Ausschnitt einer Tafel und KreideMonatelang wurde österreichweit an den Standorten der Allgemeinbildenden Höheren Schulen (AHS) von den unterrichtenden Lehrerinnen und Lehrern der erste Durchgang der Neuen Reifeprüfung ausgewertet. An einem Standort in Wien, dem GRG 21, Schulschiff Bertha von Suttner, mündeten diese Aktivitäten in einen offenen Brief an die damalige Unterrichtsministerin Gabriele Heinisch-Hosek und an den amtsführenden Präsidenten des Stadtschulrats für Wien Jürgen Czernohorszky, in dem die wichtigsten Erfahrungen mit der Neuen Reifeprüfung dargelegt und daraus konkrete Forderungen abgeleitet wurden. Der Wortlaut des Briefes, den wir hier dokumentieren, fand die Unterstützung von 97 Prozent der Kolleginnen und Kollegen des Standorts.

Lehrerinnen und Lehrer des GRG 21,
Schulschiff „Bertha von Suttner“
Donauinselplatz 1
1210 Wien

Betrifft:   Erfahrungen und Schlüsse eines Schulstandorts aus dem ersten Durchgang der Neuen Reifeprüfung

(Offener Brief an die Bundesministerin Gabriele Heinisch-Hosek und den amtsführenden Präsidenten des Stadtschulrats für Wien Jürgen Czernohorszky)

Wien, am 4. Mai 2016


Sehr geehrte Frau Bundesministerin Heinisch-Hosek!
Sehr geehrter Herr Präsident des Stadtschulrats Czernohorszky!

Als Schulstandort GRG 21, Schulschiff „Bertha von Suttner“, artikulierten wir schon frühzeitig Skepsis gegenüber den Anforderungen und Rahmenbedingungen für die Neue Reifeprüfung (NRP). Nichtsdestotrotz waren die Ergebnisse des ersten Durchgangs der NRP an unserer Schule respektabel. Das will erklärt sein!

Ein Jahr lang haben wir unsere Erfahrungen mit der NRP und ihren drei Säulen mittels Fragebögen für SchülerInnen und LehrerInnen, in Fachgruppenkonferenzen, auf pädagogischen Nachmittagen und in vielen Diskussionen informeller LehrerInnengruppen gesammelt und ausgewertet. Aus all diesen Erhebungen und Diskussionen lassen sich folgende zentrale Ergebnisse zusammenfassen:

1.       Das positive Gesamtergebnis beim ersten Durchgang der NRP auf dem Schulschiff lässt sich ohne die weit über das vom Gesetzgeber definierte Ausmaß hinausgehende und daher unbezahlte Betreuung der KandidatInnen durch die beteiligten KollegInnen nicht erklären. Das soll die konkreten Leistungen der Schülerinnen und Schüler in keinster Weise schmälern. Im Gegenteil: Auch sie waren einem enormen Druck und Stress ausgesetzt. Sogar wenn man in Rechnung stellt, dass ein gewisser Teil des Betreuungsaufwands dem Umstand des ersten Mals geschuldet ist, so bleibt für uns doch festzuhalten, dass ein derart hoher Betreuungsaufwand in Zukunft nicht durchzuhalten sein wird. Wir sehen daher die Gefahr, dass SchülerInnen, welche die Oberstufe bis zur 8. Klasse absolvieren, dann noch scheitern könnten.

2.       Besonders eklatant ist das Missverhältnis zwischen dem realen und dem vom Gesetzgeber definierten und bezahlten Betreuungsaufwand bei der Vorwissenschaftlichen Arbeit (VWA). Eine Erhebung des durchschnittlichen Zeitaufwands (incl. Korrekturen) für die Betreuung eines Kandidaten / einer Kandidatin ergab an unserem Standort 28 Stunden. Der Dienstgeber zahlt 234,60 Euro für die Betreuung und 32,60 Euro für Korrektur, Präsentation und Diskussion der Arbeit. Das macht einen durchschnittlichen Stundensatz von unter 10 Euro brutto. Entsprechend nebulos definiert der Gesetzgeber den Betreuungsaufwand: Erstgespräch – kontinuierliche Beratung – Abschlussgespräch.

Manche von uns sehen auch die VWA als verpflichtenden Teil der NRP kritisch. So sehr sie für viele SchülerInnen eine gute Möglichkeit darstellt, Kompetenzen des wissenschaftlichen Arbeitens zu erwerben und zu festigen, so ist es doch für nicht wenige eine enorme Belastung und Herausforderung.

3.       Die Kürzung der Vorbereitungsstunden für die mündliche Reifeprüfung sowie deren überwiegende Trennung von den prüfenden LehrerInnen halten wir für die eklatanteste Einsparung auf Kosten der SchülerInnen und LehrerInnen. An unserem Standort ist dies neben der VWA-Betreuung der zweite Bereich, in dem viel unbezahlte Mehrarbeit im Rahmen der NRP angefallen ist. Zahlreichen Einwänden und Protesten unsererseits und vieler anderer Schulstandorte sowie von SchülerInnen- und LehrerInnenvertretungen wurde vom Unterrichtsministerium entgegnet, den SchülerInnen lägen ohnehin bereits im November die Themenbereiche für die mündliche Reifeprüfung vor. Dass das aber auch für die bisherige mündliche Reifeprüfung galt, ohne dass die professionellen Vorbereitungsstunden mit der prüfenden Lehrperson in Frage gestellt wurden, zeigt, mit welchem Zynismus Einsparungen auf Kosten der SchülerInnen von der Behörde gerechtfertigt werden.

4.       Großes Unbehagen herrschte bei den beteiligten KollegInnen über das Format der sogenannten Kompensationsprüfungen. Es steht in deutlichem Gegensatz zu der an unserer Schule praktizierten Prüfungskultur. Mit seinen rigiden Vorgaben für den Ablauf des Prüfungsvorgangs drückt es großes Misstrauen gegen die prüfenden Lehrpersonen aus. Darüber hinaus ist die durch die strikten Prüfungsvorgaben vorgespiegelte Vergleichbarkeit der Leistungen durch die unterschiedliche Vorsitzführung konterkariert, wie die Ergebnisse der Mathematikmatura vor bzw. nach den Kompensationsprüfungen an einzelnen Schulstandorten und in den verschiedenen Bundesländern im Vergleich nahelegen.

5.       Auch für die AdministratorInnen, DirektorInnen und InspektorInnen bedeutet die NRP eine enorme Mehrbelastung. So ist zum Beispiel zu fragen, wie SchuldirektorInnen, die jährlich bis zu 20 Schultage von 7 Uhr morgens bis 19 Uhr abends durchgehend bei den verschiedenen mündlichen Prüfungsformaten der NRP zu absolvieren haben, in diesen Zeiten, die zumeist über mehrere Tage geblockt auftreten, ihrem Kerngeschäft, der Leitung einer Schule, nachkommen sollen.

Erschwert wurde ihre Arbeit aber auch durch die völlig unprofessionelle Einführung der NRP durch Gesetzgeber und Ministerium, was sich beispielsweise in viel zu späten und zum Teil kurzfristig wieder geänderten Durchführungsbestimmungen ausdrückte.

6.       Darüber hinaus gibt es eine ganze Reihe von fachspezifischen Kritikpunkten an der NRP, von denen hier nur einige kursorisch angeführt werden sollen: der Wegfall der individuellen Vertiefungsmöglichkeit im Rahmen der mündlichen Reifeprüfung, das Trainieren der SchülerInnen auf vorgegebene Textsorten in Vorbereitung auf die schriftliche Reifeprüfung in Deutsch, die inhaltliche Verflachung der mündlichen Reifeprüfung in den Fremdsprachen oder der überproportionale Anteil der Theorie in Relation zur Praxis in Bildnerischer Erziehung. Darüber hinaus bewirkt der Vorbereitungsaufwand für die neue Form der Reifeprüfung, dass Formen der neuen Lernkultur wie Projektunterricht bzw. schülerInnenzentrierter Unterricht zurückgedrängt werden und auch die Bezugnahme auf aktuelle Entwicklungen im Unterricht in so gut wie allen Fächern gekürzt wird.

Aus all dem leitet das Kollegium des GRG 21, Schulschiff „Bertha von Suttner“, folgende Forderungen an die bildungspolitisch Verantwortlichen ab:

=> Einberechnung der Betreuung von Vorwissenschaftlichen Arbeiten in die Lehrverpflichtung, konkret eine halbe Werteinheit in der 8. Klasse pro Kandidat / Kandidatin

=> Gewährung der professionellen fachspezifischen Vorbereitungsstunden für die mündliche Reifeprüfung mit der prüfenden Lehrperson im Ausmaß der vierfachen Wochenstundenanzahl des jeweiligen Gegenstandes

=> Reduzierung der Themenbereiche für die mündliche Reifeprüfung auf zwölf in allen Fächern

=> Reparatur der gesetzlichen Regelungen und Durchführungsbestimmungen im Bereich der Kompensationsprüfungen: Kompensationsprüfungen wie mündliche Reifeprüfung mit zentraler Fragestellung

=> keine Reduktion der Werteinheiten für den Unterricht in Maturaklassen: Damit wäre das Recht der Schülerinnen auf professionelle Vorbereitungsstunden gewährleistet. (LehrerInnen ohne KandidatInnen würden als erste Supplierreserve herangezogen.)

=> Entlastung der DirektorInnen bei den diversen Prüfungsformaten der NRP

=> finanzielle Honorierung des zusätzlichen administrativen Aufwands für AdministratorInnen

Darüber hinaus wünschen wir uns eine wissenschaftliche Evaluation und breite Debatte über weitere, zum Teil oben bereits erwähnte Aspekte der NRP. Wir erwarten von der Schulbehörde, dass sie die Erfahrungen der Kolleginnen und Kollegen aus dem ersten Durchgang der NRP, wie sie ja im Rahmen der Schulqualität Allgemeinbildung (SQA) an jedem Schulstandort erhoben wurden, auswertet und veröffentlicht sowie ernsthafte Schlüsse daraus zieht.

Von unserer Gewerkschaftsvertretung erwarten wir, dass sie umgehend mit dem Dienstgeber in Verhandlungen tritt, um oben genannte Forderungen durchzusetzen.

das LehrerInnenkollegium des Schulschiffs

(ergeht mit der Bitte um Kenntnisnahme an Gewerkschaft und ZA der PV, sowie an LehrerInnenzeitungen und Medien)