Die Flickschusterei im Pflegebereich muss endlich aufhören. Wir brauchen eine Lösung, die über den Tag hinausdenkt: Pflege in die Sozialversicherung!
In Österreich herrscht Pflegenotstand. Dieser hat viele Gesichter:
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Pflege bedeutet Armutsrisiko für die Pflegebedürftigen. Das Pflegegeld reicht laut Rechnungshof nur bis zu 25% der wirklichen Pflegekosten.
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In Österreich sind rd. 950.000 Menschen in der Pflege engagiert. 80% davon sind Familienangehörige, drei Viertel von ihnen Frauen. Die Belastungen für die Familien sind groß. Oftmals werden die Pflegenden selbst zum Pflege- und Armutsfall.
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Es kommt zum finanziellen Ausbluten der Gemeinden, die mit hohen Pflegeaufwendungen und extremem Spardruck konfrontiert sind.
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Über 78.000 Pflegekräfte – zumeist Frauen aus Osteuropa – arbeiten in der 24-Stunden-Pflege. Das bedeutet: Die Interessensvertretung IG 24 berichtete 2021 von einem Tageslohn, der je nach Agentur zwischen 25 und 55 Euro schwankt, macht einen Stundenlohn von zwei bis drei Euro. Das ist Ausbeutung pur unter dem Deckmantel der (Schein-)Selbständigkeit. 92% der 24-Stunden-PflegerInnen sind Frauen, 98% sind MigrantInnen.
- Aber auch regulär in der Pflege Beschäftigte sind oft am Rande ihrer Kräfte: Laut AK-Studie sind 40% der PflegearbeiterInnen burn-out-gefährdet. Personalmangel an allen Ecken und Enden gefährdet das Wohl der Pflegenden und Gepflegten. Die Volksanwaltschaft spricht von „struktureller Gewalt“ und „groben Menschenrechtsverletzungen“ in den Pflegeeinrichtungen.
Pflege in die Sozialversicherung!
Um einen Ausweg aus diesem Pflegenotstand zu finden, schlägt die Solidarwerkstatt eine Änderung im Pflegesystem vor. Der Grundgedanke: Die Pflege soll in das bewährte System der Sozialversicherung integriert werden. Ähnlich wie in der sozialen Krankenversicherung soll dann die Pflege auf zwei Pfeilern beruhen:
- Erstens: Jeder und jede hat einen Rechtsanspruch auf qualitativ hochstehende Pflegeleistungen entsprechend seines/ihres Bedarfs – unabhängig davon, wie dick die Brieftasche ist.
- Zweitens: Jeder und jede leistet dafür einen Sozialversicherungsbeitrag entsprechend der jeweiligen finanziellen Leistungsfähigkeit. Im Unterschied zum derzeitigen Sozialversicherungssystem soll sich dieser Sozialversicherungsbeitrag auf die gesamte Wertschöpfung als Finanzierungsgrundlage erstrecken, also z.B. auch Gewinne und Abschreibungen mit einbeziehen. Auch die Höchstbeitragsgrundlage soll aufgehoben werden. Das schafft eine stabile Finanzierungsgrundlage und mehr Gerechtigkeit.
Gute Pflegeleistungen und echte Wahlfreiheit für alle!
Was ändert sich konkret? Derzeit bekommt ein Pflegebedürftiger im Pflegefall eine bestimmte Geldsumme (Geldleistungsprinzip), die in der Regel nur einen Bruchteil der realen Kosten abdeckt. Die Folge ist eine Zwei- und Mehrklassenpflege. Beste Leistungen und echte Wahlfreiheit gibt es nur für jene, die entsprechend viel Geld auf der Seite haben.
Mit der Einbeziehung der Pflege in die Sozialversicherung wird vom Geldleistungs- auf das Sachleistungsprinzip umgestellt. Das bedeutet: Im Pflegefall besteht ein individueller Rechtsanspruch auf die notwendigen Pflegeleistungen – auf qualitativ hohem Niveau und mit echter Wahlfreiheit für alle. D.h. die Pflegebedürftigen haben die Wahl zwischen Pflegeeinrichtungen, mobilen Diensten und/oder Pflege im Kreis der Familie bzw. Angehörigen. Wird Letzteres in Anspruch genommen, gibt es jedoch einen erheblichen Unterschied zum derzeitigen System: Auch die pflegenden Angehörigen haben die Möglichkeit einer regulären Anstellung, die sozialversichert ist und einem Kollektivvertrag unterliegt. Diese Anstellung kann wie z.B. in skandinavischen Ländern bei der Gemeinde und bei Pflegeverbänden erfolgen. Also Schluss mit prekären Arbeitsverhältnissen und Schundlöhnen im Pflegebereich!
Ist das finanzierbar?
Österreich gibt derzeit rd. 1,6% des Bruttoinlandsprodukts aus öffentlichen Budgets für die Pflege aus. In Ländern wie Finnland oder Schweden sind es dagegen drei bis vier Prozent. Um das Niveau skandinavischer Länder zu erreichen, brauchen wir also rund eine Verdoppelung der öffentlichen Pflegeausgaben, das wäre ein Plus von fünf bis sechs Milliarden Euro für die Pflege.
Ist das finanzierbar? Natürlich, es ist eine Frage der Prioritäten. Die Summe, die wir für eine gute Pflege zusätzlich brauchen, kommt schon in die Nähe dessen, was die Regierung mittelfristig Jahr für Jahr zusätzlich (!) für die Erhöhung des Militärbudgets ausgeben will bzw. muss, um die Kriterien des EU-Aufrüstungspaktes „Ständig Strukturierte Zusammenarbeit“ (EU-SSZ/Pesco) zu erfüllen. Ist es nicht vernünftiger, das Geld für Pflege und Gesundheit statt für Kampfbomber und das Mitmarschieren bei der Schnellen EU-Eingreiftruppe auszugeben?
Durch ein solidarisches Versicherungssystem, das sich aus der gesamte Wertschöpfung finanziert, kann die steigende industrielle Produktivität in einen Bereich umgelenkt werden, der die gesamte Gesellschaft reicher macht: Pflegewohlstand statt Pflegenotstand! Das muss natürlich mittelfristig auch mit einer Veränderung der Beschäftigtenstruktur verbunden sein. Laut einer Studie gibt es bis 2050 einen kumulierten Mehrbedarf von fast 200.000 Personen in der Pflege. Das erfordert tiefgreifende Umschichtungen. Der Automobilismus bindet nach wie vor rd. 350.000 Beschäftigten. Bei Umstellung auf eine ökologisch sinnvollere und viel effizientere öffentliche Mobilität kann innerhalb der kommenden Generation ein Gutteil des rund um die Autoindustrie gebundenen Arbeitskräftepotential schrittweise für Pflegebereich gewonnen werden. Das bringt einen doppelten Nutzen: Was ökologisch ohnehin geboten ist, schafft sozialen Mehrwert. Aus „Autoland“ wird „Pflegeland“.
Keine Lösung dagegen ist es, Pflegekräfte aus Ländern abzuwerben, die ohnehin ein noch viel schlechteres Pflege- und Gesundheitswesen als Österreich haben, um hierzulande Kosten einzusparen. So sollen z.B. verstärkt philippinische Pflegekräfte abgeworben werden. Das führt dazu, dass das 115 Millionen Einwohner Innen zählende Land bereits 51% qualifizierten Pflegekräfte (316.000 Personen) verloren hat. 106.000 Pflegekräfte fehlen im eigenen Land. In Österreich kommen 16 Pflegekräfte auf 1.000 EinwohnenInnen, auf den Philippinen sind es 2,7. Dieser Braindrain ist keine Lösung.
Warum nicht über Vermögenssteuern finanzieren?
Die Solidarwerkstatt hält eine höhere Besteuerung von Großvermögen, die Wiedereinführung der Erbschaftssteuer usw. für sehr sinnvoll. Aber zur Finanzierung laufender Sozialstaatsausgaben wie der Pflege taugen Vermögenssteuern aus unserer Sicht nicht: nicht nur, weil die Erträge aus diesen Steuern zu gering und zu volatil sind. Es gibt tiefer liegende Gründe: Wir halten die Explosion großer Vermögen für eine gesellschaftliche Fehlentwicklung. Würde man diese Vermögen zur Finanzierungsgrundlage des Sozialstaats machen, müsste man diese Fehlentwicklung jedoch dauerhaft hegen und pflegen, um sich Pflege, Gesundheit, Bildung usw. leisten zu können. Wir müssten also ständig bedacht sein, dass die Reichen immer reicher werden, damit genügend für den Sozialstaat abfällt. Das halten wir für falsch. Diese aberwitzige Vermögenskonzentration bei ganz wenigen gehört nicht gehegt und gepflegt, sondern schlicht beseitigt: durch Ausweitung von öffentlichem Eigentum, Zurückdrängen des neoliberalen Freihandels, höhere Spitzensteuersätze. Und auch durch die Vermögenssteuern. Deren Erfolg bemisst sich aber daran, dass die Erträge daraus zurückgehen – als Ausdruck dessen, dass es gelungen ist, ein Übel – die exzessive Ungleichheit in der Gesellschaft - zurückzudrängen.