Die Solidarwerkstatt hat sich intensiv für eine Urabstimmung der Sozialversicherten über die türkis-blauen Zerschlagungspläne eingesetzt. Gerald Oberansmayr im Gespräch mit dem Werkstatt-Blatt über Erfahrungen und Ausblicke dieser Bewegung.

 

WB: Warum habt ihr die Forderung nach einer Urabstimmung ins Zentrum des Widerstandes gegen die Zerschlagung der Selbstverwaltung in der Sozialversicherung gestellt?
Gerald: Diese sogenannte Reform der Sozialversicherung bedeutet im Kern die Enteignung der Versicherten. Nach 150 Jahren soll die Selbstverwaltung der ArbeitnehmerInnen in ihrer eigenen Versicherung beseitigt werden. Mit der Forderung nach Urabstimmung machen wir klar: Ihr – die Regierungsparteien – habt gar kein Recht, über uns – die Sozialversicherten – drüberzufahren, auch wenn ihr über eine parlamentarische Mehrheit verfügt. Denn wir sind die wirklichen Eigentümer, nur wir können über Fragen von so großer Tragweite entscheiden - eben in Form einer Urabstimmung.

WB: War das jetzt vor allem eine Forderung an die politisch Verantwortlichen oder gab bzw. gibt es Überlegungen, wie man eine solche Urabstimmung auch selbst organisieren kann.
Gerald: Beides. Die Solidarwerkstatt hat einen Offenen Brief „Urabstimmung statt Enteignung!“ an alle Parlamentsabgeordneten gerichtet. Mit der Forderung: keine Entscheidung im Parlament ohne vorherige Urabstimmung der Sozialversicherten! Gleichzeitig haben wir versucht, eine solche Urabstimmung von unten anzustoßen. In Linz haben wir das Aktionskomitee Urabstimmung mitinitiiert, eine Initiative von Betriebsräten und ZivilgesellschaftsaktivistInnen aus verschiedenen politischen Richtungen. Dieses Aktionskomitee ist aktiv an Arbeiterkammer und Gebietskrankenkasse herangetreten, um diese dazu zu bewegen, eine solche Urabstimmung in Oberösterreich zu organisieren. Denn diese Institutionen haben die Ressourcen dafür.
Eine solche Urabstimmung wäre zwar nicht bindend, könnte aber gewaltigen politischen Druck ausüben, weil sie einen Politisierungsschub erzeugt. Die Stärke der Regierung ist ja, dass den allermeisten ArbeitnehmerInnen die Dimension dieses Angriffs nicht bewusst ist. Vielen wäre alleine dadurch, dass sie zu einer Urabstimmung aufgerufen werden, zum ersten Mal klar geworden, dass sie die wahren Eigentümer der sozialen Kassen sind; dass deshalb die Regierung kein Recht hat, sie zu enteignen; und dass diese Enteignung die größte in der Geschichte Österreichs ist– immerhin geht es um über 60 Milliarden Euro, rund 17% des österreichischen BIP, die über die Sozialversicherung verwaltet werden. Wenn es gelänge, ein eindeutiges Votum der Sozialversicherten gegen die Enteignungspläne der Regierung zustande zu bringen, wäre klar: Türkis-Blau hat zwar die Macht, aber keine Legitimation für diese Zerschlagung der Sozialversicherung. Auf dem Votum einer Urabstimmung aufbauend, sind weitere Kämpfe vorstellbar, die die Regierung ins Schwitzen bringen.

WB: Was waren die Reaktionen der Arbeitnehmer-Organisationen auf diesen Vorschlag?
Gerald: Einerseits gab es erfreuliche Unterstützung, z.B. von etlichen Betriebsräten aus großen Linzer Betrieben. Die Frage der Urabstimmung wurde sowohl innerhalb der OÖGKK als auch in der AK OÖ ernsthaft diskutiert. Letztlich hat bei den Funktionären aber die Ablehnung überwogen. Einige Argumente, die dagegen sprechen, können sicher nicht weggewischt werden, z.B. dass es für die GKK rein rechtlich schwierig ist, eine solche Urabstimmung unter den Mitgliedern zu organisieren. Da hätte es aus der Kontrollversammlung, wo die Arbeitgeber die Mehrheit haben, sicher rasch den Versuch gegeben, das rechtlich abzuwürgen. Andererseits: Wenn der politische Wille vorhanden wäre, gäbe es sicherlich auch Wege, eine Urabstimmung abzuhalten, z.B. durch eine Zusammenlegung einer solchen Urabstimmung mit den AK-Wahlen.

WB: Warum glaubst du, dass es diesen politischen Willen bisher nicht gibt?
Gerald: Ich war überrascht über das hohe Maß an Selbstzweifel unter führenden Funktionären. Immer wieder wurde die Frage aufgeworfen, ob eine solche Urabstimmung überhaupt zu „gewinnen“ wäre, ob sich genug Menschen daran beteiligen würden, damit diese auch entsprechendes politisches Gewicht hätte. Es wäre überheblich, diese Bedenken einfach wegzuwischen. Andererseits aber gibt es keine Alternative dazu, sich dieser Auseinandersetzung an der Basis zu stellen. Wer da davonrennt, der hat schon verloren. Erst über die unzähligen Diskussionen, Veranstaltungen, Betriebsversammlungen, Infostände usw., die für eine solche Urabstimmung notwendig sind, können wir die Kräfteverhältnisse real verändern. Nur so können wir diese Regierung ernsthaft herausfordern. Außerdem ist klar: Heute geht es der Sozialversicherung an den Kragen, morgen der AK und den Betriebsräten. Wenn AK und Betriebsräte jetzt nicht aufstehen, um die Sozialversicherung zu verteidigen, wird morgen vielleicht niemand mehr da sein, um sie zu verteidigen. Wer jetzt stillhält, den trifft es morgen doppelt so stark. Eine Klage beim Verfassungsgerichtshof kann die Mobilisierung von unten nicht ersetzen.

WB: Wie reagierten die National- und Bundesratsabgeordneten auf den Offenen Brief „Urabstimmung statt Enteignung!“ der Solidarwerkstatt?
Gerald: Die Reaktion auf diesen Offenen Brief, der immerhin von 1.600 Menschen unterzeichnet wurde, hat uns überrascht. Es gab nämlich keine, keine einzige! Von den türkis-blauen Abgeordneten haben wir das nicht erwartet. Aber dass nicht einmal aus dem rot-grün-Pilz`schen Spektrum eine Antwort auf die Forderung nach einer Urabstimmung kam, stimmt nachdenklich, wie ernst es der parlamentarischen Opposition mit dem Widerstand gegen die Regierungspläne ist. Das könnte Vermutungen von enttäuschten Gewerkschaftern bestätigen, die meinten, dass der „Fisch beim Kopf zu stinken anfängt“. Sprich: dass es Kräfte in der SP-Führung gibt, die den türkis-blauen „Umbau“ der Sozialversicherung nicht in jeder Hinsicht negativ sehen. Immerhin gehen diese türkis-blauen Pläne völlig d´accord mit den Forderungen der EU-Kommission nach Rückbau von Sozialversicherungssystemen. Und puncto „Pro-EUropäismus“ will sich die SP-Führung ja nicht übertrumpfen lassen. Einmal mehr zeigt sich daran, wie wichtig es ist, dass sich die Gewerkschaften aus der Gängelung durch Parteiapparate lösen.

WB: Wie ist das Aktionskomitee Urabstimmung mit dieser schwierigen Situation umgegangen?
Gerald: Wir haben versucht, das Beste daraus zu machen. Sprich: auf unsere eigene Kraft zu vertrauen und das zu tun, was in unserer Macht steht. Wir haben für den 11. Dezember, dem Tag vor der Abstimmung im Nationalrat, zu einer Lichterkette vor der OÖGKK mit anschließender Demonstration zum Linzer Landhaus aufgerufen. Unser Motto: „Retten wir unsere OÖGKK! Urabstimmung jetzt!“ Dass es einer Handvoll AktivistInnen mit sehr bescheidenen Mitteln gelungen ist, über 600 Menschen zu mobilisieren, schätzen wir als großen Erfolg ein. Es war eine lautstarke, kraftvolle Demonstration. Und zum ersten Mal seit langem habe ich erlebt, wie Leute auf der Landstraße sich spontan in den Demozug eingereiht haben, als sie erfuhren, worum es ging. Die breite Palette an RednerInnen, die vom OÖGKK-Obmann, AK OÖ-Vertreter, der SPOÖ-Vorsitzenden, einer grünen Landtagsabgeordneten bis hin zu Betriebsräten reichte, belegt, dass unsere Überzeugungsarbeit für eine Urabstimmung trotz aller Bedenken auf fruchtbaren Boden gefallen ist. Darauf lässt sich aufbauen. Da und dort überlegen Betriebsräte bereits, solche Urabstimmungen in ihrer Belegschaft zu organisieren. Das sind wichtige Ansätze für den weiteren Widerstand gegen die Zerschlagung der Sozialversicherung.

WB: Welches Resümee ziehst du aus der bisherigen Urabstimmungskampagne?
Gerald: Gewerkschaften und Arbeiterkammer sind ungemein wichtige Organisationen, um Widerstand gegen die neoliberale Dampfwalze zu organisieren. Zugleich sind diese Apparate oftmals gefangen in parteipolitischen Anbindungen, sozialpartnerschaftlichen Illusionen, fraktionellem Hickhack und verknöcherten Hierarchien. Das befördert den Hang zur Bevormundung der Mitglieder und Stellvertreterpolitik. Die Vorstellung, den Menschen das Vertrauen zu geben, in einer Urabstimmung selbst darüber zu entscheiden, wie es mit der Sozialversicherung weitergehen soll, löst offensichtlich bei vielen Funktionären Unbehagen aus. Deshalb ist eine Organisationen wie die Solidarwerkstatt so unverzichtbar, die politisch, ideologisch, organisatorisch und auch finanziell unabhängig vom Establishment ist und auf die Selbstermächtigung der Menschen von unten setzt. Für uns ist der Kampf um die Sozialversicherung von absolut strategischer Bedeutung. Wir halten die Sozialversicherung für ein Zukunftsmodell, das nicht ab-, sondern ausgebaut werden muss, z.B. durch die Einbeziehung der Pflege in die Sozialversicherung. Und die demokratisiert werden soll, durch die Direktwahl der Vertreterinnen und Vertreter der Sozialversicherten. Das derzeitige indirekte Wahlsystem über die AK hat dazu beigetragen, dass viele Versicherte die Sozialversicherung nicht als eine Einrichtung wahrnehmen, die ihnen gehört.

(Februar 2019)

Siehe dazu auch das Solidarwerkstatt-Dossier "Urabstimmung statt Enteignung!"