Der Rechnungshof-Bericht im Juli 2022 zur türkis-blauen „Reform“ der Sozialversicherung belegt: Die angekündigte "Patientenmilliarde“ war ein Schmäh, um die Selbstverwaltung der ArbeitnehmerInnen in ihrer eigenen Sozialkasse zu zerstören.

Die damalige türkis-blaue Regierung verkaufte die sog. „Reform“ der Sozialversicherung im Jahr 2018 mit dem Versprechen, die Versicherten würden dadurch eine zusätzliche „Patientenmilliarde“ lukrieren. Jeder mit der Materie Vertraute wusste damals schon, dass das Unfug war. Der Rechnungshofbericht im Juli 2022 bestätigte das nun auf der ganzen Linie. Der zentrale Satz in diesem Bericht: „Anstelle der Einsparung von 1 Mrd. EUR ergab sich ein Mehraufwand von 214,95 Mio. EUR.“ Der Rechnungshofsbericht kommt weiter zu Ergebnis, dass die finanzielle Basis der Gesundheitskasse (ÖGK) durch das Sozialversicherungs-Organisationsgesetz von Türkis-Blau geschwächt wurde, weil Unternehmen durch die Reform weniger Lohnnebenkosten einzahlten – und weil der Privatkrankenanstalten-Finanzierungsfonds (Prikraf) mit ÖGK-Geldern um 14,7 Millionen Euro jährlich erhöht wurde. Bis 2021 verursachten diese Maßnahmen „Mehrausgaben und Mindereinnahmen der ÖGK von insgesamt 144 Mio. EUR“.

Auch externe „Berater“ kassierten kräftig ab. So etwa vergab das damals von der FPÖ geführte Sozialministerium einen zweistelligen Millionenbetrag freihändig an eine Beraterfirma mit absurd hohen Honoraren für einfachste Tätigkeiten. Zahlen durften die Versicherten. Über die Hintergründe des Deals werden wir so schnell nichts erfahren, weil das Kabinett von FP-Ministerin Hartinger-Klein die Dokumente nach ihrem Rücktritt ans Staatsarchiv übergeben hat, wo sie für 25 Jahre versiegelt sind. Selbst der Rechnungshof bekommt keinen Einblick.

Eigentliches Ziel: Zerschlagung der Arbeitnehmer-Selbstverwaltung

Tatsächlich ging es mit der türkis-blauen „Reform“ der Sozialversicherung darum, die Arbeitnehmer-VertreterInnen in ihrer eigenen Sozialkassen zu entmachten. (sh. Grafik). Türkis-blau schaffte etwas, wovor sogar die Monarchie und die Austrofaschisten zurückgeschreckt hatten: den ArbeitnehmerInnen die Mehrheit in ihren eigenen Kassen zu rauben, im neuen Dachverband wurden sogar in die Minderheit gedrängt.

SV Grafik 2 Enteignung

Zudem erhielt mit der Zentralisierung die Regierung ein Durchgriffsrecht auf die Entscheidungen der neuen Gesundheitskasse. Als Aufsichtsbehörde kann das Sozialministerium Themen von der Tagesordnung der Sozialversicherungsgremien nehmen, mit denen es nicht einverstanden ist, oder umgekehrt welche draufsetzen, die es für richtig hält. Gegen Beschlüsse der Sozialversicherung, die gegen den Grundsatz der "Zweckmäßigkeit und Sparsamkeit" verstoßen, kann Einspruch erhoben werden.

Arbeitgeber nutzen neue Machtbefugnisse

Die neuen Machtbefugnisse der Arbeitgeberseite wurde im heurigen Sommer demonstriert: Die Arbeitgeber in der Hauptversammlung der ÖGK schmetterten den Antrag der Arbeitnehmer auf Erhöhung der Zuschüsse für Zahnersatz, Psychotherapie und Heilmittelbehelfe wie Prothesen und Rollstühle um 3 Prozent ab. Das wäre eine wichtige Maßnahme gewesen, um angesichts der derzeitigen hohen Inflation Menschen, die auf solche Gesundheitsleistungen angewiesen sind, wirksam zu unterstützen.

„Größte Enteignung in der Geschichte Österreichs“

Das Aufdecken des Lügenmärchens von der „Patientenmilliarde“ muss Anlass sein, den Kampf für die Rückgewinnung der Selbstverwaltung der ArbeitnehmerInnen in ihren eigenen Sozialkassen erneut auf die Tagesordnung zu bringen. Immerhin geht es bei der Sozialversicherung um die Verwaltung von rund 70 Milliarden Euro, das entspricht fast einem Fünftel des österreichischen Bruttoinlandsprodukts.

Der seinerzeitige AK OÖ-Präsident Johann Kalliauer und OÖ GKK-Obmann Albert Maringer bezeichneten daher 2018 diese Demontage der Selbstverwaltung in der Sozialversicherung als die größte Enteignung in der Geschichte Österreichs.“ Doch dieser richtigen Analyse folgte damals nur ein lauwarmer Widerstand seitens AK und ÖGB. Die Forderung von Sozialversicherungs-AktivistInnen, die Betroffenen selbst – das sind alle ArbeitnehmerInnen – in einer Urabstimmung darüber entscheiden zu lassen, ob sie diese Enteignung hinnehmen wollen, wurde damals nicht aufgegriffen. Angesichts der aktuellen Enthüllungen des Rechnungshofes ist es höchste Zeit, den Kampf um dieses Herzstück des österreichischen Sozialstaates wieder aufzunehmen.

Gerald Oberansmayr
(August 2022)

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