Wenn wir über Lehren aus der Coronakrise reden wollen, dürfen wir von der Pharmaindustrie nicht schweigen. Woran krankt die Gesundheitsindustrie – und was können sinnvolle Antworten sein?

Die weltweite Pharmaindustrie wird von privaten Großkonzernen dominiert: Pfizer, Novartis, La Roche, Johnson & Johnson, Sanofi, Bayer & Co machen gewaltige Umsätze. Die 20 größten Pharmaunternehmen erzielen knapp 40% des weltweiten Umsatzes in dieser Branche, der im Jahr 2018 bei 1,2 Billionen Dollar lag. Die Kritik an diesen Konzernen wächst. Und das zu Recht, denn gerade im Pharmabereich erleben wir aus mehreren Gründen (lebens-)bedrohliches „Marktversagen“.

Was nicht genug Profit bringt, wird nicht produziert

Das bestätigen Protagonisten dieser Branche selbst. So etwa der ehemalige Vorstandsvorsitzende des deutschen Pharmariesen Bayer Marijn Dekkers: „Wir müssen Geld verdienen mit unseren Produkten. Das führt dazu, dass nicht alle Medikamente entwickelt werden, die wir brauchen“ (1). Das zeigt sich besonders im Bereich von Viruserkrankungen. Die Entwicklung von Medikamenten bzw. Impfstoffen gegen Epidemien, die vielleicht alle 10 bis 15 Jahre auftreten (vielleicht aber auch gar nicht), sind für die Pharmakonzerne wenig interessant. Zu gering ist die Aussicht auf eine stabile Rendite. So gab es nach den Corona-Epidemien 2002 (SARS-Covid) und 2012 (MERS-CoV) nur kurzzeitiges Interesse in der Pharmabranche an der Entwicklung von Impfstoffen, das jedoch bald versandete. Der Strukturbiologe Rolf Hilgenfelder, einer der weltweit führenden Experten für das Coronavirus, begründet das knapp und bündig: „Das ist kein Markt. Die Zahl der Fälle ist zu gering. Die Pharmaunternehmen sind nicht interessiert.“ (2) Möglicherweise wären wir einem wirksamen Coronaimpfstoff oder -Medikament heute sehr viel näher, wenn die Unternehmen damals über die Quartalsberichte an die Aktionäre hinausdenken hätten können und dürfen. Pharmaunternehmen zögerten selbst dann noch, in die Forschung einzusteigen, als COVID–19 bereits in China wütete. Denn neue Medikamente zu entwickeln, ist keine Frage von Wochen oder Monaten – sondern von Jahren. Die Angst der Konzerne: Bis ein wirksames Medikament fertig ist, könnte es zu spät sein. Das Geld war dann umsonst investiert, wenn der Ausbruch schon vorbei ist oder sich eine Herdenimmunität entwickelt hat. „Die Herstellung neuer Körpercremes ist für die großen Pharmakonzerne profitabler als die Suche nach einem Impfstoff, der die Menschheit vor der totalen Zerstörung schützt“, kritisiert der US-amerikanische Linksintellektuelle Noam Chomsky (3).

Heilung ist „kein nachhaltiges Geschäftsmodell“

Corona ist nur die Spitze des Eisbergs. Immer öfter schlagen die Antibiotika-Therapien nicht an, weil sich multiresistente Bakterienstämme entwickelt haben. Nach Befürchtungen von Gesundheitsämtern könnte das dazu führen, dass 2050 bereits jährlich zehn Millionen Menschen an antibiotikaresistenten Krankheitserregen sterben. Obwohl hier eine absehbare Katastrophe droht, haben sich die Pharmakonzerne immer stärker aus der Antibiotikaforschung zurückgezogen. Die private Pharmawirtschaft sieht zu wenig Marktpotenzial, um in die Erforschung neuer antibakterieller Wirkstoffe zu investieren. Der Grund dafür ist ähnlich wie bei Corona: Die meisten Menschen nehmen Antibiotika nur für eine sehr kurze Zeitspanne ein, bis die Infektion geheilt ist. Das verspricht wenig Profit. Interessanter sind chronische Erkrankungen, die eine dauerhafte Kundschaft bescheren. Diese vermeidbare, jährliche Katastrophe könnte real werden, weil es nicht profitabel genug ist, an einem pharmazeutischen Produkt zu forschen, es zu testen und herzustellen, wenn das Produkt für nur ein paar Wochen oder maximal Monate gekauft werden muss, um eine Infektion zu besiegen und zudem noch umso besser funktioniert, je weniger Menschen es nutzen.
Die Heilung von Menschen ist – ebenso wie die Vorbeugung - für private Unternehmen kein „nachhaltiges Geschäftsmodell“. Das behaupten nicht nur linke KritikerInnen, sondern auch ein umstürzlerischer Tendenzen völlig unverdächtiger Zeuge: Ein Analyst des Finanzkonzern Goldman-Sachs antwortet in einem Bericht aus dem Jahr 2018 auf die Frage „Ist das Heilen von Menschen ein nachhaltiges Geschäftsmodell?“ ebenso zutreffend wie zynisch: „Im Fall von Infektionskrankheiten verringert die Heilung bestehender Patienten auch die Zahl der Träger, die das Virus auf neue Patienten übertragen können. Wo die Zahl der Erkrankten dagegen stabil bleibt (wie z.B. bei Krebs), werfen Heilungsmöglichkeiten weniger Risiken für ein nachhaltiges Geschäftsmodell auf“ (4).

Extrem hohe Monopolpreise

Die Kostenstruktur des Pharmasektors begünstigt dieses „Marktversagen“: Die Ausgaben für Forschung und Entwicklung sind hoch und ziehen sich über Jahre, die variablen Kosten – also die Kosten pro Stück in der Produktion – sind dagegen zumeist sehr niedrig, die Grenzkosten gehen gegen Null. Unter diesen Bedingungen – so weiß selbst die Lehrbuchökonomie - kollabiert der Markt bzw. führt zu einem „natürlichen Monopol“. Um einen wirtschaftlichen Anreiz zu schaffen, wird daher einem Unternehmen, das ein neues Medikament auf den Markt bringt, ein Patentschutz von 20 bis 25 Jahren eingeräumt. In diesem Zeitraum hat das Unternehmen faktisch ein Monopol und kann entsprechend hohe Preise durchsetzen. Ein extremes Beispiel dafür sind die Medikamente Sovaldi und Harvoni, die 2016 zur Heilung von Hepatitis C auf den Markt kamen. Die österreichische Sozialversicherung vermerkt dazu: „Im Frühjahr 2016 kosten die Medikamente Sovaldi und Harvoni in Österreich für drei Monate 42.700 bzw. 47.900 EUR exkl. MwSt. Wie eine Studie der University of Liverpool zeigt, liegen die laufenden Produktionskosten des Sovaldi-Wirkstoffs zwischen 68 und 136 USD für das 12-Wochen-Programm einer Behandlung.“ (5)
Weltweit sind 80 Millionen Menschen an Hepatitis C erkrankt, doch aufgrund dieser exorbitanten Preise haben 90% von ihnen keine Chance auf Heilung. Das betrifft mittlerweile nicht mehr nur Länder der sog. 3. Welt. Selbst in einem Land wie Österreich, in dem über die soziale Krankenversicherung diese hohen Kosten solidarisch geschultert werden können, bekommen derzeit nur rund drei Viertel der Hepatitis-C-Erkrankten diese Heilmittel verschrieben (6). Der Rest muss warten, bis die Erkrankung entsprechend weit fortgeschritten ist. Absurd und inhuman.
Big Pharma zeigt sich auch höchst erfinderisch, die Phase der Monopolpreissetzung zu verlängern. Das reicht von Scheininnovationen bis hin zu Vereinbarungen mit anderen Unternehmen, um die Produktion von Generika - wirkstoffgleichen Kopien von Arzneimitteln, deren Patentschutz bereits abgelaufen ist – zu verhindern oder zu verzögern.

Traumhafte Gewinnmargen

Es sind nicht nur die hohen Forschungskosten, die die Preise nach oben treiben. Marktmacht und extensives Politlobbying ermöglichen es den Pharmafirmen auch, traumhafte Gewinnmargen durchzusetzen. So erzielten 2018 die 22 größten Pharmaunternehmen bei einem Gesamtumsatz von 461 Milliarden Euro einen EBIT (Gewinn vor Zinsen und Steuern) in der Höhe von über 150 Milliarden (7). Das entspricht einer EBIT-Marge (EBIT/Umsatz) von über 30%. Zum Vergleich: EBIT-Margen von 15% gelten bereits als ziemlich gut. Zwischen 2006 und 2015 gaben 18 Pharmafirmen in Summe 516 Milliarden USD für Aktienrückkäufe und Dividenden aus, jedoch nur 465 Milliarden für Forschung und Entwicklung (8).
Auch die Ausgaben für Marketing und Vertrieb schießen durch die Decke und übersteigen die für Forschung und Entwicklung oftmals. Johnson & Johnson gab 2013 war 8,18 Mrd. USD für Forschung und Entwicklung aus, für „Marketing und Vertrieb“ gleichzeitig 21,83 Mrd. USD (5). Für 2018 gab Novartis Forschungsausgaben in der Höhe von 9 Milliarden USD an, für Marketing und Vertrieb 12 Milliarden (9). Vielfach dienen diese Ausgaben dazu, einschlägige Vertriebskanäle zu ölen. So berichtet die konzernkritische NGO „Corporate Europe Observatory“ (CEO), dass in Frankreich zwischen 2012 und 2018 die „Gesundheitsprofessionellen“, die Arzneimittel verschreiben, 3,5 Milliarden Euro von Big Pharma erhielten (8).

Gut geölte Drehtür

Auch für Politlobbying fließt viel Geld. Mehr als 40 Millionen Euro gibt Big Pharma laut dem Transparenzregister jährlich für Lobbying bei der EU aus (10). Die inoffiziellen Schätzungen liegen weit darüber. Die Drehtür zwischen EU-Institutionen und Big Pharma ist gut geschmiert, wie man anhand der „Europäischen Arzneimittelagentur“ (EMA), die die wissenschaftliche Evaluierung, Überwachung und Sicherheitsüberprüfung von Medikamenten in der EU gewährleisten soll, erkennen kann. So arbeitete der heutige Leiter der EMA-Rechtsabteilung Stefano Marino vorher viele Jahre für die Pharmaindustrie. Seine Vorgänger bei der EMA, Vincenco Lavatore, wechselte gleichzeitig in die Gegenrichtung. Er heuerte bei einer Rechtsanwaltskanzlei an, die Pharmaunternehmen im Umgang mit EU-Regulationen berät. Von den 4010 ExpertInnen, die für die EMA arbeiten, haben fast ein Viertel (962) selbst deklariert, entweder direkt (537) oder indirekt (425) interessensmäßig mit der Pharmaindustrie verbunden zu sein (8).

 Öffentlichen Pharmasektor in Österreich aufbauen
– Gesundheitssouveränität stärken!

Wie können wir dieses vielfältige „Marktversagen“ im Arzneimittelbereich in den Griff bekommen? Eine Antwort ist naheliegend: Wir brauchen in Österreich einen starken öffentlichen Pharmasektor, engstens vernetzt mit der öffentlichen Forschungslandschaft. Auch das wird viel Geld kosten. Aber wir sichern damit ab, dass wir demokratischen Einfluss auf die Richtung von Gesundheitsforschung haben; dass Medikamente entwickelt werden, auch wenn diese sich kurzfristig nicht rentieren; dass niemand von Behandlung ausgeschlossen wird. Für einen Kleinstaat wie Österreich außerdem nicht unerheblich: Wir können dadurch ein hohes Maß an Souveränität in einem der gesellschaftlich bedeutsamsten Bereiche erlangen. Gesundheitssouveränität ist nicht weniger wichtig als Souveränität bei Ernährung oder Energie, wenn man nicht der Erpressung durch private Großkonzerne oder große politische Mächte ausgesetzt sein will. Souveränität bedeutet keineswegs Abschottung, sie ist vielmehr Grundlage für grenzüberschreitende Kooperationen und internationale Solidarität auf Augenhöhe. Gerade dazu ist der derzeitige Pharmamarkt denkbar schlecht geeignet.
In die demokratische Steuerung eines öffentlichen Pharmasektors müssen alle wichtigen „Stakeholder“ im Gesundheitsbereich, nicht zuletzt die VertreterInnen der Sozialversicherten, eingebunden sein. Öffentliche Pharmaunternehmen sollten keineswegs nur auf jene Segmente beschränkt sein, die die privaten Pharmakonzerne mangels Rentabilität scheuen. Das würde bloß das neoliberale Credo bestärken, wonach Gewinne zu privatisieren und Verluste zu sozialisieren seien. Öffentlichen Unternehmen muss es möglich sein, in den Bereich gewinnbringender „Blockbuster“-Medikamente vozurdringen, um damit teure, langfristig unsichere Investitionen in anderen Bereichen zu subventionieren. Ein öffentlicher österreichischer Pharmasektor wird natürlich nicht alles Notwendige selbst erforschen und entwickeln können. Auch die Produktion von Generika wird ein wichtiges Geschäftsfeld sein. 20 bis 25 Jahre Patentschutz sind freilich inakzeptabel. In der „Sozialen Sicherheit“ schlägt der Hauptverband der Sozialversicherung vor: „Automatisches Erlöschen des Patents, wenn das investierte Kapital zuzüglich eines angemessenen, definierten Gewinnaufschlags eingespielt ist“ (5). Zur Orientierung: Der Pharmakonzern Gilead erwirtschaftete mit dem Hepatitis-C-Medikament innerhalb eines Jahres einen Nettogewinn in der Höhe der Gesamtinvestition.
Manch einer wird einwenden: Aber das ist doch alles mit dem neoliberalen EU-Regelwerk völlig unvereinbar – mit dem Beihilfenverbot, dem Patentschutz, den Liberalisierungsvorgaben im EU-Binnenmarkt, dem Austeritätsdruck des EU-Fiskalpakts und den diversen EU-Freihandelsabkommen. Richtig. Doch das sollte kein Grund sein, vernünftige Politik zu unterlassen, sondern unvernünftige Vorgaben, die dieser im Weg stehen, abzuschütteln.

Gerald Oberansmayr

Quellen:
(1) zit. nach „Der Spiegel“, 23.5.2015
(2) https://kontrast.at/corona-medikamente-forschung-pharmaindustrie/
(3) https://rusz.at/corona-pandemie-ein-kolossales-marktversagen/
(4) zit. nach https://finance.yahoo.com/news, 11.4.2018
(5) Soziale Sicherheit 6/2016, „Dürfen lebenswichtige Medikamente so teuer sein?“
(6) Hepatitis C: Therapie nicht für alle Betroffenen, in: Der Standard, 7.6.2017
(7) Ernst & Young (2019), Die größten Pharmafirmen weltweit Analyse der wichtigsten Finanzkennzahlen der Geschäftsjahre 2016, 2017 und 2018
(8) Corporate Europe Observatory, High prices, poor access: What is Big Pharma fighting for in Brussels?, Mai 2019
(9) https://www.20min.ch/story/darum-sind-medikamente-wirklich-so-teuer-274601086619
(10) Big Pharma greift nach Patienten, in: Der Standard, 24.9.2020


Mehr zum Thema in der Broschüre "CORONAKRISE - Gefahren, Lehren & Ausblicke"