Rede von Renate Brunnbauer, Mittelschullehrerin und Personalvertreterin, bei der Kundgebung in Linz im Rahmen des österreichweiten Bildungsaktionstages am 15. Juni 2023. Sie bricht eine Lanze für eine gemeinsame inklusive Schule.


„Zufall und Glück“, das nannte ein österreichischer Universitätsprofessor, als er gefragt wurde, wie es zu seinem akademischen Bildungsabschluss gekommen ist. Zufall und Glück. Heute wäre es noch schwieriger, fügte der über 80-jährige Professor für Erziehungswissenschaften hinzu.

Zufall und Glück, ist uns das genug? Dass einige durch Zufall und Flück vom Schulsystem profitieren? Das darf nicht genügen. Wir haben die Berichte gehört. Von Eltern, Kindern, Jugendlichen, Schulleitern und Schulleiterinnen haben wir es gehört. Ich bin Mittelschullehrerin und Personalvertreterin und ich muss sagen, Zufall und Glück für einige genügen mir nicht als Bildungschancen.

… und NEIN, die Beispiele, die wir gehört haben, sind keine Einzelfälle oder Ausnahmeerscheinungen.

… und NEIN, die Pandemie ist nicht schuld an den Nöten und Engpässen in unseren Schulen

… und NEIN, der Personalmangel ist nicht Ursache für die strukturelle Ungerechtigkeit und das teilweise Versagen unseres Bildungswesens.

Die Pandemie hat uns manches bewusst gemacht. Ebenso wie der Personalmangel wirkt wie wie ein Vergrößerungsglas, wie ein Scheinwerfer, der uns die bestehenden Baustellen sichtbar macht.

Wir Lehrerinnen und Lehrer versuchen vieles auszugleichen. Das geht mittlerweile immer weniger, weil es einfach bei einer so großen Überstundenbelastung nicht mehr in dem Ausmaß geht. Wir können uns nicht duplizieren, uns fehlen die zeitlichen Spielräume. Die bestehenden Ressourcenknappheit können wir eben nicht unendlich durch besonderes Engagement ausgleichen. Viele von uns verzweifeln an dieser Unzufriedenheit, geben den Beruf auf, resignieren. Aber nicht heute. Heute sprechen wir aus, dass etwas getan werden muss. Wer soll es denn sonst aufzeigen, wenn nicht wir, Eltern, Schüler und Schülerinnen und auch wir Lehrer und Lehrerinnen.

Bildung muss uns etwas wert sein. Es reicht nicht, dass Ressourcen hin und her geschoben werden, damit wenigstens von außen betrachtet der laufende Betrieb aufrechterhalten scheint. Das funktioniert nicht.

Was wir brauchen, ist FRESH MONEY!

Bildung muss uns etwas wert sein, denn das geht uns alle an. Das betrifft uns alle – früher oder später: Heute die Pflichtschulen an den städtischen Standorten, morgen Landmittelschulen, die AHS-Standorte vielleicht übermorgen und vielleicht kriegen nächste Woche die Oberstufenschulformen die Folgen der Misere zu spüren. Bildung muss uns als Gesellschaft etwas wert sein.

FRESH MONEY ist gefragt auf diesen Baustellen. Aber auf Basis welcher Strukturen soll investiert werden? Das ist genauso evident wie unbeachtet: Die OECD hat 800 Forscherinnen und Forscher nach einer Maßnahme gefragt, die sie im Schulsystem ändern möchten. Zwei Dinge wurden am häufigsten genannt:

  • Ein freudvoller untraumatischer Schuleinstieg, vorbereitet durch anregende Lernerfahrungen im Kindergarten
  • Und natürlich: Eine gemeinsame, nicht selektive Schule von der ersten Klasse bis zum Ende der Schulpflicht.

Dafür setzen wir uns ein. Es ist die Vision einer gerechten humanen Schule. Eine gemeinsame inklusive Schule mit ausreichend Ressourcen, die den Neigungen und Talenten aller Kinder gerecht wird. Für eine Schule, in der Lehrer Und Lehrerinnen so arbeiten können, dass sie auf die Bedürfnisse ihrer Schüler Und Schülerinnen eingehen können. Denn: Bildung muss etwas wert sein.

Können wir uns das leisten?

Falsche Frage: Was wir uns nicht leisten können, ist, dass wir Lösungen, die nach Forschungsstand auf der Hand liegen ignorieren, weil irgendjemand das nicht hören will. Die Baustellen im Schulsystem sind so weitreichend, dass wir über die gemeinsame inklusive Schule reden müssen. Wir dürfen nicht mehr zulassen, dass man stur auf dem Status quo beharrt. Auf einem Ausleseschulsystem aus dem ständischen 19. Jahrhundert. Jedem Haserl sein Graserl. Man kommt quasi als Gymnasiast oder als Mittelschüler auf die Welt. Gymnasien haben die Aufgabe, aus ihren Kindern studierfähige Maturanten zu machen. Misfits werden in die Mittelschule geschickt. Viele AHS-Kollegen und Kolleginnen sind unglücklich darüber. Wie wünschen sich, Förderung und Hilfe anbieten zu können, anstatt auf ein Meer von Nachhilfestunden zu warten, das wieder nur für einige zur Verfügung steht.

Kinder sind mit 10 Jahren fertig entwickelt? Natürlich nicht. Beim Versuch, objektiv zu sein, werden mittlerweile nicht nur die Noten der vierten, sondern auch der dritten Volkschulklasse mit einbezogen. Volksschullehrerinnen und -lehrer sind unglücklich, weil sie Prognosen machen müssen, die völlig unzuverlässig sind. Kinder mit 9 ½ Jahren für gymnasiale Bildungskarrieren auszuwählen, erfordert einen erheblichen Aufwand und entwicklungspsychologisch fragwürdig. Begabungen und Neigungen konsolidieren sich weitestgehend nach (den Turbulenzen) der Pubertät. Kinder schon vorher auszuschließen, ist eine Verschwendung von Talenten. Das sollten wir uns nicht leisten.

Wir können es uns nicht leisten, die Förderung und Integration von Schwächeren in den Schulen zu vernachlässigen. Wir dürfen ihnen keine Unterstützung vorenthalten, ungeachtet dessen aus welchen Gründen sie Unterstützung brauchen. Egal ob irgendwelche Beeinträchtigungen oder Migrationshintergrund die Ursache sind. Jede Art von Entfremdungserfahrung unserer Gesellschaft gegenüber ist zu vermeiden. Es kann sich fatal auswirken, wenn wir fortfahren, einigen jungen Menschen wesentliche Perspektiven wegzunehmen. Jugendliche, die sich keine Chancen sehen, bringen uns in der Zukunft nicht weiter.

Wir können es uns nicht leisten, unseren Heranwachsenden eine demokratische, hochqualitative schulische Erfahrungen vorzuenthalten. Die Schüler und Schülerinnen von heute sind die Entscheidungsträger:innen von morgen. Gerade in schwierigen Zeiten setzen wir unsere Hoffnung auf Menschen, die eine hochwertige, nicht ausgrenzende demokratische Schule erlebt haben. Wir brauchen Erwachsene, die als Kinder an die Möglichkeiten der Partizipation herangeführt worden sind. Wir werden Menschen brauchen, die imstande und willens sind, sich an einer Gesellschaft der Zukunft zu beteiligen.

Zufall und Glück sind zu wenig! Bleiben wir laut! Erzählen wir es weiter: Bildung muss uns etwas wert sein!

(15.6.2023)