Neben Krankheit, Unfällen, Alter und Arbeitslosigkeit sollte die Pflege als fünfte Säule in die Sozialversicherung eingeführt werden. Mit diesem Vorschlag ließ Altkanzler Kurz (ÖVP) vor wenigen Wochen aufhorchen. Ist aus dem industrieaffinen Rechtsliberalen ein linker Protagonist eines Solidarstaats geworden?

Dem aufmerksamen Beobachter wird nicht entgangen sein, dass aus ÖVP Kreisen schon mehrfach dieser Vorschlag lanciert wurde. Dafür gibt es einen guten Grund. Es sind die BürgermeisterInnen, die sich tagtäglich mit dem desolaten und chaotischen Pflegesystem herumschlagen müssen. Und die sind zu 80% schwarz. Im Einzelnen weist der Kurz-Vorschlag eine Reihe von Unzulänglichkeiten auf: Warum in der AUVA? Wie sollen die tatsächlich notwendigen an die 10 Mrd Eur (lt. WIFO rel. stabil über die Zeit 2,5% d. BIP, davon dzt. 1,25%  Bund, Länder, Gemeinden) mobilisiert werden. Aber der Bub ist lernfähig. Immerhin hat er sich vom Plan zur Senkung des AUVA-Beitrags um 0,5% des Bruttolohns verabschiedet. Immerhin hat er das deutsche Modell einer Pflichtversicherung (auch ein neoliberaler Schwachsinn) versenkt. Von allen anderen Parteien, von ÖGB bis zur Industriellenvereinigung wird der Vorschlag jedoch abgelehnt, ohne dass irgendwelche überzeugenden Alternativvorschläge präsentiert werden. Das ist so als hätte jemand vor 75 Jahren die Alliierten gefragt, warum sie in der Normandie landen, wenn es doch darum ginge Nazideutschland niederzuwerfen.

3,653 Mrd Euro Eigenleistungen der privaten Haushalte

Laut einer Studie des WIFO aus dem Jahr 2016 betrugen die Eigenleistungen der privaten Haushalte für die Pflege im Jahr 2014 Eur 3,653,- Mrd. „Familienangehörige und Bekannte von Pflegebedürftigen wenden neben Geldleistungen vor allem Zeit für Pflege auf. Eine Umfrage des Sozialministeriums zeigt, dass für den überwiegenden Teil der Pflegegeldbezieher (81%) ihre Familienangehörigen die Hauptperson sind, von der sie Pflegeleitungen bekommen.“ 1)

Bezeichnend ist, dass im Plan der SPÖ (PK 24.6.2019) das überhaupt nicht berücksichtigt wird. So soll der großspurig verkündete Pflegegarantiefonds mit maximal Eur 6 Mrd. Eur dotiert werden. Allenfalls werden pflegende Angehörige mit der Forderung nach „Pflegekarenz und Pflegeteilzeit“ verhöhnt.

Pflegegeld – eine neoliberale Erfindung

Das Pflegegeld wurde 1994 unter einem sozialdemokratischen Sozialminister eingeführt und ist Ausfluss einer prototypischen neoliberalen Idee. Im Angesicht der empirischen Tatsache, dass der Markt nicht alles regelt, in seine segensreiche Wirkungen dennoch möglichst wenig eingegriffen werden soll, bekommen Pflegebedürftige Pflegegeld. Garniert wurde die Einführung mit der tollen Wahlfreiheit, die diese Form des Sozialstaats den Betroffenen einräumt. Nach den Phantasien der Marktgläubigen, z. B. in der EU-Kommission, sollte das Beispiel Schule machen und auf andere Bereiche (Wohnen, Gesundheit, Bildung) ausgedehnt werden. Allein das absurde Chaos, das dieses System bewirkt hat, hat dies bisher verhindert. Nimmt man den zur Festlegung der Pflegestufen angegebenen Stundenbedarf und setzt in Relation zum Pflegegeld kommt man auf Stundensätze zwischen Eur 2,42 (Pflegestufe 1) und Eur 9,38 (Stufe 7). D. h. nicht einmal die Fahrtkosten professionellen Pflegepersonals können damit ersetzt werden. Daran ändert auch die jüngst Allparteieneinigung über eine Dynamisierung des Pflegegeldes nichts.

 Lichtblick Doskozil

Vor wenigen Wochen ist der sozialdemokratische Landeshauptmann des Burgenlands mit einem zukunftsweisenden Vorschlag vorgeprescht. Er ist Praxis in skandinavischen Ländern und findet sich auch im Aktionsprogramm der Solidarwerkstatt Österreich: Pflegende Familienangehörige sollen angestellt werden. In Dänemark geschieht das über die Gemeinden. Freilich sind aber auch andere Lösungen denkbar. Das wäre ein wichtiger Schritt um prekäre Ausbeutungsarbeitsverhältnisse osteuropäischer Pflegekräfte zu beenden und auch ein wichtiger Beitrag gegen Altersarmut pflegender Familienangehöriger, die dadurch Beitragszeiten in der Pensionsversicherung erwerben würden. 

Millionärssteuer

ÖGB und AK wettern gegen die Einbeziehung der Pflege in die Sozialversicherung und fürchten gemeinsam mit der Industriellenvereinigung eine Erhöhung der Lohnnebenkosten. Wir wir schon mehrfach herausgearbeitet haben gibt es keine Lohnnebenkosten. Sie sind ein reiner politischer Kampfbegriff der exportorientierten Industrie. Damit soll das Lohnniveau gesenkt werden, ohne dass die Arbeitenden unmittelbar etwas merken. Nun gibt es einen guten Grund für die Einführung z. B. einer Erbschaftssteuer: Gerechtigkeit. Erbschaften sind leistungslose Einkommen und es gibt keinen Grund, warum sie unversteuert bleiben sollen. Es ist aber völlig unsinnig damit die Pflegeleistungen zu finanzieren. Bildung, Krankenfürsorge, Pensionen werden auch aus der Wertschöpfung finanziert, weil sie laufend zu leisten sind und damit laufend erarbeitet werden müssen. Erbschaftssteuern wären z. B. gut geeignet um Fonds für den sozialen Wohnbau zu füllen.

Primärverteilung und Sekundärverteilung

Mit Primärverteilung bezeichnet man grob gesagt die Verteilung zwischen Löhnen und Gewinnen vor Steuern und Transferleistungen des Staates; Sekundärverteilung folgerichtig nach diesen. Der aufmerksame Beobachter des Zeitgeschehens kann sich des Eindrucks nicht verschließen, dass die Forderung nach einer Millionärssteuer zum letzten Fetisch linker Politik geworden ist, die Liberale bis zu linken Radikalinskis vereint. Auffallend dabei: Kaum jemand stellt die Frage, warum sich die Primärverteilung in den letzten Jahrzehnten so ungünstig für die Arbeitenden entwickelt hat und die Reichen immer reicher werden. Ein Blick in die Statistik zeigt: es sind die segensreichen Wirkungen des EU-Binnenmarkts, die die Position der Arbeitenden nachhaltig geschwächt haben. Wer Millionärssteuern fordert und damit unverzichtbare öffentliche Leistungen finanzieren will, will eigentlich daran nichts ändern. (sh. A. Reiterer, Symposium wir sind GKK).

Sozialversicherungsreform sofort aussetzen

Der grüne Bundesrat, David Stögmüller, hat initiiert, dass der Bundesrat einen Antrag in den Nationalrat zur Aussetzung der türkis-blauen Kassenreform einbringen wird. (OÖN,21.9.2019) Der Vorstoß von Altkanzler Kurz zur Einbeziehung der Pflege in die Sozialversicherung ist weiteres gutes Argument dafür. Dafür sollte sofort kampagnisiert und mobilisiert werden.

Pflege muss ein fixer Bestandteil der Solidarversicherung sein!
  • Wir wollen keine Zwei-Klassen-Pflege! Jeder und jede soll entsprechend seiner/ihrer Möglichkeiten einbezahlen. Und dafür soll jeder und jede – wie bei Krankheit oder Unfall – auch im Pflegefall Anspruch auf qualitativ hochstehende Pflegeleistungen entsprechend des Bedarfs haben – unabhängig vom jeweiligen Einkommen!
  • Sachleistungsprinzip anstelle der bisherigen Geldleistungen (Pflegegeld), die oft nicht ausreichen und daher immer wieder zu Armutsgefährdung, Überlastungen in den Familien, v.a. von Frauen, und zu prekären Arbeitsverhältnissen führen. Durch Rechtsanspruch auf bedarfsorientierte Leistungen soll eine treffsichere, den gesamten Bedarf umfassende Pflege gewährleistet und die pflegenden Angehörigen entlastet werden. Die Wahlfreiheit der pflegebedürftigen Person bleibt erhalten. Pflegenden Angehörigen soll – wie z. B. in skandinavischen Ländern 
  • die Möglichkeit einer sozialversicherten Anstellung bei den Gemeinden bzw. Pflegeverbänden eröffnet werden, um prekäre Arbeitsverhältnisse zu vermeiden.

    (aus dem Aktionsprogramm der Solidarwerkstatt Österreich – Soziales – Wirtschaft – Umwelt, beschlossen bei der ao. Vollversammlung am 1.7.2018)
Wahlen und Pflegemisere

Für wen das Ende der Pflegemisere ein Kriterium für die Entscheidung bei der kommenden Nationalratswahl ist, muss zum Schluss kommen: Wen immer er wählt, ob und wie das Ende des neoliberalen Chaos bei der Pflege damit eingeleitet wird, lässt sich nicht ergründen. Was sich mit Sicherheit sagen lässt: Die Solidarwerkstatt hat ein Programm für einen Solidarstaat und mit dem Personenkomitee „Selbstbestimmtes Österreich“ haben wir ein Instrument um für seine Durchsetzung bei der nächsten Regierungsbildung zu mobilisieren.

Boris Lechthaler
(Juli 2019)

Siehe dazu auch das neue Faltblatt der Solidarwerkstatt
Pflegewohlstand statt Pflegenotstand - Pflege in die Sozialversicherung!
 

Quellen:
(1)    Thomas Url, Langfristige Prognose des Aufwands für Langzeitpflege, WIFO, Mai 2016)