Die EU-Verkehrskommissarin Adina Valean ließ Mitte Februar bei den Gesprächen wegen des explodierenden Transitverkehrs in Tirol aufhorchen: Wenn Österreich bei den Maßnahmen gegen den Transitverkehr nicht nachgebe, „könne es ja aus dem EU-Binnenmarkt aussteigen.“ Ein Blick in die Schweiz zeigt, dass das eine gute Idee ist.

Der sog. „freie Warenverkehr“ gehört bekanntlich zu den Heiligtümern des EU-Binnenmarktes. Die Folge: Seit dem EU-Beitritt hat sich in Österreich der grenzüberschreitende Güterverkehr auf der Straße verdreifacht. Seit dem Jahr 2000 ist der Transitverkehr am Brenner um 50% gestiegen, in der Schweiz ist er dagegen um ein Drittel zurückgegangen (sh. Grafik oben). Das ist auch in absoluten Zahlen gewaltig: Im Jahr 2000 fuhren über die Schweizer Alpenübergänge mit 1,4 Millionen LKWs fast gleich viele wie über den Brenner mit 1,56 Millionen. Doch während in der Schweiz die Zahl der LKWs um 460.000 auf 941.000 im Vorjahr gesunken ist, nahm die Lkw-Belastung über den Brenner um rund 860.000 auf über 2,4 Millionen zu. Im Vorjahr fuhren erstmals über den Brenner mehr LKWs als über die vier Schweizer und zwei französischen Alpenübergänge zusammen (Quelle: www.vcoe.at, 2019)

Transit: Brenner plus 54%, Schweiz minus 33%

Der Hintergrund dieser ungleichen Entwicklung: Aufgrund dessen, dass die Schweiz nicht bei der EU bzw. beim EU-Binnenmarkt ist, hat die Politik dort größere Möglichkeiten, Einschränkungen durchzusetzen: z.B. durch eine hohe LKW-Maut auf allen Straßen, in die auch externe Kosten, wie z.B. Gesundheitsschäden, Unfallkosten – eingerechnet werden. Mit den Einnahmen wird der Eisenbahnverkehr entschlossen ausgebaut. Zwar sieht auch die EU-Wegekosten-Richtlinie mittlerweile die Möglichkeit vor, externe Kosten in eine LKW-Maut einzurechnen. Doch von Kostenwahrheit ist das meilenweit entfernt. Gemäß den Berechnungen des Schweizer Statistikamtes (2014) verursachen schwere Gütertransporte externe Kosten für Umwelt, Gesundheit und Gesellschaft von 7 Cent pro Tonnenkilometer. Das entspricht ganzen 2,8 Euro pro Kilometer für einen 40t-Sattelzug. Aufgrund der aktuellen Vorgaben der EU-Wegekostenrichtlinie dürfen jedoch höchstens 8,64 Cent pro Kilometer bei Berechnung der Maut angesetzt werden. Das entspricht nicht einmal 3 Prozent der auf die Gesellschaft abgewälzten Kosten des Verkehrs.

„Hosen weit runtergelassen“

Zwei Mal wurden sektorale Fahrverbote in Tirol von der EU-Kommission bzw. EuGH aufgehoben. Das 2016 erlassene sektorale Fahrverbot wurde zwar schließlich von der EU akzeptiert, allerdings wurde vorher so viel Druck auf die Landesregierung ausgeübt, dass dieses Fahrverbot so lasch ausgefallen ist, dass es kaum eine Wirkung zeigt. „Die Tiroler Landesregierung hat die Hosen weit runtergelassen. Wenn sie so viele Zugeständnisse gemacht hat, ist das Fahrverbot kein Problem mehr.“ (https://www.tageszeitung.it, 17.2.2017), höhnte Elmar Morandell, Großfrächter und Obmann der Berufsgemeinschaft der Warentransporteure, über die schwarz-grüne Landesregierung. Die Frächterlobby weiß, was sie an der EU-Kommission hat.

„Am Rande des Kollaps“

Zuletzt hat die Tiroler Landesregierung diese Fahrverbote wieder verschärft, da „der Transitverkehr am Rande des Kollaps steht“ (O-Ton Verkehrsministerin Gewessler). Prompt verlangte die EU-Kommissarin als Gegenleistung für eine Korridormaut die Aufhebung dieser sektoralen Fahrverbote. Da platzte selbst dem Tiroler Landeshauptmann Platter der Kragen: Tirol werde von der EU „seit über 20 Jahre von einer gebrochenen Vereinbarung zur nächsten vertröstet“ (ORF-Tirol, 20.2.2020). Danke für diese Klarstellung, die man sonst kaum jemals von österreichischen PolitikerInnen hört. Freilich vergisst der Hr. Landeshauptmann dabei zu erwähnen, dass davor die österreichischen Regierungsparteien die Bevölkerung über den Tisch gezogen haben, als sie beim EU-Beitritt – trotz gegenteiliger Bundes- und Landesregierungs- und -parlamentsbeschlüssen – die LKW-Obergrenzen fallen ließen und mit dem „Transitvertrag“ den Menschen eine dreiste Mogelpackung servierten, um sie für ein „Ja“ bei der Volksabstimmung zu ködern.

„Freier Warenverkehr“ contra Klimaschutz und Gesundheit

Der EU-Binnenmarkt mit seinem Dogma des „freien Warenverkehrs“ steht in völligem Widerspruch zu den klimapolitischen Herausforderungen, vor denen wir stehen. Dieses neoliberale EU-Dogma führt zu solchen Irrsinnigkeiten, dass Österreich in etwa gleich viel Fleischprodukte exportiert wie importiert, gleich viel Milch und Molkereiprodukte exportiert wie importiert, gleich viel Zucker- und Zuckerprodukte exportiert wie importiert (sh. Statistik-Austria für 2017/18). Die Leidtragenden des dadurch explodierenden Güterverkehrs sind klimapolitisch wir alle und gesundheitlich insbesondere die Menschen entlang der Transitrouten.

Sagen wir freundlich „Servus“!

Wenn Landeshauptmann Platter in Richtung Brüssel meckert, es könne „einfach nicht sein, dass ein Nicht-EU-Land wie die Schweiz bessergestellt ist als Österreich“, dann muss man ihm einfach sagen: Doch, das kann es! Die Zahlen, wie unterschiedlich sich der Transitverkehr in Österreich bzw. der Schweiz entwickelt hat, sprechen eine eindeutige Sprache. Und daraus müssen wir die Konsequenzen ziehen. Statt sich noch weitere Jahrzehnte von der EU-Kommission mit gebrochenen Vereinbarungen vertrösten zu lassen, gilt es den Vorschlag von EU-Kommissarin Valean, Österreich könne ja den EU-Binnenmarkt verlassen, selbstbewusst aufzugreifen und sich mit einem freundlichen „Servus“ den neoliberalen EU-Verträgen und der Vormundschaft von EU-Kommission und EuGH zu entziehen. Damit würden wir die politische Freiheit zurückgewinnen, die Transitpolitik - und vieles andere mehr - demokratisch im Interesse der Mehrheit zu gestalten.

Nachsatz:
Laut Prognosen wird der Güterverkehr bis 2030 um weitere 30% ansteigen. Selbst die grüne Verkehrsministerin spricht von dieser Steigerung so, als ob es sich um ein Naturgesetz handelt. Um ein solches handelt es sich aber nur, wenn man politisch nicht über den Tellerrand des neoliberalen EU-Binnenmarktregimes hinaussehen kann. Ein Österreich außerhalb des EU-Binnenmarktes hätte gemeinsam mit der Schweiz eine starke Verhandlungsposition, um den alpenquerenden Transitverkehr einzudämmen und einen wesentlichen Beitrag zu leisten, eine klimafreundliche Gütertransportpolitik zu erzwingen - europaweit! So verändert man Europa in eine ökologische Richtung - und nicht durch den Kotau vor den EU-Binnenmarktsregeln und der EU-Kommission!

Gerald Oberansmayr
(Februar 2020)