S11gesundheitsreform gesundheitDie Regierung will noch im Dezember die „Gesundheitsreform 2.0“ im Parlament durchpeitschen. Wenn wir uns gegen diese „Deckelung“ der Gesundheitsausgaben nicht wehren, könnten uns innerhalb eines Jahrezehnts 31 Milliarden bei der Gesundheit geraubt werden.

Zwischen 1993 und 2012 – also innerhalb von zwei Jahrzehnten - stiegen die öffentlichen Gesundheitsausgaben um durchschnittlich 4,8% pro Jahr; das lag über dem durchschnittlichen jährlichen Wachstum des Bruttoinlandsprodukts (BIP) von ca. 3,7%. Zu einer Kostenexplosion führte das keineswegs. Der Anteil der öffentlichen Gesundheitsausgaben stieg innerhalb von 20 Jahren moderat von 7 auf 8,1%. Und warum soll es auch nicht zu einem Anstieg der Gesundheitsausgaben kommen, immerhin werden – Gottseidank! – die Menschen älter, d.h. aber auch, dass es einen entsprechenden Mehraufwand bei der Behandlung von Krankheiten gibt, die die Menschen früher gar nicht mehr erlebten. Wenn ein Bereich wachsen darf, dann – neben dem Bildungs-, Pflege-, Umwelt- und Kultursektor – bitte doch die Ausgaben für unsere Gesundheit. Früher hätte man das sogar als Zeichen des gesellschaftlichen Fortschritts gedeutet.

gesundheitsreform deckelung grafikGesundheitsreform 1.0: Der „Deckel“ kommt

Die SparfanatikerInnen in EU-Kommission und Regierung sehen das freilich völlig anders: Praktisch zeitgleich mit dem EU-Fiskalpakt kam im Jahr 2013 die „Gesundheitsreform 1.0“, im Grunde ein „Gesundheitsbeschränkungsprogramm“, wie die Solidarwerkstatt damals kritisierte. Denn diese „Gesundheitsreform“ sieht vor, das Wachstum der Gesundheitsausgaben mit dem BIP-Wachstum zu „deckeln“. Diese „Deckelung“ der öffentlichen Ausgaben ist auch bereits Bestandteil der EU-Verordnungen 2010/11 (Sixpack). Mit dem EU-Fiskalpakt bekamen diese EU-Vorgaben zusätzlichen Biss, mussten sie doch nun sogar in Form einer „Schuldenbremse“ in nationales Recht übergeführt werden. In Österreich heißt diese „Schuldenbremse“ „innerösterreichischer Stabilitätspakt“ und wurde in Form einer Artikel 15a-Vereinbarung zwischen Bund und Länder gesetzlich einbetoniert.

Der Fiskalpakt stattete ab Anfang 2013 auch die EU-Kommission mit zusätzlichen Möglichkeiten der Sanktionen gegenüber den EU-Mitgliedsstaaten aus, insbesondere gegenüber solchen Staaten, die sich in einem „Defizitverfahren“ befanden, weil sie gegen die hochheiligen EU-Defizitregeln verstießen. Wer sich in einem solchen Verfahren befindet, muss sog. „Wirtschaftspartnerschaftsprogramme“ mit der EU vereinbaren, die in aller Regel in neoliberalen „Strukturreformen“ münden. Österreich befand sich bis 2013 in diesem EU-Defizitverfahren und wurde erst daraus entlassen, als massive Einschnitte bei Pensionen und Gesundheit beschlossen wurden. Die „Deckelung“ der Gesundheitsausgaben gehört zu einer dieser „Strukturreformen“. Erklärtes Ziel: Bis 2016 sollte das Wachstum der Gesundheitsausgaben von 4,8% auf 3,6% (also knapp unter das BIP-Wachstum) „gedämpft“ werden.

Der damalige Gesundheitsminister Stöger und mit ihm die ganze Regierungsmannschaft versprach, dass diese Reform „niemand merken werde“. Jene Menschen, die acht Monate auf eine Hüftoperation und über ein Jahr auf eine Augenoperation warten, jene Menschen, die vielleicht nicht mehr rechtzeitig eine Krebstherapie bekommen, weil sie monatelang auf eine Tumoruntersuchung warten mussten, weil auch dafür das Budget „gedeckelt“ wurde, sehen das wohl etwas anders. Ein Spitalreform jagt seither die nächste. In fast allen Bundesländern werden Abteilungen oder ganze Spitäler geschlossen, der Arbeitsdruck auf die Beschäftigten steigt, die Zahl der Kassenärzte schrumpft, sodass die Wartezimmer voller und Wartezeiten immer länger werden – es sei denn, man verfügt über das entsprechende „Kleingeld“. Ein anonym bleiben wollender Arzt warnt im Profil-Interview vor den absehbaren Folgen dieser Entwicklung: „Die Zweiklassen-Medizin ist ein wucherndes Krebsgeschwür, das unser Gesundheitssystem irgendwann von innen zerstören wird.“ (Profil, 28.5.2016)

Gesundheitsreform 2.0: Der Deckel wird weiter runtergeschraubt

Noch im Dezember 2016 wollen die Regierungsparteien die „Gesundheitsreform 2.0“ in Form einer 15a-Regelung zwischen Bund und Ländern im Nationalrat durchpeitschen. Damit würde dieses „wuchernde Krebsgeschwür Zweiklassen-Medizin“ unzweifelhaft neue Nahrung bekommen. Einer der Hauptpunkte: Der „Deckel“ soll von 3,6% auf 3,2% runtergeschraubt werden. Der Bedarf der Menschen ist egal, Hauptsache es wird „ein wesentlicher Beitrag zur Erfüllung des Österreichischen Stabilitätspakts geleistet“, wie es im „Antrag an den Ministerrat“ heißt.

Was bedeuten diese prozentuellen Änderungen konkret in Euro? Vergleichen wir die 4,8% Steigerung, die wir uns über zwei Jahrzehnte leisten konnten, mit den 3,2%, die uns die Regierung nun verschreiben will. Die Differenz von 1,6% klingt zunächst nicht atemberaubend. Bedenkt man jedoch, dass diese Absenkung Jahr für Jahr zu einer niedrigeren Ausgangsgrundlage führt, offenbart sich ein ungeheurer Raubzug am solidarischen Gesundheitssystem: Bereits im 1. Jahr nach Einführung des neuen „Deckels“ werden uns 448 Gesundheitsmillionen vorenthalten; im 5. Jahr beträgt die – jährliche – Differenz bereits 2,6 Milliarden, der über die fünf Jahre aufgehäufte Fehlbetrag 7,4 Milliarden. Im 10. Jahr sind die Jahresdifferenz auf 6,4 Milliarden und der akkumulierte Fehlbetrag auf unfassbare 31,3 Milliarden Euro angewachsen. Innerhalb eines Jahrzehnts wird uns das Gesundheitsbudget eines ganzen Jahres gestohlen (derzeit rd. 28 Milliarden).

Öffnung für private Gesundheitskonzerne

Ein solcher Raubzug braucht freilich neue Strukturen und das direkte Durchgriffsrecht der Regierung auf den Gesundheitsbereich. Auch diese ist bereits in der „Gesundheitsreform“ von 2012 grundgelegt, soll nun aber erheblich erweitert werden. Bisher wurde die Entscheidung, wo es Kassenstellen geben soll, im Einvernehmen zwischen Sozialversicherungsträger und Ärztekammer getroffen. Das soll sich ändern. Wenn Land und Kasse es wollen, kann – auch in Konkurrenz zu niedergelassenen Ärztinnen und Ärzten – mit Ambulatorien, die von Spitälern oder privaten Investoren betrieben werden, ein Kassenvertrag abgeschlossen werden. Private Großkonzerne wie der deutsche Klinikkonzern Fresenius drängt in den niedergelassenen Bereich und haben schon länger ein begehrliches Auge auf den österreichischen Gesundheitsmarkt geworfen. Sobald die Kollektivverträge zwischen Krankenkassen und Ärztekammer ausgehebelt sind, könnte rasch der nächste Schritt folgen, indem die EU-Kommission die Vergaben im niedergelassenen Gesundheitsbereich dem EU-Wettbewerbsrecht unterwirft. Mit einem entsprechenden Lohn- und Qualitätsdumpingpolitik können sich dann große Kapitalgruppen den Markt einverleiben. Langfristig würde uns das teuer zu stehen kommen, denn Aktionäre wollen Dividende sehen. 15% Rendite sind bei Fresenius die Richtmarke.

Wehren wir uns: Weg mit dem Deckel!

Die Ärztekammer ruft am 14. Dezember 2016 zu einem bundesweiten Aktions- und Streiktag auf. Der Wiener Ärztekammerchef Thomas Sekerez kritisiert völlig zu Recht, dass diese 15a-Vereinbarung „zu einer Unterfinanzierung des Gesundheitsbereichs führt“ und „sich die Möglichkeit eröffnet, dass durch Investoren betriebene Ambulatorien den Hausarzt ersetzen.“ Dass die Ärztekammer gegen diese „Gesundheitsreform“ Sturm läuft, ist verständlich. Völlig unverständlich ist jedoch, dass diese Interessensvertretung dabei bislang von Gewerkschaft und Arbeiterkammer noch völlig im Stich gelassen werden. Ist die Bekämpfung der Zweiklassenmedizin tatsächlich kein Thema für die ArbeitnehmerInnen-Vertretungen mehr? Bereits 2012 haben sich die Spitzen von ÖGB und AK zu Erfüllungsgehilfen der Regierung bei der Durchsetzung der „Gesundheitsreform 1.0“ degradieren lassen. Diese Tragödie darf sich jetzt nicht wiederholen! Die Solidarwerkstatt ruft jedenfalls dazu auf, die Aktionen der Ärztinnen und Ärzte nach Kräften zu unterstützen und an breiten Bündnissen gegen die neoliberale Demontage unseres solidarischen Gesundheitssystems zu arbeiten:

  • => Gesundheit muss sich am Bedarf der Menschen und nicht an den EU-Budgetvorgaben orientieren – weg mit dem Deckel!
  • => Profitorientierte Konzerne haben im Gesundheitsbereich nichts verloren – Ausbau und nicht Abbau des solidarischen Gesundheitswesens!


Gerald Oberansmayr
(Dezember 2016)