Die Solidarwerkstatt tritt dafür ein, Pflege in die Sozialversicherung zu integrieren, d.h.: Anspruch auf bedarfsgerechte Leistungen für jede/n, finanziert durch wertschöpfungsbezogene Abgaben.


Als wesentlichen Grund für diese Missstände im Pflegebereich nannte der stellvertretende Vorsitzende der Gewerkschaft vida, Willibald Steinkellner: „Personalmangel, Überlastung, Spardiktat, Scheinselbstständigkeit bei der 24-Stunden-Betreuung“ (Standard, 4.5.2017). Steinkellner nannte auch die Lösung: „Mehr Geld und mehr Personal!“ Doch genau daran mangelt es.

Seit 2009 gehen die realen Pflegeausgaben pro Kopf der über 75-Jährigen zurück (sh. Grafik). Hintergrund dafür ist nicht zuletzt die rigide Sparpolitik, die seit 2010/12 über den EU-Fiskalpakt und andere EU-Verordnungen oktroyiert wird. Österreich wurde 2013 von der EU-Kommission erst dann aus dem „Defizitverfahren“ entlassen, als die Regierung die „Deckelung“ der Gesundheitsausgaben beschloss. Seither sind die realen Pflegeausgaben pro Kopf der über 75-Jährigen in Österreich um 10 Prozent gesunken.
In Österreich dominiert in der Pflege das Geldleistungsprinzip. Pflegebedürftige bekommen in erster Linie Geld, um die notwendige Pflege am Markt einzukaufen bzw. in der Familie zu organisieren. Die Folge ist eine Zwei-Klassen-Pflege. Denn das Pflegegeld reicht hinten und vorne nicht. Bereits im Jahr 2006 kritisierte der Rechnungshof, dass das Pflegegeld, das die Hilfsbedürftigen erhalten, nur zwischen 9% und 26% der realen Pflegekosten abdeckt. Die Situation ist seither wohl nicht besser geworden. Zwischen 1993 und 2014 hat – aufgrund von Nichtanpassung an die Inflation – die Kaufkraft des Pflegegeldes um 25% abgenommen. Wer genug Geld hat, kann sich gute Pflege zukaufen, wer nicht, für den bzw. dessen Angehörige wird Pflege zum Armutsrisiko. Prekäre und ausbeuterische Arbeitsbedingungen breiten sich aus, familiäre Netzwerke geraten enorm unter Druck.

Die Solidarwerkstatt tritt deshalb dafür ein, dass das österreichische Pflegesystem endlich grundlegend reformiert wird, um den derzeitigen Pflegenotstand zu beenden. Ein neues Pflegesystem sollte auf zwei Pfeiler beruhen:

  1. Einbindung der Pflege in eine reformierte Sozialversicherung!
    Wie bei der sozialen Krankenversicherung soll jeder und jede entsprechend seiner/ihrer Möglichkeiten einbezahlen. Und dafür soll jeder und jede - wie bei Krankheit oder Unfall - auch im Pflegefall Anspruch auf qualitativ hochstehende Pflegeleistungen entsprechend des Bedarfs haben - unabhängig vom jeweiligen Einkommen! Um die Finanzierung und ein lückenloses und hohes Versorgungsniveau zu gewährleisten, braucht es eine begleitende Reform der Sozialversicherung: Ausdehnung der Finanzierungsgrundlage auf die gesamte Wertschöpfung (einschließlich Gewinne und Abschreibungen), An- bzw. Aufhebung der Höchstbeitragsgrundlage, Lückenschluss bei der Einbeziehung in die Sozialversicherung, Demokratisierung der Organisation.
  2. Rechtsanspruch für alle auf bedarfsorientierte Pflegeleistungen!
    Jeder und jede soll Anspruch auf die bedarfsorientierte Pflegeleistung (Sachleistungsprinzip) anstelle der bisherigen Geldleistungen (Pflegegeld) haben, die oft nicht ausreichen und daher immer wieder zu Armutsgefährdung, Überlastungen in den Familien, v.a. von Frauen, und zu prekären Arbeitsverhältnissen führen. Durch Rechtsanspruch auf bedarfsorientierte Leistungen soll eine treffsichere, den gesamten Bedarf umfassende Pflege gewährleistet und die pflegenden Angehörigen entlastet werden. Die Wahlfreiheit der pflegebedürftigen Person bleibt erhalten. Pflegenden Angehörigen soll – wie z.B. in skandinavischen Ländern - die Möglichkeit einer sozialversicherten Anstellung bei den Gemeinden bzw. Pflegeverbänden eröffnet werden, um prekäre Arbeitsverhältnisse zu vermeiden. Damit könnte auch die Persönliche Assistenz, die für Menschen mit Beeinträchtigung ein selbstbestimmtes Leben ermöglicht, endlich finanziell abgesichert werden.

Ist das finanzierbar?

In Österreich, wo Pflege vor allem über Markt bzw. Familie organisiert wird und das Geldleistungsprinzip dominiert, werden von Bund, Ländern und Gemeinden rund 1,6% des Bruttoinlandsprodukts für die Langzeitpflege ausgegeben. Die Folge ist eine Zwei-Klassen-Pflege und ein Pflegenotstand, der immer mehr Pflegebedürftige bzw. ihre Familien in die Verzweiflung treibt. In skandinavischen Ländern, wo die Pflege vor allem öffentlich organisiert ist und das Sachleistungsprinzip vorherrscht, wird mehr als das Doppelte für die Pflege ausgegeben, z.B. Schweden 3,5% und Finnland 4%. Die Folge: Ein Pflegesystem, das allen gute Pflegeleistungen entsprechend ihrem Bedarf sichert und die Familien, insbesondere die Frauen, entlastet und gut bezahlte Arbeitsplätze im Pflegesektor schafft.
Wollen wir das erreichen, brauchen wir also zumindest eine Verdoppelung des BIP-Anteils für die Pflege. Das wären rund 5 Milliarden zusätzlich. Zum Vergleich: 2015 wurde das mehr als 6-Fache dieser Summe an Dividendenausschüttungen und Gewinnentnahmen getätigt. Organisiert über eine solidarische Pflegeversicherung, die sich an der gesamten gesellschaftlichen Wertschöpfung (also auch Gewinnen und Abschreibungen) bemisst, würde das für DurchschnittsverdienerInnen monatliche Zusatzkosten von rd. 30 bis 35 Euro bedeuten. Als Gegenleistung erhalten wir den Rechtsanspruch darauf, dass im Alter bzw. im Bedarfsfall für uns bzw. unsere Angehörigen gute, öffentlich finanzierte Pflegeleistungen abgesichert sind. Das wäre doch ein Thema für eine Volksabstimmung.

Warum Sozialversicherung und nicht Vermögensbesteuerung?

Vorneweg: Die Solidarwerkstatt hält eine höhere Besteuerung von Großvermögen, die Wiedereinführung der Erbschaftssteuer usw. für sehr sinnvoll. Aber zur Finanzierung laufender Sozialstaatsausgaben wie der Pflege taugen Vermögenssteuern aus unserer Sicht nicht: nicht nur, weil die Erträge aus diesen Steuern zu gering und zu volatil sind. Es gibt noch tiefer liegende Gründe: Die exorbitante Explosion großer Vermögen ist eine völlige gesellschaftliche Fehlentwicklung, die durch das neoliberale Konkurrenzregime immer weiter auf die Spitze getrieben wird. Würde man diese Vermögen zur Finanzierungsgrundlage des Sozialstaats machen, müsste man diese Fehlentwicklung jedoch dauerhaft hegen und pflegen, um sich Pflege, Gesundheit, Bildung usw. leisten zu können. Wir müssten also ständig bedacht sein, dass die Reichen immer reicher werden, damit genügend für den Sozialstaat abfällt. Das halten wir für grundfalsch. Diese exorbitante Vermögenskonzentration gehört nicht gehegt und gepflegt, sondern schlicht beseitigt: durch Ausweitung von öffentlichem Eigentum bzw. Rücknahme von Privatisierungen, Rückgewinnung der Regulierung über die Waren-, Güter- und Arbeitsmärkte, hohe Spitzensteuersätze. Und auch durch die Besteuerung großer Vermögen. Deren Erfolg bemisst sich aber daran, dass die Erträge daraus zurückgehen – als Ausdruck dessen, dass es gelungen ist, ein Übel – die exzessive Ungleichheit in der Gesellschaft - zurückzudrängen. Grundlage eines solide finanzierten Sozialstaats kann daher nicht ein zu beseitigendes gesellschaftliches Übel, sondern nur die gesamte wirtschaftliche Wertschöpfung sein.

Siehe auch: Pflegenotstand in Österreich