ImageDas Pensionsantrittsalter soll nach dem Willen der EU-Kommission immer weiter erhöht werden, weil "wir alle" ja immer älter werden. Doch ein Blick auf Studien zeigt: Die Lebenserwartung der unteren sozialen Schichten sinkt, die Unterschiede in der Lebenserwartung zwischen arm und reich gehen immer weiter auseinander. Je nach sozialen Status bei der Geburt differiert die Lebenserwartung zwischen dem oberen und unteren Einkommensfünftel um bis zu 11 Jahren bei Männern und um mehr als 8 Jahre bei Frauen.

 

Am 21.09.2012 (1) treibt der EU-Kommissar Laszlo Andor in einem Interview (1)die Europäische Sau durch Österreich. Die Lohnabhängigen würden viel zu kurz arbeiten, die im Durchschnitt steigende Lebenserwartung der Menschen soll einem noch längeren Ausbeutungsprozess unterworfen werden. Er schwadroniert öffentlich, dass in Ungarn Hochschulprofessoren erst mit 70 Jahren in Pension gehen, was für Ihn sehr in Ordnung sei. Auch meint er, “dass die Wahrscheinlichkeit der heute Arbeitenden Generation und Ihrer Kinder, das 100. Lebensjahr zu erreichen, stetig steigt. Immer mehr Menschen haben also 40 Jahre Pension vor sich.“ Ja, da muss Ihm als EU-Sozialkommissar die Galle hoch steigen. Dazu resümiert der „Sozial"-Kommissar: „Entweder werden die Pensionen künftig sehr niedrig ausfallen und wird die Altersarmut steigen... oder die Beitragszahlungen werden angehoben, was möglich ist, aber dem Wettbewerb schadet. Die dritte Option, die wir Unterstützen, ist es, länger zu arbeiten“. 

So wird nicht nur auf europäischer Ebene eine Anhebung des gesetzlichen Pensionsalters um 5 bis 7 Jahre diskutiert, die Forderung nach Pension frühestens ab 70 oder 72 ist fixer Bestandteil des Sprachgebrauches von selbsternannten „Experten“ und sonstiger politischer Mitläufer innerhalb und außerhalb der Wirtschaft in der Europäischen Union.

Soziale Selektion

Dass die durchschnittliche Lebenserwartung seit Jahrzehnten ansteigt, hat nichts mit der Finanzierbarkeit unseres Pensionssystems zu tun und ist für alle Menschen eine erfreuliche Tatsache. Was aber vollkommen ausgeblendet wird, ist, dass sich eine immer größere Kluft hinsichtlich Lebenserwartung in Abhängigkeit von ihrer sozialen Lage auftut. Der Saabrücker Zeitung vom Dezember 2011 berichtet mit Verweis auf einschlägige Untersuchungsergebnisse, dass die Lebenserwartung bei geringverdienenden Männern in Deutschland seit 2001 von 77,5 Jahren auf 75,5 Jahre gesunken ist (2). Und somit auch die Dauer des Bezuges einer Pension. Nach den Berechnungen des Deutschen Sozialökonomischen Paneel ist die hochbeschworene Gleichheit aller Menschen nicht das Papier wert auf dem das geschrieben steht. Je nach sozialem Status bei der Geburt differiert die Lebenserwartung zwischen dem oberen und unteren Einkommensfünftel um bis zu elf Jahren bei Männern und um mehr als acht Jahre bei Frauen.

Eine Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) zusammen mit dem Robert Koch-Institut (RKI) auf Basis von Daten des "Sozioökonomischen Panels" (SOEP) bestätigt diese soziale Selektion. Wer ein körperlich arbeitsreiches Leben in Entbehrung zubringen musste, hat als Frau ab den 65 Lebensjahr eine dreieinhalb Jahre geringere fernere Lebenserwartung als Ihre wohlhabende besserverdienende Geschlechtsgenossin. Diese verringerte Lebenserwartung wird durch die psychische Belastung der Armutsgefährdung und mit daraus resultierenden schwachen sozialen Netzwerken begründet.

Bei Männern aus armutsgefährdeten Haushalten und unterdurchschnittlichem Einkommen verringert sich die Lebenserwartung ab den 65 Lebensjahr um durchschnittlich fünf Jahre, gegenüber den besser verdienenden Geschlechtsgenossen. Hier wird die geringe Bildung und körperliche Belastung durch Arbeit als Begründung angeführt.

Das Sozioökonomische Panel ist eine seit 1984 durchgeführte repräsentative Wiederholungsbefragung von Haushalten in West- und seit 1990 auch in Ostdeutschland. Derzeit werden über 20.000 Personen in mehr als 10.000 Haushalten pro Erhebungsjahr befragt. Mit SOEP-Daten wurde bereits eine Vielzahl von Analysen zu Unterschieden in der Lebenserwartung nach Einkommensgruppen durchgeführt. So berichtet Reil-Held (2000) (3) anhand der SOEP-Daten aus den Jahren 1984 bis 1997, dass Männer mit niedrigem Einkommen (unterstes Quartil der Einkommensverteilung) gegenüber denen mit hohem Einkommen (oberstes Quartil) eine um sechs Jahre verringerte mittlere Lebenserwartung bei der Geburt haben. Bei Frauen beträgt die Differenz vier Jahre. Nach Lampert et al. (2007) könnten sich diese Unterschiede in den nachfolgenden Jahren noch ausgeweitet haben. Auf Basis der SOEP-Daten aus den Jahren 1995 bis 2005 ermittelten sie in Bezug auf die mittlere Lebenserwartung bei der Geburt eine Differenz von elf Jahren bei Männern und acht Jahren bei Frauen, beim Vergleich der niedrigsten mit der höchsten Einkommensgruppe (< 60 Prozent gegenüber 150 Prozent und mehr des mittleren Netto-Äquivalenzeinkommens). Für die fernere Lebenserwartung ab dem 65. Lebensjahr ermittelten Lampert et al. eine Differenz von sieben Jahren für Männer und von fünf Jahren für Frauen(4).

"Der Mohr hat seine Schuldigkeit getan..."

Eine weitere Studie von Groh-Samsberg und Voges (5) bestätigt die Zusammenhänge des Arbeitseinkommens mit weiteren Aspekten der individuellen Lebenslage. Die Summierung prekärer sozialer Bedingungen betreffen die Wohnsituation, finanzielle Rücklagen und Arbeitslosigkeitserfahrung sowie die Dauer von Armutslagen. Nicht nur dauerhafte oder verfestigte Armut, sondern auch temporäre Armutssituationen gehen mit einem erhöhten Mortalitätsrisiko oder anders ausgedrückt mit einer verringerten Lebenserwartung einher.

In dieser Kluft bei der Lebenserwartung manifestiert sich die reale Elitenpolitik. Diese zielt auf Teilung und Spaltung der Gesellschaft, wo Gemeinsamkeiten und Solidarität für den Wachstumsdrang und das Profitstreben der Konzerne einen Hemmschuh bilden.

Die anfangs erwähnte Chancengleichheit aller Menschen ab der Geburt stellt eine Herausforderung an jede Gesellschaft dar. Ein gesundes und sozial abgesichertes Altern erfordert eine umfassende Sozial-, Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik. Nicht der freie Markt darf über Dauer und Qualität einer Pension oder überhaupt des gesamten Lebens entscheiden, sondern es muss darum gerungen werden, dass jeder Mensch von der Geburt bis zur Bahre die selben Chancen und Bedingungen vorfindet. Das ist die Grundlage einer solidarischen Gesellschaft.

Die Fundamente einer solidarischen Gesellschaft können unter anderem mit folgenden Schlagworten umrissen werden:

BILDUNGSGLEICHHEIT   FREIER HOCHSCHULZUGANG   UMFASSENDE GESUNDHEITFÖRDERUNG   SOLIDARISCHE PFLEGEVERSICHERUNG   SOLIDARISCHER WOHNBAU ALLUMFASSENDE WERTSCHÖPFUNGSABGABE   UMFASSENDER ARBEITSSCHUTZ   NULLTARIF AUF ÖFFENTLICHE VERKEHRSMITTEL   BEDARFSORIENTIERTE UMVERTEILUNG DER WERTSCHÖPFUNG

Es ist schon bemerkenswert, dass ansonsten gut informierte Entscheidungsträger, die bei TV-Interviews spontan die ganze Welt erklären können, in dieser, die Einkommensschwachen und Lohnabhängigen betreffenden Materie fahrlässige Wissens- und Handlungslücken vorweisen. Es entsteht hier der unappetitliche Eindruck, dass für den neoliberalen Markt in Europa und die globale Konkurrenzfähigkeit der EU vorsätzlich eine soziale Selektion durch grob unterschiedliche Lebensbedingungen und somit grob unterschiedliche Lebenserwartungen aller Einkommensbezieher betrieben wird.

Es bestätigt ein altes Sprichwort und vielleicht die Denkweise der vorherrschenden Eliten, die scheinbar noch immer von der Schnelligkeit der Hunde, der Zähigkeit von Tierhaut und Härte von behandeltem Eisen träumen:

„Der Mohr hat seine Schuldigkeit getan, der Mohr kann gehen.“

Rudi Schober

Siehe zu diesem Thema auch aktuellen Beitrag im Werkstatt-Radio zum Thema "Können wir alle uns die Pension noch leisten?" zum Nachhören auf http://cba.fro.at/112666


Anmerkungen:

(1) 19.09.2012 Interview mit EU-Kommissar Laszlo Andor  auf Seite 23 im „Der Standard“
(2) 13.Dezember 2011 Saarbrücker Zeitung
(3) Reil-Held (2000): Einkommen und Sterblichkeit in Deutschland: Leben Reiche länger? Sonderforschungsbereich 504, Discussion Paper Nr. 14, DIW Berlin  
(4)Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung,   DIW -Wochenbericht Nr. 38.2012
(5) Groh-Samberg, O. (2012): Arme sterben früher. Zum Zusammenhang von Einkommenslage und Lebenslage und dem Mortalitätsrisiko.