Am 22.3. organisierte das Aktionskomitee Urabstimmung in Linz das Symposium „Ein solidarisches Versicherungssystem – Kern des Sozialstaats – Motor für eine solidarische Gesellschaft“. Nach den Aktionen gegen die Zerschlagung der Selbstverwaltung in der Sozialversicherung sollte damit die Möglichkeit für einen Gedankenaustausch für die Weiterarbeit geschaffen werden. Hier eine kurze Nachschau.


Hans Linsmaier
, eh. Voestalpine-Zentralbetriebsratsvorsitzender und unermüdlicher Sozial-Aktivist, eröffnete im Namen des Aktionskomitees Urabstimmung das Symposium, das von Irina Vana (Personenkomitee Selbstbestimmtes Österreich) moderiert wurde. Linsmaier umriss die Herausforderungen, vor der wir stehen: „Es ist Feuer am Dach der Sozialversicherung. Unsere soziale Sicherheit ist in Gefahr. Doch das merken viel zu wenige. Wo ist die Feuerwehr? Wie können wir mehr Menschen von unseren Idealen überzeugen, wie intervenieren wir in unsere Gesellschaft, um das Feuer auf der Sozialversicherung zu löschen?“

„Auch Dienstgeber-Anteil ist Lohnbestandteil“

Im ersten Vortrag spannte Univ. Prof. Dr. Emmerich Talos einen historischen Bogen von der Entstehung der Sozialversicherung im 19. Jahrhundert bis zu den aktuellen Auseinandersetzungen. Er wies dabei darauf hin, dass jeder Fortschritt in Richtung Ausbau des Sozialstaats hart erkämpft werden musste und immer wieder unter Beschuss der Kapitalseite stand – sowohl in der 1. Republik als auch ab den 90er Jahren in der 2. Republik. So brachte etwas der EU-Beitritt „einen Schub an Problemen.“ Angriffe auf die Sozialversicherung waren nicht nur auf schwarz-blaue Regierungen beschränkt, sondern fanden auch unter sozialdemokratischen Kanzlern statt, z.B. die „Reformen“ der Pensionsversicherung in der 2. Hälfte der 90er Jahre. Während die schwarz-blaue Regierung Schüssel vor allem die Pensionsleistungen verschlechterte, will die türkis-blaue Regierung Kurz die Arbeitslosenversicherung demontieren (Abschaffung der Notstandshilfe) und die ArbeitnehmerInnen in ihren eigenen Sozialversicherungen entmachtet. So sieht die SV-„Reform“ vor, dass die VertreterInnen der ArbeitnehmerInnen in jenen Versicherungen, in denen sie 100% der Versicherten stellen, nur mehr 50% der Mandate haben. Die Argumente der Unternehmerseite, sie finanziere mit dem Dienstgeberbeitrag die Hälfte der Kranken- und Pensionsversicherung, verwies Talos in den Bereich der Mythen und Märchen. Talos: „Auch der sog. Dienstgeberbeitrag ist klarer Lohnbestandteil.“ Die Bezeichnung  „Dienstgeber-Beitrag“ sei in der Kaiserzeit erfolgt, weil die Unternehmer der Arbeiterschaft nicht über den Weg trauten und sich mit dieser Falschettiketierung eine Legitimation für den Zutritt zu den Sozialversicherungsgremien der Arbeitnehmer verschaffen wollten. „Aber selbst Kaiser und Austrofaschisten haben es nicht gewagt, die Mehrheit der Arbeitnehmerinnen in deren eigener Versicherung in Frage zu stellen“, kritisierte Talos diesen türkis-blauen Großangriff auf die Gewerkschaftsbewegung.

Wachsende Umverteilung von Arbeit zu Kapital

Der Sozialwissenschaftler Albert Reiterer beschäftigte sich mit Umverteilung von Arbeit zu Kapital, die in den 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts begann und sich seit dem EU-Beitritt deutlich verschärfte. Insbesondere die unteren Arbeitnehmergruppen haben seither beträchtlich an Kaufkraft verloren. Auch die Spaltung innerhalb der ArbeitnehmerInnen nimmt zu: Innerhalb des letzten Jahrzehnts hat sich das Verhältnis des unterste zum obersten Einkommenszehntels (1. zum. 9. Dezil) von 1:17 auf 1:23 gespreizt. Das neoliberale Regime habe jedoch nicht nur die Kaufkraft, sondern auch die Realinvestitionen geschwächt. Das führe wirtschaftlich zu einer leichten aber beständigen „depressiven Tendenz“. Die sozialen Klassenunterschiede äußern sich auch in beträchtlichen Diskrepanzen bei der wichtigsten Ressource, unserer Lebenszeit: Im Vergleich zu Hilfsarbeitern leben Akademiker fünf Jahre länger und arbeiten zehn Jahre kürzer. Reiterers Resümee: „Sollte der Hilfsarbeiter ebenso viele relative Chancen für seine Ruhezeit haben, wie der Mittelständler, müsste er mit 57 Jahren in Pension gehen.“ Als Hintergrund für diese wachsende Ungleichverteilung sah Reiterer die zunehmende Übertragung der Wirtschafspolitik von der nationalstaatlichen Ebene auf die EU-Ebene, wo der Neoliberalismus vertraglich und institutionell einzementiert ist.

Laufende Sozialausgaben aus der Wertschöpfung finanzieren

Boris Lechthaler (Aktionskomitee Urabstimmung) setzte sich mit der „Lohnnebenkosten“-Propaganda auseinander. Diese diene einzig dazu, die ideologische Vorherrschaft der Interessen der exportorientierten Großindustrie über die Gesellschaft herzustellen. Sowohl Klein und Mittelbetriebe als auch Teile der Arbeiterschaft sollen an die Interessen der Großkonzerne angebunden und gegen die sozialen Kassen mobilisiert werden („Mehr netto vom brutto“). Es gelte daher, dieser Propaganda entschieden entgegenzutreten und sich für eine offensive Lohnpolitik stark zu machen. Die laufenden Sozialausgaben müssen aus der Wertschöpfung heraus finanziert werden, nur so seien sie nachhaltig gesichert. Auch höhere Vermögenssteuern seien gerecht und sinnvoll, sie aber als Finanzierungsquelle für die laufenden Gesundheits oder Pflegeleistungen zu sehen, werde zum Bumerang. Denn die fatale Folge wäre, dass die Reichen immer reicher gemacht werden müssten, um sich den Sozialstaat leisten zu können. Tatsächlich gelte es aber, den parasitären Reichtum einer schmalen Oberschicht nicht zu fördern sondern zu beseitigen, weil dieser immer mehr Demokratie und sozialen Zusammenhalt aushöhlt.

Verfassungsklage gegen Zerschlagung der dezentralen Selbstverwaltung

Im Anschluss daran erläuterte OÖGKK-Obmann Albert Maringer den Grundgedanken der Selbstverwaltung in der Sozialversicherung: „Die Versichertengemeinschaft regelt sich ihre Sachen selbst.“ Gerade das dezentrale System der Gebietskrankenkassen habe sich als wirtschaftlich effizient, flexibel und versichtertennah erwiesen. Mit der Zerschlagung dieser dezentralen Selbstverwaltung werde das System daher „teurer, starrer und den Menschen entzogen“. Albert Maringer habe daher als Obmann der OÖGKK eine Verfassungsklage gegen die Zerschlagung der dezentralen selbstverwalteten Krankenkassen eingebracht, er rechne im Herbst mit einer Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs. Der Kampf gegen die Regierungspläne gehe also in die nächste Runde.

Arbeiterkammern als nächste im türkis-blauen Visier

Der stv. Direktor der Arbeiterkammer OÖ Franz Molterer wies darauf hin, dass dem Angriff auf die Sozialversicherung der Angriff auf die Arbeiterkammer folgen werde. Durch eine Senkung des AK-Beitrags solle die Arbeiterkammer als Interessensvertretung der Lohnabhängigen massiv geschwächt werden. Dem gelte es entschieden entgegenzutreten, ebenso weiteren Angriffen auf die Sozialversicherung. Dabei dürfen wir nicht nur reagieren, sondern selbst die Initiative ergreifen, bevor die Regierung zum nächsten Schlag ausholt. Franz Molterer rief daher auf, die von der AK initiierte Bürgerinitiative zur „verfassungsrechtlichen Absicherung des solidarischen gesetzlichen Pensionssystems nach dem Umlageverfahren“ zu unterschreiben.

Türöffner für Privatisierung

Martina Kronsteiner, Vorsitzende des Zentralbetriebsrats des Unfallkrankenhauses Linz, gab anschließend einen faktenreichen Überblick über die aktuellen Angriffe der Regierung im Bereich der Unfallversicherung. Durch die geplante (und zum Teil schon verwirklichte) Absenkung des UV-Beitrags für die Unternehmen werden dem Gesundheitssystem eine halbe Milliarde Euro jährlich entzogen. Letztlich drohe damit das Gesundheitssystem „auf das niedrigste Niveau runtergefahren zu werden“. Besondere Sorge bereite ihr die Umwandlung der AUVA in eine GmbH, denn damit werde das Einfallstor für die Privatisierung im Gesundheitssystem weit geöffnet. Die negativen Auswirkungen der Privatisierung im Bereich der Gesundheit könne in Deutschland beobachtet werden, wo die Privatisierung schon massiv vorangeschritten ist. Die vorrangige Orientierung am Profit habe zu einem drastischen Abbau von Personal und Betten geführt. Mit zwei Zitaten am Ende ihres Vortrags ermunterte Martina Kronsteiner sowohl zu einer nüchternen Analyse als auch zur Leidenschaft beim Widerstand: „Kein Übel ist so groß, dass es nicht von einem neuen übertroffen werden könnte.“ (Wilhelm Busch). Und: „Wer kämpft, kann verlieren, wer nicht kämpft, hat schon verloren“ (Bertholt Brecht).

Pflege in die Sozialversicherung

Im abschließenden Pannel ging es dann vor allem darum: Wie können wir die Sozialversicherung weiterentwickeln, wie können wir politisch wirkmächtig werden.

Gerald Oberansmayr (Solidarwerkstatt) plädierte für die Einbeziehung der Pflege in die Sozialversicherung, um den Pflegenotstand in Österreich zu überwinden. Wie in der sozialen Krankenversicherung gelte es in der Pflege zwei Grundsätze zu verwirklichen: Erstens: Jeder und jede hat auch im Pflegefall einen Rechtsanspruch auf qualitativ hochstehende Pflegeleistungen entsprechend des Bedarfs - unabhängig vom jeweiligen Einkommen! Also ein Sachleistungs- anstelle des derzeit dominierenden Geldleistungsprinzips. Skandinavische Länder zeigen, dass sich das mit Wahlfreiheit der Pflegebedürftigen gut verbinden lasse. Und zweitens: Jeder und jede trägt entsprechend seiner finanziellen Leistungsfähigkeit über einen Sozialversicherungsbeitrag zur Finanzierung der solidarischen Pflichtversicherung bei. Die Finanzierung solle aber auf die gesamte Wertschöpfung (einschließlich Gewinne und Abschreibungen) ausgedehnt und die Höchstbeitragsgrundlage abgeschafft werden. Schließlich brauche es eine deutliche Ausweitung der öffentlichen Ausgaben für Pflege und Gesundheit. Denn: „Den armen Staat können sich nur die Reichen leisten!“

Direktwahl der VersichertenvertreterInnen

Erwin Leitner von der NGO „Mehr Demokratie“ fragte eingehend, wie es passieren konnte, dass dem Großangriff der Regierung auf die Selbstverwaltung in der Sozialversicherung bislang so wenig Widerstand entgegengesetzt werden konnte. Als einen der Gründe benannte er, dass viele ArbeitnehmerInnen die Sozialversicherung gar nicht als „ihre Versicherung“ wahrnehmen würde, da die Wahl der Versichertenvertretungen nicht direkt, sondern nur indirekt über die AK-Wahl erfolge. Erwin Leitner sprach sich daher für die Direktwahl der VersichertenvertreterInnen aus, um die Identifikation mit und den Einfluss auf die Sozialversicherung zu erhöhen. Das sei auch der Grund, warum sich das Aktionskomitee Urabstimmung so intensiv für die Durchführung einer Urabstimmung der Sozialversicherten über die Regierungspläne stark macht. Leitner: „Die Betroffenen müssen von einem Objekt zu einem Subjekt werden!“

Erfolgreiche Urabstimmung in Linzer Industriebetrieb

Daran konnte sogleich Horst Huemer anschließen. Er ist ebenfalls Aktivist im Aktionskomitee Urabstimmung und Zentralbetriebsratsobmann von Boschrexroth, einem mittelgroßen Linzer Industriebetrieb. Er organisiert in der zweiten Märzhälfte gemeinsam mit seinen BetriebsratskollegInnen eine Urabstimmung über die Regierungspläne unter den Beschäftigten von Boschrexroth. Folgende Frage wurde den KollegInnen unterbreitet: „Wollen Sie, dass über die Verwendung der Sozialversicherungsbeiträge der ArbeitnehmerInnen auch weiterhin deren gewählte VertreterInnen entscheiden und die OÖGKK erhalten bleibt?“ Zwei Drittel der Belegschaft nahmen an der Abstimmung teil und 95% antworteten mit Ja. Horst Huemer und sein KollegInnen ernteten viel Applaus von den TeilnehmerInnen des Symposiums, vielfach wurde die Hoffnung und Erwartung geäußert, es sollten noch viele weitere Betriebe solche Urabstimmungen durchführen.

Für eine breite Allianz

Martin Gstöttner, stv. Betriebsratsvorsitzender von Plasser & Theurer, appellierte daran, fraktionelle Sonderinteressen zurückzustellen und eine breite Allianz für Menschlichkeit gegen die unmenschliche Regierungspolitik zu bilden. Gstöttner: „Dann wird am Ende das Gute gewinnen.“

Der Christgewerkschafter Norbert Bauer, Zentralbetriebsratsobmann einer großen Hotelkette, betonte, wie wichtig es sei, bei einer solchen Allianz für Menschlichkeit auch jene ehrlichen Christlich-Sozialen mitzunehmen, die mit der türkisen Parteiführung keineswegs einverstanden sind, seit diese sich völlig der Industriellenvereinigung untergeordnet hat. Darüber hinaus forderte er ÖGB und AK zu einer klaren EU-Opposition auf, denn gerade über die EU-Ebene werde ein ungeheurer Druck zum Abbau des Sozialstaats und zur Verschlechterung der Leistungen der Sozialversicherung ausgeübt. Bauer erinnerte in diesem Zusammenhang daran, dass auch die globalisierungskritische NGO ATTAC die EU für „nicht mehr reformierbar“ halte und zur „Entdämonisierung des EU-Austritts“ aufrufe.

Einladung zum nächsten Treffen des Aktionskomitees Urabstimmung

Einige dieser Ideen, die auch in einem Entwurf für eine „Linzer Erklärung“ beim Symposium auflagen, wurden teilweise kontroversiell aber immer solidarisch diskutiert. Der Wille zur Weiterarbeit gegen die Pläne zur Demontage der Sozialversicherung stand im Vordergrund. Dafür konnte bei diesem Symposium frischer Mut getankt und neue Anregungen gesammelt werden. Die nächsten konkreten Schritte stehen beim Treffen des Aktionskomitees Urabstimmung am 4. April (18h, Veranstaltungsraum Waltherstraße 15, 4020 Linz) auf der Tagesordnung. Alle Interessierten sind herzlich zur Mitarbeit eingeladen. Der eh. Voest-Pfarrer Hans Wührer motivierte dazu, indem er abschließend den Bogen zur aktuellen Klimaschutzbewegung schlug: „Es brennt nicht nur das ökologische, es brennt auch das soziale Haus!“