Die politisch initiierten, zentral gesteuerten und stümperhaft implementierten Bildungsgroßprojekte der letzten 20 Jahre entfalten gegenwärtig ihre verheerende Wirkung in der österreichischen Bildungslandschaft. Von Gerhard Pušnik.


Die politisch initiierten, zentral gesteuerten und stümperhaft implementierten Bildungsgroßprojekte der letzten 20 Jahre entfalten gegenwärtig ihre verheerende Wirkung in der österreichischen Bildungslandschaft. Das neue Dienstrecht, mit dem die Lehrverpflichtung für einen Gutteil der Lehrer:innen erhöht und der Lebensverdienst gekürzt wurde; die Pädagog:innenbildung Neu, mit der die PHs zu kuriosen Forschungsprojekten verpflichtet werden, anstatt die angehenden Pädagog:innen an echten Universitäten auszubilden; die zentralisierte Matura, die lehr- und lernbehindernd wirkt, und zuletzt eine Bildungsorganisationsreform, mit der sich ein aufgeblähter Apparat seiner Verantwortung entledigt und den überforderten Schulen und Schulleiter:innen eine Mangel- und Problemverwaltung zuschiebt.

Seit über 150 Jahren unternehmen konservative Kreise jede Anstrengung, Bildung für alle zu verhindern, um sie nur jenem erlauchten Kreis angedeihen zu lassen, dem sie selbst angehören. Die Verachtung, die dem sozialdemokratischen Gesamtschulreformer Otto Glöckel vor hundert Jahren von den Christlich-Sozialen entgegengeschleudert wurde, ist nicht zu überbieten. Auch nach 1945 musste jede Öffnung, jede neue Oberstufen-AHS, jede Reform gegen den Widerstand der ÖVP durchgesetzt werden. Den Ausbau der berufsbildenden höheren Schulen haben Industrie, Banken und Versicherungen betrieben, da mussten die politisch Konservativen ihre Vorbehalte aufgeben.

Die zentrale Aufgabe des Bundesministeriums für Bildung, Wissenschaft und Forschung ist es, die bestmöglichen Rahmenbedingungen für Schulen, Universitäten und Forschungseinrichtungen zu schaffen. Rasche gesellschaftliche Veränderungen und Erfahrungen machen eine stetige Weiterentwicklung dieser Rahmenbedingungen notwendig. Hier finden Sie eine Übersicht über noch in Umsetzung befindliche Reformen und Projekte.“

Wer die Website des Bildungsministeriums ansteuert, wird von dieser Hoffnung weckenden Selbstbeschreibung empfangen. Auch wenn das Erscheinungsbild der Seite bieder, beiläufig, unengagiert und fad wirkt, lassen wir uns nicht davon abhalten, hier nach Spuren der stetigen Weiterentwicklung von bestmöglichen Rahmenbedingungen zu suchen. Unter dem Reiter Schule sind die Projekte „Klasse Job“, Pädagogikpaket, Digitale Schule, LESEN – 2023/24, Künstliche Intelligenz im Bildungssystem, die neue Oberstufe, Deutschförderklassen, Sommerschule, Projekt 100 Schulen – 1000 Chancen und Schulautonomie aufgelistet.

Die Initiative Klasse Job ist der Versuch, auf der einen Seite Fachkräfte als Quereinsteiger:innen in die Schulen zu locken, als Ersatz für jene Lehrer:innen, die auf der anderen Seite aus den Schulen durch unzumutbare Arbeitsbedingungen vertrieben werden. Der massive Abgang durch Pensionierungen kann dadurch nicht abgefangen werden, allein bis 2027 werden an die 20.000 Lehrer:innen in Pension gehen. So lange dauert es allerdings nicht, bis der Kollaps eintritt. Er steht bereits vor den Schultüren, besonders in Ballungszentren, die den anhaltenden Familiennachzug aus den Krisengebieten bewältigen müssen. Für tausende unbeschulte Kinder mit oft traumatischen Erfahrungen gibt es zu wenig Ressourcen, keinen Plan, kein zusätzliches pädagogisches, psychologisches, unterstützendes Personal.

Die neue Oberstufe ist schon lange gescheitert, das Projekt 100 Schulen - 1000 Chancen, mit dem 100 Schulen das Sozialindex-Modell der Arbeiterkammer ausprobieren können, ist ein Tropfen auf den heißen Stein. Mit Künstlicher Intelligenz und Digitalisierung kann man die enormen Überstunden nicht minimieren und das fehlende Supportpersonal ersetzen. Allein im Jahr 2021 haben die österreichischen Lehrer:innen 5,3 Mio. Überstunden geleistet. Angesichts des Lehrer:innenmangels geht diese Zahl noch weiter hinauf.

Österreich weigert sich seit Jahrzehnten, der Forderung nach psychosozialem Unterstützungspersonal nachzukommen. Laut TALIS-Studie von 2018 kommt in Österreich eine psychosozial unterstützende Kraft auf 19 Lehrkräfte. Im europäischen Schnitt ist das Verhältnis 1:8. Österreich bräuchte fast 8.000 zusätzliche Unterstützungskräfte, um an die anderen europäischen Länder aufzuschließen. Bildungsminister Polaschek brüstet sich damit, dass er die Schulpsychologie auf 170 (!) Stellen ausgebaut hat. So wie die Lehrer:innen – und hier insbesondere in den Pflichtschulen – seit Jahren am Limit sind, sind auch die allzu wenigen Psycholog:innen und Schulsozialarbeiter:innen schlecht bezahlt, überlastet und über Monate terminlich ausgebucht.

Seit Jahren wird Österreich regelmäßig bescheinigt, dass das Schulsystem im internationalen Vergleich eines der sozial selektivsten ist, also eines der ungerechtesten - Tendenz steigend. Seit Jahrzehnten rügt uns die OECD, weil durch die zu frühe Trennung der Kinder mit neuneinhalb Jahren Bildung viel stärker als in anderen Ländern vererbt wird. Fast 60 Prozent der Kinder aus Akademikerhaushalten kommen zu einem Hochschulabschluss, aber nur gut 6 Prozent jener Kinder, deren Eltern einen Pflichtschulabschluss haben. Die Bildungschancen sind hierzulande besonders ungleich verteilt. ÖVP und FPÖ stehen für diese systematische Benachteiligung.

Der Reformbedarf des österreichischen Schulsystems ist auch unter Fachleuten unbestritten. Der renommierte Innsbrucker Erziehungswissenschaftler Michael Schratz: „Jede institutionelle Barriere im Schulsystem – die Selektion nach vier Schuljahren ist eine solche – verhindert Leistung und verstärkt Ungerechtigkeit. Im österreichischen Schulsystem dominiert das Trennende: Das Weltwissen wird isoliert im Fächerkanon vermittelt, nach dem die Lehrpersonen ausgebildet werden. Die Schüler:innen landen vielfach gegen ihren oder deren Eltern Willen in Schulformen, die nicht ihren Wünschen bzw. Vorstellungen entsprechen. Im Schulhaus werden die Schüler:innen klassenweise getrennt und in standardisierten Klassenräumen unterrichtet, abgetrennt vom Leben draußen.“

Und deutlich fährt er fort: „Im Vergleich mit anderen Ländern zeigt sich aus wissenschaftlicher Sicht, dass in Österreich (...) eher an Optimierungsprozessen – zum Beispiel Umbenennung der Qualitätsmanagementsysteme, neue Bezeichnungen und Funktionen für die Schulaufsicht oder stärkere Dokumentationspflicht an Schulen – als an den großen Fragen der Wirksamkeit des Gesamtsystems gearbeitet wurde.“ (STANDARD, 22.01.2024)

Die Vorstellung, dass Schule ein besseres Leben danach ermöglicht, ist noch immer weit verbreitet. Sie soll ein Lehr- und Lernort sein, in dem sich alle wohlfühlen können. Sie soll der Vorbereitung auf das wirkliche Leben dienen, soll allgemein bilden und Kompetenzen vermitteln, Talente fördern und Defizite ausgleichen. Vor allem soll sie sich für alle in gleichem Maße zuständig sehen und natürlich alle gerecht bewerten und beurteilen. Der Diversität und Heterogenität soll entsprochen, kein Kind soll zurückgelassen werden. Schule ermöglicht soziales Lernen, Kooperation und Reibung, Auseinandersetzung und Konfliktbereinigung. Sie soll selbstverständlich auch zu Kritikfähigkeit, selbständigem Denken und verantwortungsvollem Handeln befähigen. Allein aus dieser Aufzählung wird ersichtlich, wie überfrachtet und unerfüllbar die Vorstellungen unter den gegebenen Bedingungen sind.

Nicht erst seit der Hattie-Studie wird die Beziehungsebene zwischen Lehrenden und Lernenden als zentrale und maßgebliche Einflussgröße auf den Lehr- und Lernerfolg angesehen. Schöne Worte, Sonntagsreden und verbale Bekenntnisse reichen allerdings nicht aus, um diese Grundkonstante des Lernens fundamental und auf Dauer abzusichern. Es fehlt an ausreichenden Ressourcen, an Personal, an einer hochwertigen Ausbildung für alle, die im pädagogischen Bereich arbeiten, sowie an kontinuierlichen, sehr guten Fortbildungsangeboten.

Den maßgeblichen politischen Eliten fehlt es nicht nur an visionärer Vorstellung und am politischen Willen, sich für ein hervorragendes Bildungssystem einzusetzen und die dafür notwendigen, zukunftsweisenden Strategien zu entwickeln. Sie haben das Bildungssystem an die Wand gefahren.

Gerhard Pušnik ist Mandatar im Zentralausschuss der Personalvertretung der AHS-Lehrer:innen für die Österreichische Lehrer*innen Initiative – Unabhängige Gewerkschafter*innen für mehr Demokratie (ÖLI-UG)