ImageIn seinem neuen Buch “Steckbrief Gesamtschule” (Böhlau, 2009) bricht der langjährige Pädagoge Univ. Prof. Dr.  Rupert Vierlinger eine Lanze für die “echte Gesamtschule”, die auf die Selektion der Zehn- bis Vierzehnjährigen verzichtet. Wir bringen seine zentralen Thesen.

                                  


Abgrenzung zur "Neuen Mittelschule"

Das Markenzeichen der echten Gesamtschule ist der Verzicht auf die Selektion der zehnjährigen Schüler auf niveauverschiedene Schultypen und Leistungsgruppen! Die Neue Mittelschule verzichtet aber nicht auf die Sortierung der Zehnjährigen in Gymnasiasten und Hauptschüler (bzw. Neue Mittelschüler) und ist daher keine Gesamtschule! Frau Minister Schmied hat den Begriff NM ursprünglich synonym für Gesamtschule verwendet, aber in der politischen Kontroverse wurde aus dem Begriff eine Metapher für die Sanierung der Hauptschule. Diese bekommt cum grano salis die Ressourcen zurück, die ihr Frau Minister Gehrer genommen hat. Der Gewinn dieser – gegenüber der Gesamtschule sehr teuren Variante der Hauptschule - liegt in der Anreicherung des didaktischen Angebots und der Personalausstattung. Dem steht die Gefahr gegenüber, dass das traditionelle Stufungsmodell (gegliedertes System) zementiert und die österreichische Sekundarstufe I aufs Neue von der pädagogisch wünschenswerten Schulentwicklung abgehängt wird. Darüber hinaus wird die Konfusion der Bevölkerung in der Schulfrage verstärkt und die Bereitschaft zur Veränderung vermindert.

Kindgerechte Erklärung der Gesamtschule

Die Organisation einer Gesamtschule wird als sehr kompliziert kolportiert (vgl. „zehnjährige Baustelle“). In Wahrheit ist sie aber so einfach, dass Sie jeder Abschlussklasse der Volksschule mit wenigen Sätzen erklärt werden kann: “Nach den Sommerferien kommt ihr wieder, und zwar genau in der Zusammensetzung, in der ihr jetzt die Volksschule verlässt. Weil ihr so tüchtig geworden seid, dass eine einzige Lehrkraft nicht mehr alle Gegenstände unterrichten kann, werdet ihr Fachlehrer bekommen, nicht zu viele am Anfang, aber doch. Einige dieser Lehrer werden vom Gymnasium kommen, die anderen von der Hauptschule. Eines der beiden Gebäude wird eure neue Schule beherbergen und Gesamtschule heißen. Über einen Vorteil der neuen Schule werdet ihr euch besonders freuen können: Kein Schüler,  muss euch verlassen, weil er sich ein wenig schwer tut beim Lernen und keine Mitschülerin verlässt euch, deren Tüchtigkeit ihr bisher bewundert habt."

 

Acht Thesen für eine echte Gesamtschule 

1) Jede schulische Selektion – je früher sie stattfindet, desto mehr – ist in hohem Maße falsch und höchst ungerecht!
Mindestens jeder dritte Schüler des Zweiten Zuges der seinerzeitigen Hauptschule hätte auch im Ersten Zug sitzen können. Gleiches gilt heute für die Zuordnung zu den drei Leistungsgruppen der Neuen Hauptschule und selbstverständlich auch für die Populationen der Hauptschule einerseits und des Gymnasiums andererseits. Der Hinweis, dass der Abgewiesene später immer noch die Möglichkeit habe, zu den im Lotteriespiel der Auslese  Bevorzugten aufzuschließen, ist ein grobschlächtiges Argument: Wer als Zehnjähriger vom Mainstream abgehängt worden ist und sich durch vier Jahre abgewertet gefühlt hat, muss/müsste dann zu besonderen Anstrengungen fähig sein, um mit denjenigen gleichzuziehen, die vom Zufall begünstigt worden sind. 

2) „Unerwünscht zu sein“, hat Mutter Teresa, der Engel von Kalkutta, als die „schwerste Krankheit“ bezeichnet, „die man einem Menschen zufügen kann“.
Das gegliederte, das gestufte Schulsystem in der zweiten Hälfte der Pflichtschulzeit konfrontiert viele Schüler mit einem Syndrom von Ausgrenzungserlebnissen. Einige müssen erfahren, dass sie am Gymnasium unterwünscht sind, andere – in vielen Fällen auch wieder dieselben – sind in einer höheren Leistungsgruppe unerwünscht. Manchen Schülern sagt die Schule sogar, dass sie bei den Mitschülern in der aufsteigenden Klasse unerwünscht sind. Ein Auslesesystem muss sich vor Augen halten, dass es eine Unterschicht produziert, die dem Gemeinwesen gefährlich werden kann. Jeder braucht eine Gemeinschaft, die ihm Anerkennung gibt! Statt ein identitätsloser Niemand zu sein, sucht mancher Ausgegrenzte lieber Unterschlupf bei „falschen Freunden“ und wird Mitglied einer delinquenten Subgruppe. Um nicht wieder als unerwünscht verstoßen zu werden, muss er deren Normen anerkennen und danach handeln... Das kann für die Gesellschaft teuer werden; das Bemühen um Resozialisierung erst recht.

3) Ein Schulsystem welches das Bildungsgut als ein knappes Gut betrachtet, stößt die Schüler in einen scharfen Wettbewerb gegeneinander.
Wenn in den besseren Rängen der Schulwelt – wohlgemerkt in der noch pflichtigen Schulzeit – immer nur für einen Teil der Klientel Plätze vorhanden sind, kann keine hilfsbereite Gemeinschaft entstehen, höchstens eine Art Kameradschaft vor dem Feind. Ein Unterpfand für ein demokratisches Miteinander ist das nicht. Wenn sich die Schule an den Noten orientiert, kann man noch eine Erklärung für ihr abweisendes Verhalten finden: Die Sehrgut sind in der Tat ein knappes Gut. Wenn sie sich aber der Bildung verpflichtet weiß, dann gibt es kein Verständnis für ihre Schroffheit: Bildungsgüter stehen für jeden in unendlicher Zahl zur Verfügung. Wie kann dann das Schulsystem, wenn es in den Heranwachsenden eine Liebe zur Kultur reifen lassen möchte, Zuflucht zum Wettkampf nehmen? Sie widmet damit die Schulklasse um in einen „Hunderennplatz“ (F. Redl), statt dass sie wie die echte Gesamtschule ein Lernplatz sei, gefüllt mit gegenseitiger geistiger Anregung und Hilfe!                       

4) Wer seine persönliche Lerngeschichte vor seinem geistigen Auge Revue passieren lässt, wird auf Schritt und Tritt Vorbilder entdecken, an denen er sich orientiert und aufgerichtet hat.
Mit dem „Absahnen“ vieler tüchtiger Schüler in spezielle Riegen werden den schwachen Schülern die Vorbilder und deren unbezahlbare Anregungen geraubt. In den jeweils ausgelaugten Riegen fehlen also diejenigen, die zur Lösung eines mathematischen Problems flexible Vorschläge beisteuern, die in Englisch eine Diskussion befruchten können und deren Deutsch-Aufsätze sich wie spannende Geschichten anhören. Pestalozzi hat daran erinnert, dass Kinder „unendlich lieber“ und daher auch effektiver voneinander lernen als von den Erwachsenen. Warum nimmt das die Schulpolitik nicht zur Kenntnis? Im Pferch der Demotivierten sieht sich der desinteressierte Blick des Einen im desinteressierten Auge des Anderen in den Spiegel und das Ergebnis ist „null Bock“!  Das Mantra vom lebenslangen Lernen in den politischen Sonntagsreden bleibt für viele Schall und Rauch, wenn sich die Schulpolitik nicht vom Auslesesystem in der Sekundarstufe I trennen kann.

5) Die echte Gesamtschule ist ein ständiger Appell an das Selbstverständnis des Lehrers als eines Pädagogen, der nicht Gegenstände unterrichtet, sondern Kinder.
 Es ist nun freilich nicht so, dass die am überkommenen System festhaltenden Politiker keine Parteigänger unter den Lehrern hätten. Natürlich ist es für den Lehrer einfacher und bequemer, die Schüler in quasi homogene Blöcke sortieren zu dürfen, als die Methoden so weit zu variieren, dass sie der Heterogenität der Kinder gerecht werden. Viele Lehrer aber leiden unter dem Auslesesystem, das sie gleichsam immer wieder aus der pädagogischen Bahn wirft, das sie aus der Rolle des Trainers drängt und sie zwingt, in die Robe des Richters zu schlüpfen. Wenn die „geborene Lehrerin“ eine Schülerin entdeckt, die ihre Erklärung schlecht verstanden hat und wiederholt Fehler macht, fühlt sie sich als Pädagogin herausgefordert. Die geborene Lehrerin durchforstet ihr methodisches Repertoire, um der Schülerin mit neuen methodischen Strategien den Durchblick zu verschaffen. Im Grunde genommen versündigt sie sich mit diesem Vorgehen aber am Gesetz der gegliederten Schule: Wer Probleme hat ist offensichtlich falsch eingestuft worden; er gehört abgestuft oder hat die Schule zu verlassen. Das gegliederte System liefert bequemen Lehrern gleichsam ein Alibi, für innere (unterrichtliche) Differenzierung nicht weiter Sorge tragen zu müssen. Die echte Gesamtschule ist ein ständiger Appell an das Selbstverständnis des Lehrers als eines Pädagogen, der nicht Gegenstände unterrichtet, sondern Kinder.

6) Die Verteidiger des gegenwärtigen Organisationssystems der Sekundarstufe I unterstützen das im Grunde undemokratische „ständische“ Denken.
Es ist in Gesellschaften, die sich erst spät aus der feudalen Herrschaft befreit haben, nach wie vor auffallend häufig vorhanden, und das nicht nur in Spurenelementen. Manchen Kindern wird verboten, in der Freizeit mit denjenigen beisammen zu sein, deren Eltern arm, arbeitslos, Asylanten oder gar alkoholsüchtig sind. Oder es heißt: „Die von der Hauptschule sind kein Umgang für dich, da du doch ein Gymnasiast bist“.
Was man lernen soll, um es zu tun, kann man nur lernen, indem man es tut! Dieser Spruch des Aristoteles gilt ganz besonders auch für die Sozialerziehung der Jugend in unserer multikulturellen Welt. Auch die bei manchen Lehrern an Gymnasien und Hauptschulen latent bestehende Aversion gegenüber einer Zusammenarbeit in der Gesamtschule ist ein Hemmschuh für die Errichtung echter Gesamtschulen. Erst eine gemeinsame hochschulmäßige Ausbildung aller Lehrer der Sekundarstufe I wird die Barrieren beseitigen.
 
7) “Freiwilligkeit” der Gesamtschule wäre ein Widerspruch in sich.
Als demokratiepolitisch scheinbar unschlagbare Trumpfkarte spielen die Gegner der echten Gesamtschule die Freiwilligkeit aus: Sie soll höchstens als Angebotsschule bestehen dürfen.- Als ob sich unsere traditionellen Schulformen für die 6 – 14 Jährigen der Freiwilligkeit verschrieben hätten. Haben denn die Eltern ausgegrenzter Kinder das Recht, sich der Zuweisung ihres Kindes in eine niedrigere Leistungsgruppe zu widersetzen? Dürfen sie das Diktat des Repetierens boykottieren? Ist nicht die Gesamtschule namens Volksschule, seit sie vom Volk erkämpft worden ist, verpflichtend für alle? Es gibt nun einmal gesellschaftliche Leistungsbereiche, die keine Mixtur von Regelungen im Sinne des „sowohl als auch“ erlauben: Kein Staat kann sich gleichzeitig für die soziale Marktwirtschaft und für den neoliberalistischen kapitalistischen Markt entscheiden. So gibt es auch in keinem Land gleichzeitig die echte Gesamtschule und ein gegliedertes Schulwesen. Dies käme einem Widerspruch in sich.

8) Die Entfaltung der besten Begabungen leidet keinen Schaden - im Gegenteil!
1973 habe ich mit meinen Mitarbeitern an der Pädagogischen Akademie der Diözese Linz die Übungsschule für die neu installierte Ausbildung der Hauptschullehrer als echte Gesamtschule errichtet. Hätte ich auch nur den leisesten Zweifel an der kongenialen Entwicklung der geistigen Eliten an der gymnasialen Unterstufe und der Gesamtschule gehabt, ich hätte meine voll gymnasialreife zehnjährige Tochter Lydia nicht der neuen Schulidee „geopfert“. Meine Überzeugung stützte sich auf zahlreiche – bereits damals vorhandene - Daten aus der internationalen Schulforschung. Dabei ist zu sagen, dass die Didaktik der Heterogenität noch vielfach in den Kinderschuhen steckte und die besten Schüler dennoch keine Beeinträchtigungen erlitten hatten. Wie erst, wenn der Unterricht wie in modernen pädagogischen „Wallfahrer-Staaten“ (Finnland etc.) eine Hochform der inneren Differenzierung darstellt!
Im Hinblick auf die Siegerländer bei TIMSS, PISA und PIRLS, die durchwegs echte Gesamtschulen führen, wird von den Gegnern gewarnt, man möge nicht monokausal argumentieren und alle Vorzüge auf dem Konto der heterogenen Schülerzusammensetzung verbuchen. Wohl wahr! Es schlagen nämlich auch die ausgereifte Schulautonomie bei der Bestellung der Direktoren und Lehrer zu Buche und ebenso der weitgehende Verzicht auf Ziffernnoten. Mit der Einführung der echten Gesamtschule wird bei uns also der erste wesentliche Schritt getan sein, aber sicher nicht der letzte.