
Nach wie vor existiert in Österreich ein enormes Bildungsprivileg. Nur 8% der Studierenden kommen aus ArbeiterInnen-Familien, Kinder aus AkademikerInnenhaushalten haben eine 2,7 Mal höhere Chance, ein Studium zu beginnen, als Studierende aus sog. bildungsfernen Haushalten. Die Studierendenbewegung hat im Herbst mit der pfiffigen Losung „Reiche Eltern für alle!“ auf diesen sozialen Numerus Clausus reagiert. Dabei geht es nicht nur um die Überwindung des höchst ungerechten Zugangs zu mehr Bildung, es geht auch um eine gewaltige demokratiepolitische Herausforderung. Die zunehmende Verwissenschaftlichung von Arbeits- und Lebensweise kann nur dann demokratisch bewältigt werden und neue Chancen für eine freie Entfaltung eröffnen, wenn Bildung auf möglichst hohem Niveau allen Menschen offen steht – ohne wirtschaftliche und soziale Schranken. Selektion und Bildungsprivileg sind nicht nur – im wahrsten Sinn des Wortes – dumm, sie sind auch demokratiepolitisch brandgefährlich. Denn Wissen bedeutet heute mehr denn je Macht. Wenn ersteres immer ungleicher verteilt ist, dann wird auch die politische und wirtschaftliche Macht bei immer kleineren Klüngeln konzentriert, wodurch Bildungspotentiale behindert und vernichtet werden. Schon heute bringen Sozialwissenschafter wie Emanuel Todt die wachsende Entdemokratisierung in westlichen Gesellschaften mit den immer größeren Bildungsabständen in Verbindung (1).
Die EU-Bildungspolitik mit der Lissabon-Strategie und dem Bologna-Prozess verschärft diese Hierarchisierung von Bildung auch im universitären Bereich. Seit dem Start des Bologna-Prozesses ist der Anteil von Studierenden aus unteren sozialen Schichten in Österreich von 26% auf 19% gesunken.(2) Wir halten das für den vollkommen falschen Weg. Bildung für alle ist eine der wichtigsten demokratiepolitische Herausforderungen unserer Zeit. Wer bei der Bildung zum Erbsenzählen anfängt, landet in einer demokratiepolitischen Wüste. Wer das nicht will, muss der Losung „Reiche Eltern für alle!“ ein realpolitisches, d. h. materielles Fundament verschaffen, also Sicherstellung der wirtschaftlichen Absicherung von Bildungszeiten für alle durch eine solidarische, öffentliche Bildungsfinanzierung.
Als Werkstatt Frieden & Solidarität wollen wir deshalb einen Anstoß geben, eine grundlegende Bildungsreform ins Auge zu fassen. Als wichtige Eckpunkte sehen wir:
1) Bildungszeiten über die abgeschlossene Sekundärphase hinaus sind gesellschaftliche Arbeitszeiten. Diese Bildungszeiten müssen daher durch existenzsichernde Einkommen abgesichert werden, die über eine gemeinschaftliche Finanzierung bereitgestellt werden. Für alle! Wir halten es nicht für zumutbar, dass Menschen über 18 Jahren wegen des Studiums zu ihren Eltern betteln gehen müssen. Die wirklich reichen Eltern sollen über eine entsprechend progressive Steuerpolitik ihren Beitrag für die öffentlichen Kassen leisten, die soziale Staffelung von Transferleistungen ist der falsche Weg dafür.
2) Jeder Mensch hat - über die Sekundärphase hinaus (AHS, BHS, Lehre) – Anspruch auf fünf weitere Bildungsjahre, wo er/sie sich vollzeitlich, weil wirtschaftlich abgesichert, seiner/ihrer weiteren Bildung und Qualifizierung widmen kann. Das kann, muss aber nicht ein Studium an Universitäten bzw. Fachhochschulen sein; das kann, muss aber nicht unmittelbar nach Abschluss der Sekundärphase stattfinden. Auch in späteren Lebensabschnitten können sich dadurch neue Möglichkeiten der Weiterbildung und beruflichen Neuorientierung ergeben. Letztlich läuft es auf die Verallgemeinerung einer Erwerbsbiografie hinaus, wie sie derzeit nur für jene Minderheit mit akademischer Ausbildung charakteristisch ist: von der Volksschule bis zur Pension ca. ein Drittel Bildungszeiten und ca. zwei Drittel unmittelbare Erwerbsarbeitzeiten.
Parallel dazu müsste die Sekundärphase der Bildung umgestaltet werden: Einführung einer gemeinsamen Schule der 6 bis 15 Jährigen; darüber hinaus differenzierte Bildungs- und Ausbildungswege für alle bis zum 18./19. Lebensjahr, die gleichermaßen die Tür zu den Hochschulen öffnen.
3) Natürlich erhebt sich sofort die Frage: Ist die Einführung von fünf zusätzlichen, wirtschaftlich abgesicherten Bildungsjahren für alle überhaupt finanzierbar. Das hieße schließlich, dass zusätzlich hunderttausende Menschen in die Bildungseinrichtungen strömen würden. Ja, wir sind überzeugt, dass das finanzierbar ist, wenn wir in der Lage sind, die gigantische Verschwendung in unserer Gesellschaft endlich zu überwinden, die darin besteht, dass hunderttausende Menschen arbeitslos oder – gegen ihren Willen – unterbeschäftigt sind. Im Detail:
- Im Jänner 2010 waren in Österreich 400.000 Menschen arbeitslos
- Fast eine Millionen Menschen sind Teilzeit beschäftigt – viele davon unfreiwillig, weil sie keine Vollzeitstelle bekommen (rd. 200.000 sind sogar nur geringfügig beschäftigt)
- Rd. 380.000 Menschen, v.a. Frauen, sind auf Hausarbeit reduziert, auch hier wiederum viele unfreiwillig, weil sich am Arbeitsmarkt keine passenden Berufsmöglichkeiten bieten, die u.a. mit der Kinderbetreuung vereinbar sind.(3)
Diese Vergeudung von menschlicher Kreativität und Arbeitsfähigkeit muss durch Vollbeschäftigungspolitik überwunden werden, die nicht zuletzt in einer massiven Erhöhung der Beschäftigung in den Bereichen Bildung, Forschung, Gesundheit, Pflege, erneuerbare Energien, öffentlicher Verkehr, Kinderbetreuung, usw. besteht.
Gelingt die Überwindung dieser gesellschaftlichen Verschwendung, kann eine solche Ausweitung der Bildungszeiten für alle finanziert werden, ohne dass es zu kurzfristigen Wohlstandsverlusten kommt. Langfristig erhöhen Bildung und Wissen ohnehin die Produktivität und Kreativität einer Gesellschaft enorm. Denn wenn alle über mehr Bildung und Wissen verfügen, hat nicht nur der einzelne etwas davon, die Gesellschaft als Gesamtes wird dadurch reicher und lebenswerter.
4) Als die sinnvollste Finanzierungsmöglichkeit sehen wir wertschöpfungsbezogene Finanzierungsbeiträge – ähnlich der Sozialversicherung, aber eben unter Einbeziehung der gesamten betrieblichen Wertschöpfung. Unserer Meinung nach hat diese Form der Finanzierung mehrere Vorzüge:
- Wir halten sie für verteilungsgerecht: jede/r zahlt entsprechend seiner individuellen Leistungsfähigkeit, jeder hat dafür Anspruch auf gleiche Sachleistungen auf höchstem Niveau (ähnlich der Krankenversicherung).
- Dadurch dass jede/r einen zweckgebundenen Beitrag leistet, entstehen individuelle Rechtsansprüche. Auch demokratische Mitspracherechte lassen sich damit begründen.
- Die Rückbindung an die Wertschöpfung schafft eine stabile und nachhaltige Finanzierungsgrundlage, die auch alle Komponenten der betrieblichen Wertschöpfung (inkl. Gewinne, Abschreibungen,…) miteinbezieht, denn gerade Betriebe profitieren von einer allgemeinen Anhebung des Bildungs- und Qualifikationsniveaus.
Manche fragen vielleicht, warum nicht v.a. Vermögens-, Spekulations- oder Umweltsteuern zur Finanzierung der Bildung herangezogen werden soll. Nun, wir sind natürlich dafür, Vermögen, Spekulation und Umweltverbrauch höher zu besteuern, zur Finanzierung von Bildung halten wir das aber grundsätzlich für ungeeignet. Vermögens-, Spekulations- und Umweltsteuern dienen vor allem der Lenkung, d.h. mit ihrer Hilfe soll es gelingen, gesellschaftliche Übel wie exzessive Vermögensungleichheit, Spekulation und Ressourcenraubbau zurückzudrängen. Je erfolgreicher dieser Politik, desto geringer die Einnahmen. Die Finanzierung von Bildung – aber auch von Gesundheit, Pflege, usw. – erfordert jedoch dauerhafte und stabile Einnahmen. Sie an Vermögen, Spekulation oder ökologischen Raubbau zu koppeln, hieße, diese Übel geradezu fördern zu müssen, um genügend Geld für Bildung zur Verfügung zu haben. Das halten wir für absurd.
5) Diese Organisation der Bildung und ihrer Finanzierung steht auch in Beziehung mit einer geänderten Verwaltung und einer Öffnung der Inhalte. Bildungspolitik darf nicht das Privileg der entsprechenden Referate der Industriellenvereinigung und von dünkelhaften Standesvertretungen sein. Alle direkt und indirekt am Bildungssystem Beteiligten müssen in die Ausgestaltung einbezogen werden. Als Ziel wird das ausschließliche Erreichen von oben vorgegebener, normierter Standards verworfen. Bildung und Wissenschaft sind Hilfsmittel zur Bewältigung des Lebens, zur Gestaltung offener Prozesse, aus denen die Gestaltung der Hilfsmittel selbst entspringt.
„Reiche Eltern für alle!“ ist möglich, ja in höchstem Maß notwendig, wenn wir eine sozial gerechte und zukunftsfähige Gesellschaft haben wollen. Sie steht im schroffen Gegensatz zur hysterischen Sparpolitik, wie sie derzeit von EU-Kommission und Regierung, Hand in Hand mit Industriellenvereinigung und den Rechtsaußen-Parteien FPÖ/BZÖ vorangetrieben wird. Den armen Staat – und mit ihm die Bildungsarmut breiter Schichten - können sich nur die Reichen und Rückwärtsgewandten leisten.
(1) Emanuel Todt, in: Weltmacht USA – ein Nachruf, Piper, 2003
(2) IHS, Studien-Sozialerhebung, 2009
(3) Quelle für diese Zahlen siehe Statistik Austria, www.statistik.at