Bei der Aktionskonferenz für das Volksbegehren "Arbeitslosengeld rauf!" am 18.9.2921 in Wien brachten sich eine Vielzahl von engagierten Menschen aus unterschiedlichen Zugängen ein. Hier Statements von ReferentInnen und ModeratorInnen.
Martin Schürz, Psychotherapeut, langjährige Erfahrung mit komplex traumatisierten Kindern und Jugendlichen: „Für die Erhöhung des Arbeitslosengeldes sprechen nicht nur materielle, sondern auch psychische Faktoren. Kinder aus armen bzw. arbeitslosen Haushalten leiden besonders unter der sozialen Beschämung, die ihre Eltern erfahren. Das erschwert ihre Selbstermächtigung und angstfreie Entwicklung. Die realen Existenzängste arbeitsloser Eltern setzen sich in einem enormen Anstieg von Angststörungen ihrer Kinder fort. Eine Erhöhung des Arbeitslosengeldes ist wichtig, um die Eltern materiell und damit ihre Kinder psychisch zu stärken.“
Prof. Emmerich Talos i.R., Universität Wien: „Wir wollen nicht nur keine Kürzung der Leistungen, wir wollen eine reale Verbesserung der Lebensbedingungen. Das Arbeitslosengeld muss daher dauerhaft auf zumindest 70% des Letztbezuges angehoben werden statt mit einem degressiven Arbeitslosengeld die Langzeitarbeitslosen, die von Armut besonders betroffen sind, im Stich zu lassen. Es ist ein neoliberaler Irrtum, dass eine Senkung des Arbeitslosengeldes zu einer höheren Beschäftigung führt. Um die Beschäftigung zu erhöhen und der Arbeitslosigkeit gegenzusteuern, brauchen wir eine aktive Arbeitsmarktpolitik und Arbeitszeitverkürzung.“
Bettina Steffel, Abteilung Soziales, Sozial- und Gesundheitsrecht der Stadt Wien: „Je höher die Arbeitslosigkeit und je niedriger das Arbeitslosengeld, desto mehr Menschen sind auf Sozialhilfe bzw. Mindestsicherung angewiesen. Die Kosten werden auf die Budgets der Länder und Gemeinden verlagert. Außerdem gibt es gravierende Verschlechterungen für die Betroffenen, wenn sie auf die Mindestsicherung/Sozialhilfe angewiesen sind: Es gibt keine Zuverdienstmöglichkeiten, das PartnerInneneinkommen wird angerechnet, Vermögen über 5700 Euro muss verwertet werden. Außerdem erfolgt keine Anrechnung für die Pension, sodass auch das Risiko der Altersarmut zunimmt. Untersuchungen zeigen, dass alleine in Wien 27 bis 34% der Anspruchberechtigten nicht um Mindestsicherung ansuchen. In ländlichen Gebieten ist diese Non-Take-up-Rate sicherlich noch höher.“
Carina Altreiter, wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Abteilung für Soziologie und Empirische Sozialforschung an der Wirtschaftsuniversität Wien: „Die Angriffe von Regierungsvertretern auf die Arbeitslosen sind Ausdruck einer Politik des Klassenkampfes von oben. Hinter einer Slim fit-Fassade wird mit rabiater Rhetorik und aggressiven Einstellungen gegen schwache Gruppen in der Gesellschaft vorgegangen. Für diese ‚rohe Bürgerlichkeit‘ zählt nur mehr die Verwertbarkeit am Markt, die Solidargemeinschaft wird in Frage gestellt. Das trifft auch die ‚Fleißigen‘. Solange sie funktionieren, gelten sie als ‚Leistungsträger‘. Sobald sie nicht mehr funktionieren, kommen auch sie unter die Räder.“
Stephan Pühringer, Forschungsinstitut für die Gesamtanalyse der Wirtschaft, Universität Linz: „Hinter dem Ruf von Regierungs- und Kapitalvertretern nach einer Verschlechterung der Arbeitslosenversicherung – degressives Arbeitslosengeld, Verschärfung der Zumutbarkeitsbestimmungen, Abschaffung des Zuverdienstmöglichkeiten usw - steht das implizite Unternehmerinteresse nach einer Ausweitung des Niedriglohnsektors. Eine Erhöhung des Arbeitslosengeldes stärkt daher nicht nur die von Arbeitslosigkeit unmittelbar Betroffenen, sondern hilft allen ArbeitnehmerInnen, bessere Löhne und Arbeitsbedingungen durchzusetzen.“
Roland Atzmüller, Sozialwissenschaftler Universität Linz: „Soziale Beschämung von Arbeitslosen ist eine Herrschaftstechnik. Sie dient dazu, die Menschen einzuschüchtern, ihnen zu drohen und von der wachsenden Kluft in der Gesellschaft zwischen arm und reich abzulenken. Ein degressives Arbeitslosengeld, das mit der Dauer der Arbeitslosigkeit immer stärker sinkt, bewirkt eine weitere Spaltung und Entsolidarisierung. Es soll Anreize setzen, dass Menschen rascher wieder eine Arbeitsstelle annehmen. Das ist aber eine Illusion. Erstens beruht ein degressives Arbeitslosengeld auf der neoliberalen Behauptung, die Menschen könnten selbst darüber entscheiden, ob bzw. wie lange sie arbeitslos sind – seien also für die Dauer ihrer Arbeitslosigkeit weitgehend selbstverantwortlich. Zweitens verstärkt es die Ungleichheit und Ungerechtigkeit am Arbeitsmarkt. Verschiedene Gruppen – Niedrigqualifizierte, Frauen, Migrant*innen, Ältere – finden aber weniger rasch wieder in Beschäftigung als bspw. Hochqualifizierte. Das hat mit den ungleichen Strukturen des Arbeitsmarktes zu tun, für die die Betroffenen nix können. Ein degressives Arbeitslosengeld „bestraft“ daher benachteiligte Gruppen am Arbeitsmarkt und vertieft diese Strukturen.“
Martin Mair, Obmann des Vereins „Aktive Arbeitslose“: „Die Zumutbarkeitsbestimmungen für Arbeitslose werden immer rigider. Das drückt sich auch in der seit den 90er Jahren immer stärker zunehmenden Zahl der Sperren von Arbeitslosengeld aus. Schon der bei einem Bewerbungsgespräch geäußerte Wunsch nach einem höheren Lohn, nach gewerkschaftlicher Überprüfung des Dienstvertrags oder nach einer Daueranstellung kann als ‚Arbeitsunwilligkeit‘ und „Jobvereitelung“ ausgelegt werden und eine Sperre des Arbeitslosengeldes von 6 bis 8 Wochen nach sich ziehen. 2019 waren bereits über 145.000 Arbeitslose von Bezugssperren betroffen.“
Gunther Walden, Forum neue Arbeit: „Zählt man die BezieherInnen von Arbeitslosengeld, Notstandshilfe, Sozialhilfe und die vielfältigen Formen der woorking poor – freie DienstnehmerInnen, viele EPUs, Generation Praktikum, WanderarbeiterInnen uvm. – zusammen, so kommt man auf rund ein Drittel der Bevölkerung. Hier gilt es breite soziale Allianzen zu schließen, um eine bessere soziale Absicherung, höhere Löhne und neue Arbeitsfelder für eine ökosoziale Transformation unserer Gesellschaft durchzusetzen. Das können, ja müssen wir uns leisten. Was wir uns dagegen nicht mehr leisten können, ist Überreichtum a la Jeff Bezos und die Fortsetzung des fossilen Wirtschaftens.“
Irina Vana, Sozialwissenschaftlerin Universität Wien: „Am Anfang der Coronakrise hat die Regierung versprochen, ‚niemanden zurückzulassen‘. Doch die Gruppe der Arbeitslosen wurde zurückgelassen. Eine dauerhafte Erhöhung des Arbeitslosengeldes auf 70% würde nach Berechnungen des Momentum-Instituts 1 bis 1,2 Milliarden Euro kosten. Das verweigert die Regierung, während für die Unternehmen ein Vielfaches an Milliardenbeträgen in der Krise ausgeschüttet wurde. Eine dauerhafte Erhöhung des Arbeitslosengeldes ist im Interesse aller ArbeitnehmerInnen, weil es dem Lohndumping entgegenwirkt.“
Boris Lechthaler, Solidarwerkstatt Österreich: „Die Forderung nach Erhöhung des Arbeitslosengeldes bedeutet nicht, dass wir viele Menschen in Arbeitslosigkeit haben wollen. Aber die Unfähigkeit der Regierung, eine Vollbeschäftigungspolitik zu betreiben, darf nicht zur Bestrafung der Arbeitslosen durch ein niedriges Arbeitslosengeld führen. Wir verbinden die Forderung nach dauerhafter Erhöhung des Arbeitslosengeldes mit der Perspektive der Vollbeschäftigung. Ein wesentlicher Schlüssel dafür ist die Ausweitung der öffentlichen Kassen, um Arbeitsplätze in Bereichen zu schaffen, die für eine ökosoziale Wende unverzichtbar sind: Pflege, Gesundheit, Bildung, öffentlicher Verkehr, Energiewende uvm.“
Horst Huemer, Betriebsratsvorsitzender bei Bosch-Rexroth, einem Industriebetrieb in Linz: „Das Arbeitslosengeld ist eine Versicherungsleistung. Ziel einer Versicherungsleistung kann aber nicht die Verarmung der Versicherten sein, wie das derzeit bei einer Nettoersatzrate von 55% oft der Fall ist. Eine dauerhafte Erhöhung des Arbeitslosengeldes hilft aber nicht nur den Betroffenen gegen Armut und Existenznot. Es stärkt auch die wirtschaftliche Nachfrage und sichert damit Beschäftigung. Eine Erhöhung der Nettoersatzrate auf 70% würde laut Berechnungen der Arbeiterkammer 10.000 zusätzliche Arbeitsplätze schaffen.“
Leo Xavier Gabriel, erwerbsloser Politologe, Personenkomitee Selbstbestimmtes Österreich: „Arbeitslosigkeit ist keine ökonomische, sondern eine politische Frage. Der Staat hat die Möglichkeit, über entsprechende Geldschöpfung eine Jobgarantie durchzusetzen, um Erwerbslose in Vollzeitbeschäftigung zu bringen. Dafür braucht es freilich Rahmenbedingungen: Gute Mindestlöhne, ökologisch sinnvolle Arbeitsplätze, allgemeine Arbeitszeitverkürzung. Eine solche Jobgarantie hat wichtige Folgewirkungen: Sie federt ökonomische Schocks ab und hat positive psychologische Effekte, indem sie die Selbstermächtigung der Menschen stärkt und soziale Isolation zurückdrängt.“
Norbert Bauer, Betriebsratsvorsitzender einer großen Hotelkette in Wien: „Ich habe als Betriebsrat im Gast- und Tourismusbereich unmittelbar erlebt, welche existenziellen Nöte Arbeitslosigkeit in einer Niedriglohnbranche unter den Kolleginnen und Kollegen auslöst. Wenn wir eine Erhöhung des Arbeitslosengeldes und eine Ausweitung der öffentlichen Ausgaben für eine ambitionierte Vollbeschäftigungspolitik fordern, müssen wir aber auch darüber reden, dass wir aus dem Korsett des EU-Fiskalpaktes und des Europäischen Semesters ausbrechen müssen, weil das Instrumente zur Durchsetzung von Sozialabbau und Aushungerung der öffentlichen Budgets sind.“
Volksbegehren ARBEITSLOSENGELD RAUF! unterstützen! Nähere Informationen: www.arbeitslosengeld-rauf.at