Die EU-Taxonomie soll – so die Brüsseler Behörden - „Anlegern und Investoren Orientierung geben, welche Aktivitäten dabei helfen, in den nächsten 30 Jahren klimaneutral zu werden". Zum Jahreswechsel hat die EU-Kommission nun einen Vorschlag auf den Tisch gelegt, der der Atomkraft einen Persilschein als klimafreundliche Energie ausstellt. Ein Skandal, der absehbar war und aus dem wir Konsequenzen ziehen sollten.

Er war absehbar, weil bereits unmittelbar nach der Katastrophe nach Fukushima die EU-Kommission Schritt für Schritt versuchte, diese zu Recht völlig diskreditierte Form der Energiegewinnung wieder zu boosten. Schon wenige Monate nach Fukushima ging die EU-Kommission in die Atomoffensive und legte einen „Energiefahrplan 2050“ vor, der der nationalen Energiepolitik „ein europäisches Gerüst geben soll.“ Deklariertes Ziel: Ausbau der Atomenergie. So berichtet die Süddeutsche Zeitung bereits neun Monate (!) nach der Nuklearkatastrophe in Fukushima über diesen EU-Fahrplan: „Unterhändlern zufolge sehen die Details der Szenarien den Neubau von 40 Kernkraftwerken allein bis 2030 vor. […] Auch eine finanzielle Förderung der Atomenergie in Mitgliedsstaaten […] hält die Kommission Unterhändlern zufolge für möglich. Sie könnte demnach Subventionen für Neuinvestitionen in Atomkraftwerke, zum Beispiel in Großbritannien, erlauben.“ (1) Einige Jahre später war es soweit: Die EU-Kommission genehmigt die staatliche Subventionierung des britischen Atomkraftwerks Hinkley Point C. Die Gesamtkosten werden auf 43 Milliarden geschätzt, die staatlichen Subventionen auf 19 Milliarden.

Die Pro-Atom-Linie der EU-Kommission fußt auf dem EURATOM-Vertrag, der die Interessen der Atomwirtschaft im EU-Primärrecht einbetoniert. In der Präambel des EURATOM-Vertrags wird hervorgehoben, dass dieser Vertrag dazu dient, "die Voraussetzungen für die Entwicklung einer mächtigen Kernindustrie zu schaffen.“

Siamesische Zwillinge: AKW und Atombombe

Wirtschaftlich sind diese Atomkraftwerke völlig unrentabel. Den Hintergrund, warum die EU-Kommission, die sonst so strikt auf „Wettbewerbsfähigkeit“ pocht, trotzdem die Atomenergie fördert, liegen nicht zuletzt im militärischen Bereich. Denn die „zivile“ Nutzung der Kernenergie ist der siamesische Zwilling der kriegerischen. Die zivile Atomkraft stellt Schlüsseltechniken und Schlüsselrohstoffe zum Bau von Atomwaffen zur Verfügung. Das für AKW notwendige Uran kann über Zentrifugen zu waffenfähigem Uran angereichert werden. Der andere Weg zur Atombombe ist das hochgiftige Schwermetall Plutonium, das massenhaft durch die nukleare Kettenreaktion in Atomreaktoren gebildet wird. Abfallprodukte der Atomenergie wie abgereichertes Uran (Depleted Uranium) werden zu Uranmunition verarbeitet, die z.B. in den Kriegen von NATO-Staaten gegen Jugoslawien, Irak und Afghanistan zur Verseuchung ganzer Landstriche geführt hat. Auch im Forschungsbereich gibt es viele Überschneidungen: Wissenschaftler der Universität Sussex haben z.B. darauf verwiesen, wonach Rüstungskonzerne wie Rolls-Royce und BAE Systems eine „robuste“ zivile Atomindustrie als wesentlich für die Erneuerung des militärischen Atom-U-Boot-Programms sehen. Last but not least: Militärische Interventionen wie z.B. die derzeitige EU-Mission im Sahel dienen auch dazu, den Zugang zum Uranabbau für die französische Atomindustrie im afrikanische Niger gewaltsam abzusichern.

Gefährliche „Mini-AKWs“

Die sog. „Mini-AKWs“ (Small Modular Reactors = SMR), die der französische Präsidenten Macron nun als „Übergangstechnologie“ zur Lösung der Klimakrise anpreist, sind brandgefährlich. Sie weisen dieselben Umwelt- und Gesundheitsbedrohungen wie große Atomreaktoren auf: Gefahr von Unfällen, radioaktive Verstrahlung, ungeklärte Endlagerung, Gefahr von Terrorattacken. Zwar würde im Fall eines Unfalls oder einer Kernschmelze – aufgrund der geringeren Größe der SMRs – weniger nukleares Material freigesetzt. Um aber die Leistung eines großen Kraftwerks zu ersetzen, brauchte es eine Vielzahl an SMR-Anlagen, was wiederum die Gefahren potenzieren würde. Die Zahl der SMRs könnte gewaltig werden: Die 400 Atomkraftwerke von heute schaffen etwa ein Zehntel der globalen Stromproduktion. Dafür wären einer deutschen Studie zufolge bis zu zehntausend moderne Kleinreaktoren nötig. Um auch noch weitere Kohlkraftwerke zu ersetzen, müssten wohl zehntausende solcher Mini-AKWs errichtet werden.

Diese Mini-AKWs bieten außerdem einen noch direkteren Zugang zur Atombombe, da sie rascher errichtet werden können und besonders hoch angereichertes Uran benötigen. Das deutsche Bundesamt für Sicherheit der nuklearen Entsorgung (BASE) kommt daher zum Schluss: „Auch im Bereich SMR spielen industrie- und geopolitische Motivlagen sowie militärische Interessen eine Rolle. Die Mehrheit der Länder, die SMR-Entwicklungsaktivitäten verfolgen, unterhalten Kernwaffenprogramme und bauen Atom-U-Boote und/oder verfügen bereits über ein großes kommerzielles Atomprogramm“ (2).

Der französische Präsident macht daraus kein Hehl. Emmanuel Macron im Wortlaut: „Ohne zivile Kernenergie, keine militärische Nuklearmacht“ (3). Es ist daher kein Zufall, dass in der Zeit der französischen Ratspräsidentschaft im ersten Halbjahr 2022 „grünes“ Licht sowohl für die Atomkraft als auch für einen weiteren EU-Militarisierungsschub gegeben werden soll: Denn im Frühjahr 2022 will die EU auf einem Rüstungsgipfel einen „Strategischen Kompass“ beschließen, der laut der spanischen Zeitung „El Pais“, der ein Vorabdruck dieses Dokuments zugespielt wurde, „einen beispiellosen Anstieg der militärischen Kapazitäten der EU befürwortet.“ (4). Neben dem raschen Aufbau einer global interventionsfähigen Eingreiftruppe zählt dazu auf Perspektive auch die Entwicklung einer eigenen EU-Atombombe im Rahmen einer zentralen EU-Armee.

E-Carboom als Türöffner für Atomwirtschaft

Es gibt einen weiteren triftigen Grund, warum die EU eine Renaissance der Atomkraft einleiten will: Die Klimapläne der Europäischen Union sind an den Interessen der Autokonzerne ausgerichtet. Statt eine ernsthafte Verkehrswende einzuleiten, die den Autoverkehr massiv verringert, wird in erster Linie auf Umrüstung auf Elektroantrieb gesetzt, um der Autoindustrie einen zweiten Frühling zu verschaffen. Wenn die derzeitigen fossilen Automobilflotten durch E-Cars ersetzt werden, würde das zu einem deutlichen steigendem Strombedarf führen. Der E-Car-Boom wird somit zum Türöffner für die Atomwirtschaft.

Die Alternative dazu läge auf der Hand: Eine tatsächlich klimafreundliche Verkehrswende, durch die Verkehrswege verkürzt, vermieden oder auf klimafreundliche Mobilitätsformen verlagert werden. Das würde den gesamten Energiebedarf erheblich senken. Dafür bräuchte es freilich einen Bruch mit dem in den EU-Verträgen verankerten Freihandelsdogma. Außerdem bräuchten wir sehr viel mehr Investitionen in den Öffentlichen Verkehr, was sich wiederum mit den Austeritätsvorgaben des EU-Fiskalpakts spießt.

Auch die angebliche „Klimaneutralität“ der Atomenergie ist ein Märchen. Günter Pauritsch, Leiter des Centers für Energiewirtschaft und Infrastruktur der Österreichischen Energieagentur: „Von CO2-Neutralität kann keine Rede sein, beim Abbau und Transport des Spaltmaterials, meist Uran, und beim Bau des Kraftwerks fallen sehr wohl Klimagase an, ebenso beim Abbruch der Anlage sowie bei der Lagerung des radioaktiven Abfalls.“ (2)

Anti-Atom, Friedens- und Klimaschutzbewegung gemeinsam!

An diesen vielfältigen Zusammenhängen sehen wir, wie wichtig die Zusammenarbeit von Anti-Atom-, Friedens- und Klimaschutzbewegung sind. Eine klimafreundliche Verkehrswende, die auf Vermeiden, Verkürzen und Verlagern statt auf E-Automobilismus setzt, leistet einen zentraler Beitrag zum Ausstieg aus Fossilismus und Atomenergie – ebenso wie eine Politik, die sich für Abrüstung und eine atomwaffenfreie Welt engagiert.

Eine Kooperation dieser Bewegungen kann viel bewegen, wenn wir uns auf konkrete hier und heute umkämpfbare Forderungen fokussieren, zum Beispiel:

  • Es ist unfassbar, dass das Anti-Atomland Österreich aufgrund seiner Mitgliedschaft bei EURATOM die Atomlobby Jahr für Jahr mit dreistelligen Millionenbeträgen finanziert. Daher: Raus aus EURATOM, Umschichten der Gelder für die Förderung erneuerbarer Energien!
  • Die geplante EU-Taxonomie, die das Greenwashing von Atom- und Fossilenergien fördert, ist zukunftsfeindlich. Entwickeln wir eine eigene österreichische Taxonomie, in der Atom- und Fossilenergien keinen Platz haben!
  • Leiten wir eine echte Verkehrswende ein: Schluss mit dem Bau neuer Autobahnen und Schnellstraßen, Verbot von Kurzstreckenflügen, großzügige Investitionen in einen attraktiven Öffentlichen Verkehr und die sanfte Mobilität – flächendeckend und leistbar für alle!
  • Ausstieg Österreichs aus den EU-Battlegroups, aus den diversen Militärmissionen am Balkan und in Afrika sowie aus der „Ständig Strukturierten Zusammenarbeit“ (EU-SSZ/Pesco), die zur ständigen Erhöhung des Militärbudgets zwingt. Dieser Ausstieg aus der EU-Militarisierung schafft Raum für eine aktive Friedens- und Neutralitätspolitik, die sich international für Abrüstung, friedliche Konfliktbeilegung und die Verschrottung der Atomwaffen engagiert.

Gerald Oberansmayr
(8.1.2022)

Quellen:

  1. Süddeutsche Zeitung, 9.12.2011
  2. ORF, 4.12.2021, https://orf.at/stories/3235897/
  3. Telepolis, 5.1.2022, https://www.heise.de/tp/features/EU-Taxonomie-Ein-abgekarteter-Handel-6318091.html
  4. El Pais, Bernando de Miguel, "Die EU plant, im Jahr 2023 die ersten Militärübungen ihrer Geschichte durchzuführen", 14.11.2021