nebenstrecke bereits seit 1988 südlich von Wolkersdorf tot enden ließ, mit einem Umsteigebahnhof (Obersdorf) zur Schnellbahn. Wer nach Wien zur U-Bahn-Linie U1 wollte, musste somit zweimal umsteigen. Ein großer Parkplatz bei der Umsteigestation Obersdorf ruinierte dann die Nebenbahn, weil die Pendler aus den Dörfern mit dem PKW gleich direkt zur Schnellbahn fuhren. Das Land NÖ stellte 2019 den Verkehr auf Autobusse um, was das Ende jeglichen Fahrradtransports in diesem attraktiven Ausflugsgebiet bedeutet. Hier wäre eine Reaktivierung der Regionalbahnen mit einem Gleisbogen nötig, damit die Regionaltriebwagen bis zur Endstelle „Leopoldau“ der Wiener U-Bahn durchfahren können.
Diese paar ausgewählten Beispiele zeigen, wie viele ungenutzte Möglichkeiten es gibt, die Öffis in Wien und seinem Umland attraktiver zu machen. Nutzen wir die Chance zu einer echten Verkehrswende!
Gerhard Hertenberger
(aus: WB3/2021)
Endnote 1: Ministeriums-Dokument
https://www.bmk.gv.at/themen/verkehrsplanung/ausbauplan/plan_asfinag.html
Endnote 2: Broschüre „Öffi-Alternativen“ https://lobau.org/wp-content/uploads/2021/12/00-Broschuere-Verkehrskonzept-GH-v04-20211130-Version-fuer-20211201.pdf
Lobauer Erklärung:
https://www.wwf.at/wp-content/uploads/2021/10/Lobauer-Erklaerung.pdf