VertreterInnen von Umwelt- und Klimaschutzinitiativen stellen der aktuellen EU-Agrarreform ein vernichtendes Urteil aus. Hier ein Auszug:

Umweltinstitut München: Desaströse EU-Agrarreform

Es steht schlecht um Lebensräume wie Moore und Wälder. Dies zeigt deutlich der im Oktober erschienene „Bericht zur Lage der Natur in Europa“ der Europäischen Umweltagentur (EEA). In den Bericht sind Daten über den Zustand von Lebensräumen und Arten aus allen 28 Mitgliedstaaten in den Jahren 2013-2018 eingeflossen. Die Ergebnisse sind alarmierend: In der gesamten EU steht es nicht nur schlecht um einzelne Artengruppen wie zum Beispiel Vögel, sondern um ganze Lebensräume wie Moore, Grünland oder Wälder. Über 80 Prozent der Lebensräume befinden sich EU-weit in einem unzureichenden oder schlechten Zustand.
Als Hauptursache für den schlechten Zustand, sowohl bei Lebensräumen als auch bei einzelnen Arten, wird abermals die Landwirtschaft ausgemacht. Dies liege zum einen am Ausmaß der landwirtschaftlichen Bodennutzung und zum anderen an den veränderten landwirtschaftlichen Praktiken: Seit den 1950er Jahren werde die Landbewirtschaftung immer intensiver. Damit einher geht laut dem Umweltbundesamt der Einsatz von Pestiziden, starke Düngung, der Verlust von Landschaftselementen, enge Fruchtfolgen und der Verlust von artenreichem Dauergrünland. Dadurch nehme die Artenvielfalt auf landwirtschaftlich genutzten Flächen immer weiter ab. Das Ergebnis: Nur noch zwölf Prozent der landwirtschaftlichen Lebensräume befinden sich in einem guten Zustand.
Die Gemeinsame Agrarpolitik macht den größten Posten des EU-Haushalts aus. In den kommenden sieben Jahren soll die europäische Landwirtschaft mit fast 400 Milliarden Euro gefördert werden. Der größte Teil dieser Fördergelder wird auch in Zukunft verteilt werden, ohne dass die EmpfängerInnen nennenswerte Umweltauflagen einhalten müssten.
Die Gelder werden weiterhin nach Größe der Betriebe verteilt – je größer ein Betrieb ist, desto mehr Geld erhält er also. 60 Prozent der Zahlungen sollen weiter nur nach Fläche ausgezahlt werden. Zwar sollen 20 bis 30 Prozent der Gelder in Umweltleistungen (sogenannte „Eco-Schemes“) fließen. Diese sind für die LandwirtInnen zum einen jedoch nicht verpflichtend. Zum anderen fällt unter Umweltleistung etwa auch die Präzisionslandwirtschaft, die Landbewirtschaftung durch Nutzung digitaler Technik noch effizienter machen soll. Doch Effizienz beinhaltet nicht unbedingt, dass die Umwelt dadurch geschont wird. Außerdem sollen die Mitgliedstaaten weitgehend selbst entscheiden können, wie Umweltleistungen gestaltet sein sollen. … Das EU-Parlament und der Rat der Mitgliedstaaten haben eine desaströse Ausgestaltung der europäischen Agrarpolitik (GAP) für die nächsten sieben Jahre durchgewunken.
www.umweltinstitut.org

Guy Peer, Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung, Leipzig
„eine Katastrophe.“

Und zwar deshalb, weil ein Großteil der Gelder weiterhin ohne Umweltauflagen an große Betriebe ausgeschüttet werde, sagt Guy Peer vom Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung. Und damit, so der Wissenschaftler, an die falschen Landwirtinnen und Landwirte. Die Zahlung hänge nämlich einzig und allein von der Größe der landwirtschaftlichen Fläche ab. "Wenn wir immer über die Unterstützung der Landwirte sprechen, aber diese Gelder kommen nicht zu diesen Landwirten, dann werden wir einfach weiter Landwirte verlieren. Wir sehen die ganze Zeit diesen Prozess, wo die Leute das Land verlassen und an jemand anderen verkaufen."
Guy Peer sieht in der Reform keine Verbesserungen, sondern eine Reihe von Verschlechterungen für Landwirtinnen und Landwirte sowie die Umwelt. Zwar soll ein Teil der Gelder an Umweltmaßnahmen gekoppelt werden, aber: "Der Teufel steckt im Detail. Wenn die Details von Anfang an – in einer sehr schlauen Form – nicht richtig sind, dann wird es einfach nicht funktionieren." Und genau das sei bei den Eco-Schemes, wie sie der Reformvorschlag der EU-Minister vorsieht, der Fall. Die Folgen: „Biodiversitätsverlust, Dürre, Klimawandel". Auch darunter würden am Ende die Landwirtinnen und Landwirte leiden, so Peer.
www.mdr.de, 23.10.2020

Lasse van Aken, Greenpeace
„Verpatzte Chance“

Es ist frustrierend, weil die EU eine große Chance verpatzt hat. Vielleicht sogar die letzte Chance, um das massive Artensterben in Europa zu stoppen und Antworten auf die Klimakrise zu liefern, unter deren Folgen besonders die Landwirtschaft immer stärker leidet. … Von den Entscheidungen der vergangenen Woche profitieren – wie bisher – vor allem große industrialisierte Betriebe mit viel Land. Denn je größer die bewirtschaftete Fläche, desto höher die Subventionen. An diesem überkommenen Prinzip hat sich nichts geändert. Die Leidtragenden werden kleine und mittlere Familienbetriebe sein. Sie hätten jetzt eine klare, langfristige Perspektive und verlässliche und gezielte Unterstützung gebraucht. So wird wohl auch das Höfesterben weitergehen. Jedes Jahr geben allein in Deutschland mehr als 4000 Landwirtinnen und Landwirte ihre Höfe auf und das Land fällt Großgrundbesitzern in die Hände.
www.greenpeace.de, 26.10.2020

Greta Thunberg
„Vorantreiben der ökologischen Zerstörung“

Die Umweltaktivistin Greta Thunberg hat die Zustimmung des Europäischen Parlaments zur geplanten EU-Agrarreform scharf kritisiert. Das neue Subventionsgesetz werde "die ökologische Zerstörung vorantreiben", schrieb Thunberg im Onlinenetzwerk Facebook. Umweltschützer bemängeln, dass nur 20 Prozent der geplanten Ausgaben im Rahmen der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) in eine klimafreundliche Politik flößen.
Mit seiner Entscheidung habe sich das EU-Parlament elf Monate nach Ausrufung des Klima-Notstandes hinter eine Agrarpolitik gestellt, "die - zusammenfassend - die ökologische Zerstörung mit fast 400 Milliarden Euro antreibt", schrieb Thunberg. Dieser Tag zeige erneut, wie groß die Kluft zwischen der gegenwärtigen Politik und dem Punkt sei, "an dem wir sein müssten, um im Einklang mit dem Pariser Abkommen zu sein", erklärte Thunberg.
APA, 25.10.2020

KOMMENTAR
in: Werkstatt-Blatt 4/2020, Solidarwerkstatt

Brexit öffnet Tor für ökologische Agrarwende

Das Urteil von Umwelt- und Klimaschutzorganisation über die aktuelle EU-Agrarreform ist einhellig: „Desaströs“, „katastrophal“, „frustrierend“ (sh. oben). Bemerkenswert aber ist zugleich, dass kaum jemand diese Fehlentwicklungen mit der EU-Verfasstheit selbst in Verbindung bringt, d.h. mit dem in den EU-Verträgen verankerten neoliberalen Freihandelsdogma, über das Kommission und EuGH mit Argusaugen wachen. Dieses Dogma gilt sowohl nach innen als auch – siehe die vielen EU-Freihandelsverträge – nach außen. Zeitgleich mit dem fatalen „Weiter so“ in der EU-Landwirtschaftspolitik bahnt sich in Großbritannien eine ökologische Agrarwende an (sh. Beitrag in der FAZ, 1.12.2020). Dieser neue Weg ist dem Brexit zu verdanken, der auch in der Landwirtschaftspolitik – trotz konservativer Regierung! - neue Spielräume eröffnet. Es ist zu hoffen, dass das auch hierzulande in Umwelt- und Klimakreisen zum Umdenken führt: Der Ausstieg aus dem neoliberalen Korsett des EU-Binnenmarktregime ist kein Selbstläufer, aber Voraussetzung dafür, dass eine ökologische Agrarwende gelingt.