So wichtig und richtig es selbstverständlich ist, die verschiedensten Nöte des österreichischen Pflegesystems zu thematisieren und diesbezügliche politische Lösungen nachdrücklich einzufordern, so nötig erscheint, die thematische Schwerpunktsetzung in der öffentlichen Diskussion etwas zu verschieben.

 

Denn diese Diskussion setzt ja oft erst bei der Pflegebedürftigkeit der betroffenen Menschen an und umschifft somit die meines Erachtens genauso notwendige Debatten um ein wirklich nachhaltiges präventivmedizinisch orientiertes Gesundheitssystem. (1), lautet da zum Beispiel die Schlagzeile im Standard.Artikel. Damit wird freilich suggeriert, dass wir– auch in Österreich – in den nächsten Jahrzehnten mit einer gewaltigen Welle an pflegebedürftigen Menschen zu rechnen haben. 

Pflege muss Teil des Gesundheitssystem werden

Doch wenn wir mittel,- und langfristig wegkommen wollen von der ständigen notdürftigen politischen Symptombekämpfung, dann sollten wir uns der Ursachenforschung und einer breiten öffentlichen Diskussion darüber zuwenden. Denn in Österreich ist das Pflegesystem Teil des Sozialsystems und eben – leider – nicht des Gesundheitssystems ist. Ja, natürlich würde es mit einer Progression der Pflegebedürftigkeit zu einer verstärkten Inanspruchnahme des Gesundheitssystems kommen. Doch – so Ass.Prof. Dr. Prof. Pichlbauer: “Es gibt Möglichkeiten, das Fortschreiten der Pflegebedürftigkeit zu verlangsamen. Die Gesundheitsversorgung sollte altersfreundlicher gestaltet sein, indem Gesunderhaltung und Krankheitsvermeidung verstärkt werden („gesundes Altern“). Voraussetzung dafür ist eine „moderne“ Definition der Pflege, die aktivierend statt kompensatorisch ist und eine feste Säule des Gesundheitssystems bildet.“ (2) 

Tertiär-Prävention unbekannt

Doch auch das „Pflegestärkungsgesetz“ von 2024 dürfte eher in das Kapitel „Symptombekämpfung“ fallen. Der grundsätzliche Systemmangel wird weder offen diskutiert, auch nicht, oder jedenfalls zu wenig von den Gewerkschaften und den Pflegeorganisationen hierzulande, und deshalb auch nicht politisch korrigiert. 

Dazu müsste man sich in Österreich mit „Tertiär-Prävention“ befassen: Pichlbauer dazu: „Prävention ist in Österreich jedoch allgemein unterentwickelt, da dafür praktisch niemand zuständig ist. Im Falle der Tertiär Prävention ist die Situation unlösbar, da diese offiziell gar nicht bekannt ist. Tertiär Prävention wird mit der Rehabilitation gleichgesetzt, da sich die Maßnahmen oft ähneln - doch das ist eben falsch... die eine ist ressourcenorientiert und versucht, die vorhandene Gesundheit so zu stärken, dass eine Krankheit nicht eintritt, die andere ist krankheitsorientiert und versucht die Auswirkungen von definierten Risikofaktoren einer definierten Krankheit zu reduzieren. In der Reha muss man in Österreich eine spezifische Krankheit durchgemacht haben, deren behindernde Folgen reduziert werden sollen. Geriatrische Rehabilitation wird in Österreich öffentlich nicht angeboten.“ (2) 

„Gesundes Altern“ bleibt hierzulande also weiterhin weitgehend eine Privatangelegenheit. Die „Longevity“- Zentren, die sich in den letzten Jahren in den besten Wiener Innenstadtlagen direkt neben den Luxuseinkaufsgeschäften etabliert haben, akzeptieren genauso wie die vielen High-Tech Labore und Diagnostikzentren gerne ihre EC- und Kreditkarten für diverse – von der Krankenkasse  nicht finanzierten-  „Präventivvorsorgeleistungen“, - von den Spezialangeboten diverser Privatkrankenanstalten für zahlungskräftige Pensionistinnen und Pensionisten ganz zu schweigen. Wer es sich also leisten kann und will darf hierzulande- vielleicht- etwas länger und etwas gesünder leben... 

Beispiel Dänemark

Dass es auch anders geht, hat zum Beispiel Dänemark bewiesen. Pichlbauer dazu: „Weil es nicht einfach ist, Pflege vom Gesundheitswesen abzugrenzen, wurde in Dänemark das gesamte Pflegewesen(!), also sowohl die gesundheitsrelevanten als auch die instrumentellen Aktivitäten, ins Gesundheitssystem integriert und professionalisiert (und werden auch zur Gänze der OECD gemeldet). In Dänemark bezieht man von der Einkaufshilfe bis zur Herztransplantation alles als Sachleistung. Der sinnvolle Einsatz von Profis führt zudem zu besseren Ergebnissen. An dieser Stelle ist zu betonen, dass die dänische Vorgehensweise zu einem sehr teuren Pflegesystem führt (in etwa doppelt so teuer wie in Österreich) allerdings fallen die Gesamtausgaben (nach dem „System of Health Accounts“ der OECD) nicht(!) höher aus. Langzeitversorgung und Akutversorgung können also kommunizierende Gefäße sein- vorausgesetzt, die Ressourcenallokation funktioniert im Sinne eines integrierten Gesundheitssystems. Oder anders ausgedrückt. Dänemark investiert in die Ressourcen in der Langzeitversorgung unter tertiärpräventiven Aspekten und reduziert damit die Folgekosten im Bereich der Akutversorgung, sodass über die Gesamtausgaben betrachtet, bei Kostenneutralität(!!), mehr gesunde Lebensjahre erzielt werden.“ (2)

Begriff „Tertiär Prävention“ kennt man hier also nicht, doch selbst bei der Gesundheitsförderung, bei der Primär- und Sekundärprävention hapert es bei uns an vielen Ecken und Enden, was - möglichweise schon auch mit der Verschränkung beziehungsweise dem Hineinwirken dieser Bereiche in ganz andere Industrie,- und Wirtschaftsbereiche zu tun haben wird. Zu nennen wären in diesem Zusammenhang jedenfalls die Nahrungsmittelindustrie, die Landwirtschaft, die Chemische Industrie und natürlich schon auch die Pharma-Industrie.

„Stille Pandemie“ Diabetes

„Experte für Zuckersteuer auch in Österreich“ titelte etwa der ORF am 30.7. (3) dieses Jahres eine Reportage über die positiven Auswirkungen, welche diese Maßnahme bereits in Großbritannien gezeigt hat (4). „Auch in vielen anderen Ländern gibt oder gab es ähnliche Abgaben. In Österreich gibt es sie nicht.“, heißt es da. Doch der gelernte österreichische Journalist folgert richtig: “In Österreich dürfte sich da nicht viel rühren.“ Der Gesundheitsminister wäre zwar interessiert, „zuständig sei aber das Finanzministerium“. Der österreichische Kompetenzwirrwar at it's worst...

Dabei wäre es doch so besonders wichtig, z.B. dieser „stillen Pandemie“ Diabetes mit aller Vehemenz entgegenzutreten. Bereits ein kurzer Blick auf den globalen „Diabetes-Atlas“(6) läßt einen erschaudern. Dabei hat erstaunlicherweise Europa die USA diesbezüglich längst überholt, die Situation in manchen asiatischen Ländern kann man nicht anders als verheehrend bezeichnen. Über 570 Millionen Menschen weltweit litten 2021 an Diabetes. Vorsichtige Schätzungen gehen von knapp 800 Millionen im Jahr 2045 aus. Tatsächlich könnten es schon viel früher weit über eine Milliarde Menschen sein, da Schätzungen zufolge bereits jetzt mehrere (!) Milliarden Menschen weltweit insulinresistent sein dürften.

Essen lernen

In Österreich begnügt man sich freilich mit netten Aktionen wie aktuell „50 Tage Bewegung“, als ob man aber den Nahrungsmüll aus vielen Regalen der Supermärkte einfach wegbewegen könnte. „Esst was ihr wollt, bewegt euch halt danach eben genug, es liegt nur an euch, wenn ihr übergewichtig und krank, gar zuckerkrank werdet.“, mit dieser Suggestion gelang es den Giganten der Nahrungsmittelindustrie bereits vor Jahren die mutigen Ansätze von Michelle Obama - nämlich „Big Food“ politisch die Stirn zu bieten - völlig zu verwässern und nahezu in ihr Gegenteil zu kehren. Diesbezügliche politische Diskussionen werden hierzulande zwar gelegentlich geführt, zu mutigen politischen Entscheidungen kommt es dennoch nicht. 

Glyphosat bleibt weiterhin erlaubt, die Belastungen durch Mikroplastik und toxische Metalle auch unserer Anbauböden bleibt unterbelichtet, zusätzlich sind „Obst und Gemüse zunehmend mit Ewigkeitschemikalien belastet“(sogenannte PFAS) und „Obst und Gemüse abzuwaschen entfernt offenbar nicht alle Herbizide“, so der Standard am 15.08.24. Egal, man kann und soll sie ja auch gründlich schälen. Schmecks...

„Essen lernen“ als verpflichtendes Schulfach einzuführen bleibt eine Forderung von Experten. Vom österreichischen Gesundheitssystem wird man dabei nicht wirklich hilfreich unterstützt,- schade eigentlich, könnte doch speziell die Ernährung und natürlich auch der „Lebensstil“ bestimmt einen nicht ganz unwesentlichen Beitrag dazu leisten, etwa den jährlichen Aufwand der ÖGK für sogenannte „Blutdrucksenker“, „Cholesterinsenker“ oder gar der Diabetesbehandlungen doch bis zu einem gewissen Grad zu reduzieren. Milliardenbeträge werden jährlich allein für diese drei „Medikamentengruppen“ aufgewendet. 

In den USA hat zum Beispiel eine „Grass-Root“ Bewegung über 200.000 USD für eine erste Studie in Richtung einer Relativierung des nach wie vor gängigen Narrativs vom ausnahmslos „bösen LDL“ finanziert, da weder die US-Gesundheitsbehörde, noch – „natürlich“ – die Pharma Industrie an dieser von jener Gruppe angezeigten Phänomenologie interessiert war.

Ein vom deutschen Gesundheitsminister eingebrachtes und erst kürzlich beschlossenes „Gesundes Herz Gesetz“ sieht vor, dass sich bereits Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene regelmäßigen Herzuntersuchungen unterziehen sollen, trotz der - scheinbar - „gut gemeinten Absicht“ teils scharf kritisiert. „Statt sich dafür einzusetzen, dass sich Kinder gesund und ausgewogen ernähren und es Aufklärungskampagnen zu einer gesunden Lebensweise gibt, sollen Arzneimittel verordnet werden“ (5). Doch: “Cholesterinsenker sind keine Pfefferminzbonbons aus dem Supermarkt, sondern Medikamente mit vielen Wechsel- und Nebenwirkungen. Sie verursachen beispielsweise Muskelschmerzen, Leberschäden oder Diabetes“ (6). Seien wir also (vor)gewarnt, wenn diese Debatten um ein ähnliches Gesetz auch bei uns dereinst geführt werden sollten. 

Die für so eine „Umorientierung“ freilich erst nötigen („Anschub“) Investitionen, etwa in breit angelegte, leicht zugänglichen Informationskampagnen, bessere Vergütung entsprechender Kassenarztleistungen, Ausbau von Ambulanzzentren mit angeschlossenen Informationszentren, und so weiter, inklusive natürlich aller Mittel die notwendig sein werden, um all die aktuellen „Pflegenotstände“ nachhaltig zu beseitigen, die wollen freilich erst einmal (vor)finanziert werden. 

Doch stattdessen wird „gespart“, nicht nur bei der AUVA durch die Senkung des Unfallversicherungsbeitrages bei den Lohnkosten für die Arbeitgeber, sondern generell sollen offenbar die Gesundheitsausgaben weiterhin „gedeckelt“ bleiben. Jüngst hat die Regierung auch angekündigt, die ÖBAG Anteile der VAMED an den deutschen Mehrheitseigentümer zu verkaufen, die Thermen – und Reha-Kliniken derselben sollen dann an einen französischen Investor veräußert  werden. 

Sachleistungsprinzip und Wertschöpfungsfinanzierung

Doch wie könnte eine solche tatsächliche Reform im Sinne einer Integration der Pflege in dieses- und die damit natürlich verbundene Umstellung in ein Sachleistungsprinzip dafür - nun finanziert werden? Obwohl Vermögenssteuern durchaus sinnvoll sind und für Einmalinvestitionen etwa in Infrastrukturprojekte etc. herangezogen werden sollten, könnten und sollen sie vor allem nicht für die dauerhafte und nachhaltige Finanzierung der jährlichen Ausgaben für einen Solidarstaat herangezogen werden. Stattdessen sollten endlich breite, öffentliche, plakative Diskussionen für umfassende Wertschöpfungsabgaben geführt und dementsprechende politische Forderungen mit Nachdruck gestellt werden. 

An erster Stelle sollte freilich die generelle politische Forderung nach einer Integration des Pflegeswesens in das Gesundheitssystem stehen, für die Unterstützung auch von ProponentInnen der konservativen Lager gewonnen werden könnte. „Warum Dänemarks Pflegesystem so viel besser und günstiger als unseres ist“ übertitelte etwa die „Presse“ erst 2023 einen Kommentar von Ingrid Korosec, der ÖVP Vertreterin im Führungsduo des Österreichischen Seniorenbundes (7).

Lange vor Dänemark hat aber z.B. Japan begonnen, sich um seine älter werdene Bevölkerung proaktiv zu kümmern und zwar bereits 1963(!) mit dem so genannten „Act of social welfare for the elderly“ (8). Im selben Jahr führte die japanische Regierung übrigens ein spezielles Programm für die staatliche Ehrung von über 100 jährigen ein. Das waren 1963 immerhin 153 Personen. Durch ständige Anpassungen, Evaluierungen des japanischen Gesundheitssystems betrug die Anzahl der über 100-jährigen Japanerinnen und Japaner im Jahre 2018 schließlich beeindruckende 679 785(!).

„Gesundheitsland“  statt „Autoland“

Auch Österreich sollte endlich beginnen, sich proaktiv also präventivmedizinisch auf die zukünftigen massiven Herausforderungen in den Bereichen Gesundheit und Pflege vorzubereiten. Dementsprechende politische Weichenstellungen für das Gesundheitssystem und den dafür nötigen Finanzierungen sind nachdrücklich von allen Parteien einzufordern.

Statt viele Milliarden für die Anschaffung von Mittelstreckenraketen auszugeben – welche die Bevölkerung unter Umständen mehr in Gefahr bringen, als diese zu beschützen – könnten wir zum Beispiel alle VAMED Beteiligungen zur Gänze in die ÖBAG überführen!

Statt wieder einmal allen möglichen Überwachungsstaatphantasien nachzuhängen und die Chatverläufe der gesamten Bevölkerung ständig kontrollieren zu wollen, könnten wir die dafür notwendigen Millionen auch verwenden, um die regelmäßige Überwachung des Mineral,- generell den Mikronährstoffbedarfs und eine diesbezügliche Beratung nicht nur der älteren Bevölkerung kostenfrei anzubieten! 

Statt Massentierhaltung und der bevorzugten Förderung von landwirtschaftlichen Großbetrieben, eine massive Aufwertung und Subventionierung von  nachhaltigen „echten“ Biobetrieben und regionalen Kreislaufwirtschaften!

Statt „Autoland Österreich“ deutliche Investitionen in alle Klimaschutzagenden und auch dadurch für ein „Gesundheitsland Österreich“!

Damit in Menschen in Österreich – lt. ÖGK - durchschnittlich nicht nur bescheidene 59 Jahre in halbwegs guter gesundheitlicher Verfassung erleben dürfen, um danach ihre restliche Lebenszeit zum Teil von einem nicht besonders nachhaltig organisiertem Pflegesystem abhängig zu sein,- sondern stattdessen auf einer solidarstaatlich organisierten und nachhaltig finanzierten „Insel der Seligen“ solange wie nur irgendwie möglich, bestenfalls sogar lebenslang gesund und lebensfroh altern können. 

 Norbert Bauer

 


Anmerkungen:

(1) https://www.derstandard.at/story/3000000219651/pflegeorganisationen-warnen

(2) Das österreichische Pflegesystem: Ein europäischer Sonderfall (bertelsmann-stiftung.de)

(3) Experte für Zuckersteuer auch in Österreich - tirol.ORF.at 

(4)Konsum  teils halbiert: Britische Zuckersteuer zeitigt Erfolge - news.ORF.at 

(5) Krankenkassen kritisieren Lauterbachs Gesundes-Herz-Gesetz - ZDFheute 

(6) Kritik an Lauterbachs „Gesundes-Herz-Gesetz“ (aerzteblatt.de)   

(7) https://www.diepresse.com/6280694/lieber-alt-werden-in-daenemark-als-in-oesterreich

(8) https://ahwin.org/japans-welfare-for-the-elderly-past-present-and-future