ImageDurch die rasante Umverteilung von Arbeit zu Kapital seit Mitte der 90er Jahre ist den sozialen Kassen das Vielfache dessen entgangen, was jetzt zur Entschuldung notwendig ist. Die Werkstatt fordert in einem Offenen Brief an Bundeskanzler Faymann, Finanzminister Pröll und Gesundheitsminister Stöger die unverzügliche Entschuldung der Krankenkassen, die Ausweitung des Leistungskatalogs und die Umstellung der Sozialversicherung auf eine nachhaltige Finanzierungsgrundlage.



Werkstatt Frieden&Solidarität
Waltherstr. 15
4020 Linz
 
An
Bundeskanzler Werner Faymann
Vizekanzler BM f. Finanzen Dr. Josef Pröll
BM f. Gesundheit Alois Stöger

Österreich im Oktober 2009
 
Offener Brief
Für die sofortige Entschuldung der Krankenkassen

 
Sehr geehrter Herr Bundeskanzler Faymann,
Sehr geehrter Herr Vizekanzler Pröll,
Sehr geehrter Herr Minister Stöger,
 
2008 scheiterte die Bundesregierung mit dem Versuch, die Selbstverwaltung der sozialen Krankenkassen  und die kooperative Struktur bei der Erbringung von Gesundheitsleistungen auszuhebeln. Es drohte die Einführung einer Zwei-Klassen-Medizin. Der gemeinsame Widerstand von Menschen aus verschiedensten Bereichen hat diese Pläne vorläufig gestoppt. Viele Menschen verbanden mit der Bildung der neuen, Ihrer, Bundesregierung die Hoffnung, dass diese Pläne endgültig ad acta gelegt und die Weichen in Richtung Ausbau der sozialen Sicherheit und deren nachhaltigen Finanzierung gestellt werden. Nunmehr müssen wir feststellen, dass die Entschuldung der Krankenkassen seit Monaten verzögert und an immer neue Einsparungsziele gekoppelt wird, ohne dass gesagt wird, woher sich diese Einsparungen speisen sollen. Wir sehen uns gezwungen, hinter dieser Hinhaltepolitik das insgeheime Festhalten an den alten Zielen der alten Bundesregierung zu vermuten.
 
Wir fordern deshalb die sofortige Entschuldung der Krankenkassen. 1,2 Mrd. EUR für die Krankenkassen sind weniger als jener Betrag, der den Krankenkassen durch die Politik Ihrer Vorgängerregierungen bewusst entzogen wurde.
- Wäre der Anteil der unselbständig Erwerbstätigen an der Wertschöpfung nicht gesunken, sondern gleich geblieben, wäre für die Kassen der vierfache Betrag verfügbar.
- Zusätzlich wurden durch gesetzliche Maßnahmen und willkürliche politische Entscheidungen hunderte Millionen EUR an Belastung aus dem Bundesbudget raus und in die Kassenbudgets reingeschrieben. Das muss ausgeglichen werden.
 
Freilich ist es notwendig, beständig die effiziente Verwaltung der sozialen Kassen und eine möglichst kostensparende Leistungserbringung im Auge zu behalten. Nutzen Sie die gemeinsam mit den Sozialversicherungsträgern und der Ärztekammer erarbeiteten Sparpotentiale für die Erweiterung des Leistungskatalogs der sozialen Kassen für die Menschen. In diesem Sinne fordern wir
- die Einbeziehung der Pflege pflegebedürftiger Menschen in die Sozialversicherung
- die Ausdehnung des Leistungskatalogs der Krankenkassen (Senkung der Selbstbehalte, Hilfe bei Sehhilfen, Zahnersätzen, orthopädischen Hilfen, psychotherapeutische Hilfen, etc.)
- eine Versicherungslösung für die Entgeltfortzahlung im Krankheits- und Unfallfall zur Entlastung und für Planungssicherheit der Klein- und Mittelbetriebe.

 
Wir erleben zur Zeit die schwerste Wirtschaftskrise seit der großen Depression vor dem II. Weltkrieg. Die Wirtschafts- und Sozialpolitik der vergangenen Jahre, insbesondere seit dem EU-Beitritt Österreichs, hat unseres Erachtens wesentlich zur Tiefe der Krise beigetragen. Die Einkommen des untersten Viertels der Erwerbstätigen sind real dramatisch gesunken, die Realeinkommen des mittleren Bereichs stagnieren. Weit überproportional steigende Gewinne insbesondere der börsenotierten Unternehmen führten nicht zu einer steigenden Investitionsnachfrage, sondern zu explodierenden Gewinnausschüttungen, Kapitalexport, Spekulation und Luxuskonsum. Das parareligiöse Dogma vom „Schlanken Staat“ hat wesentlich zur Destabilisierung beigetragen. Die Einnahmen des Staates, der Gemeinden und sozialen Kassen wurden systematisch zur Begünstigung von Gewinnen und Spitzeneinkommen untergraben. Staats- und Sozialausgaben wurden nachhaltig reduziert.  Wachsende Exporte wurden zur einzigen Stütze der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage – mit fatalen Folgen in der Krise. Bei Budgetdefizit und Staatsverschuldung sind wir wieder am Anfang. Dort wo der beschwerliche Weg in Richtung Verschlankung des Staates verkündet wurde.  Die bereits andiskutierte Erhöhung der Mehrwertsteuer würde wieder die unteren Einkommensgruppen überproportional mit den Kosten der Krise belasten 
 
Breite Teilhabe am wirtschaftlichen Erfolg durch gerechte Einkommensverteilung, der Ausbau öffentlicher Leistungen und deren nachhaltige Finanzierung sind, wie sich jetzt zeigt, unabdingbar für eine moderne Gesellschaft, die sich auf effiziente Güterproduktion und vielfältige Dienstleistungen stützt. Wir können nicht erkennen, dass Sie diese Lehre aus der Wirtschaftskrise gezogen haben. Beenden Sie deshalb die Irrlehre von der ausgabenseitigen Sanierung der Staatsfinanzen im Allgemeinen und der Gesundheitsbudgets im Besonderen.
 
Unser Sozialversicherungssystem ist nachhaltig finanzierbar, wenn wir dafür sorgen, dass
- der Anteil der abhängig Beschäftigten am wirtschaftlichen Ergebnis (Lohnquote) wieder auf das Niveau vor dem EU-Beitritt Österreichs zurückgeführt wird.
- die gesamte Wertschöpfung in die Finanzierung des Sozialsystems einbezogen wird.
- die Höchstbemessungsgrundlage deutlich angehoben wird.

 
Ihre Hinhaltetaktik bei der Entschuldung der sozialen Krankenkassen ist – gewollt oder ungewollt – ein Beitrag zur Destruktion des Vertrauens insbesondere der jüngeren Menschen in die nachhaltige Finanzierbarkeit unseres sozialen Sicherungssystems. Die beständige Propaganda von der Überalterung, der Kostenexplosion im Gesundheitswesen vermitteln den jüngeren Menschen den Eindruck, sie müssten ein System finanzieren, dessen Leistungen für sie nicht mehr oder nur mehr eingeschränkt zur Verfügung stehen werde. Die Leistungsfähigkeit unserer Volkswirtschaft ist das wesentliche wirtschaftliche Fundament für unser System der sozialen Sicherheit. Das Vertrauen in die gesamtgesellschaftliche Solidarität ist das wesentliche politische Fundament. Es darf nicht zerstört werden. Geben Sie gerade den jüngeren Menschen jene Sicherheit zurück, die sie für ihre Entfaltung benötigen, die wir für die nachhaltige Weiterentwicklung unserer Volkswirtschaft benötigen. Unser solidarisches System der sozialen Sicherheit gehört zum Wertvollsten, über das unsere Gesellschaft verfügt.
 
Vorstand der Werkstatt Frieden & Solidarität