Gentrifizierung ist die Verdrängung ärmerer Schichten aus attraktiven Stadtvierteln - ihr Resultat „sind die gut ausgestatteten für die Work-Life-Balance optimierten Gegenden für das obere Viertel der Bevölkerung ebenso wie die sozial und kulturell abgehängten Ecken für das untere Viertel“ (C. Twickel). Dabei geht nicht nur um „klassen-spezifische, ökonomische oder politische Interessen, nicht nur um Bauprojekte, steigende Mieten und Verdrängungsdynamiken, sondern um die Erlangung einer gesellschaftlich hegemonialen Position“ (A. Holm). Mehr dazu beim Themenabend der Solidarwerkstatt: Gentrifizierung - das Recht des Stärkeren im Stadtraum? am Do, 16.6.2016, 19h, Walterstraße 15, 4020 Linz.
„Verdichtete Unterschiedlichkeit“ oder Segregation
Am stärksten abgesondert leben die Reichen in den Städten - auch wenn in rassistischen Diffamierungsstrategien diese Absonderungstendenzen migrantischen Gruppen unterstellt wird. Räumliche Segregation spiegelt vielfältige soziale Differenzierungsmechanismen: Bildung, Gesundheit, Einkommen, Mobilität, Migration - wir wissen: „Auf die Adresse kommt es an …“. Stadt ist, so der französische Soziologe und Philosoph Henry Lefebvre, „verdichtete Unterschiedlichkeit“. Raum - egal ob Wohnungsgrundrisse, Straßenzüge oder Städte - strukturiert soziale Ungleichheit vor.
Gentrifizierung macht aus einem Milieu der Vielen ein Produkt für Wenige (C. Twickel)
Die „klassische“ stadtsoziologische Definition von Gentrifizierung meint „die sozio-ökonomische Aufwertung städtischer Arbeiterwohngebiete durch den Zuzug mittelständischer Milieus […]. Es handelt sich in der Regel um Gebiete mit guter Verkehrsanbindung, alter Bausubstanz sowie niedrigen Bodenpreisen und Mieten“. Dadurch kommt es zu einer „Zonierung der Lebenswelt“ (Heinz Bude), zur „Polarisierung der Stadt in Discountzonen, deren Bewohner tendenziell den privaten dem öffentlichen Raum vorziehen, und Latte-Macciato-Zonen, die mit ihrer Lebendigkeit und Kleinteiligkeit als Habitat für ein ökonomisches und sozial erfolgreiches Leben gelten“. „Gentrifizierung ist Klassenkampf von oben“, sagt der Journalist Christoph Twickel, der die Hamburger „Recht auf Stadt“-Bewegung begleitet hat, „sie ist das politisch beförderte Recht des Stärkeren angewandt auf den Stadtraum“.
Kulturelles Kapital wandelt sich in ökonomisches Kapital
In der Pionierphase ziehen Künstler_innen, Studierende, Alternativszenen ins Viertel, es etabliert sich eine subkulturell geprägte Szene, es entsteht ein „Szeneviertel“. Im Unterschied zum Arbeiter_innenmilieu bieten sich kulturelle und lebensstilbezogene Anknüpfungspunkte für die Mittelschicht. Verdrängungsprozesse beginnen durch das Interesse von Besserverdienenden und Investor_innen; es kommt zu Modernisierungen und Umbauten. Die Wohnungspreise sind für die ursprünglichen Bewohner_innen nicht mehr finanzierbar. Danach kommt es zum Zuzug der echten „Gentrifier“ bis hin zum Austausch der Bewohner_innenschaft. Die improvisierten Orte der Subkultur werden ver-drängt bzw. bleiben davon nur noch symbolische Versatzstücke übrig. Eine Segregation in Reich und Arm ist die Folge, das kulturelle personengebundene Kapital der Pionier_innen hat sich in ökonomisches Kapital verwandelt, welches privatisiert wird. Reiche zahlen für den „besonderen Ort“ einen Extrapreis - für räumliche Distinktionsprofite, also Vorteile für die effektive Abgrenzung von anderen sozialen Gruppen, z.B. um die Kinder nicht in eine gemeinsame Schule schicken zu müssen wie die Kinder ärmerer, bildungsferner Schichten.
Aufwertungsprozesse erfolgen nicht immer als „klassischer“ Gentrifizierungsprozess. Auch die öffentlich geförderte Bestandsmodernisierung fungiert als Katalysator. Legitimation für diese Sanierungen ist die Verbesserung der Wohn- und Lebensverhältnisse der Bewohner_innen - diese werden aber verdrängt durch bald unleistbare Wohnungspreise selbst in geförderten Wohnungen, weil der Umfang der Fördermittel nicht ausreicht. Gentrifizierung gibt es auch in Neubaugebieten, vor allem durch Büronutzungen und Luxuswohnprojekte. Es gibt auch Viertel, wo es eine Gleichzeitigkeit von Aufwertungstendenzen und Beharrungsvermögen unsanierter Nischen und subkultureller Einrichtungen gibt. Dabei sind aber ärmere Haushalte durch steigende Wohnungskosten gezwungen, ihren Lebensstil abzusenken - „Verdrängung aus dem Lebensstil“.
Von der Rentenökonomie zur Renditenökonomie am Immobilienmarkt
Internationale Immobilienkonzerne investieren gerne in aufstrebende Viertel, denn dort lassen sich nach der Verdrängung der ursprünglichen Bevölkerung erhebliche Profite erwirtschaften, die in der Erwartung einer Entwicklung zur „guten Adresse“ bedingt sind. Mit den Immobilienkonzernen zieht eine neue Bewirtschaftungspraxis ein: Es geht nicht mehr um eine langfristige und substanzorientierte Wertsteigerung, sondern um eine kurzfristige, bilanzorientiere Inwertsetzung. Öffentliche Mittel für den Wohnbau und Investitionen in städtische Infrastruktur sind rückläufig. Die durch die EU erzwungene Austeritätspolitik schränkt den Spielraum der öffentlichen Haushalte ein. „Das Nebeneinander von öffentlicher De-Investition und privater Investition, also die Umschichtung des gesellschaftlichen Reichtums von der öffentlichen in die private Hand, prägt die Gegenwart und die Zukunft unserer Städte“ (C. Twickel).
Unternehmerische Stadtpolitik als Katalysator
Bei diesen Aufwertungsprozessen mischt die öffentliche Hand durch Stadterneuerungs- oder Moderni-sierungsprogramme mit, heute vor allem durch die Attraktivierung der Innenstadtbereiche. Unternehmerische Stadtpolitik denkt eine Konkurrenz der Städte untereinander - als Standortwettbewerb um Investitionen, Steuerzahler_innen, Tourist_innen und Großereignisse. Aktuell z.B. kämpfen Menschen gegen die Auswirkungen von „Olympia 2016“ in Rio de Janeiro. Der städtische Verwandlungsprozess ist begleitet von der Verbetriebswirtschaftung der städtischen Verwaltung. Behauptet wird, dass die durch diese Politik erzielten Wohlstandseffekte zu den unteren sozialen Schichten „sickern“, empirische Belege gibt es dafür aber keine.
Creative-City
Viele Städte versuchen in Anlehnung an die Thesen des kanadischen Stadtplaners Richard Florida attraktive Wohn-, Lebens- und Arbeitsbedingungen für die sogenannte „kreative Klasse“ zu entwickeln, für die „Leistungsträger_innen“ der neuen wissensbasierten Wirtschafts- und Dienstleistungsbereiche, von Mitarbeiter_innen von PR-Agenturen bis zu Kulturproduzent_innen. Attraktivität für diese entsteht durch „weiche“ Standortfaktoren: ein tolerantes Klima in der Stadt, Entfaltungsmöglichkeiten, ein attraktives Kultur- und Freizeitangebot. Die Stadtpolitiken orientieren sich an einer aufwertungsaffinen Mittelschicht.
Zoom auf Linz
„Von der Stahlstadt zur Kulturstadt“ heißt es in Linz, der Kulturhauptstadt Europas 2009. Seit 2014 ist Linz UNESCO City of Media Arts. Die Tabakfabrik, ein architektonisch wertvoller Industriebau aus der Zwischenkriegszeit, wird als Inkubator für die „kreative Klasse“ entwickelt. Auswirkungen zeigen sich beispielsweise im Neustadtviertel. Das Musiktheater, 2013 eröffnet, liegt an der südlichen Grenze des Linzer Neustadtviertels. Das Neustadtviertel ist ein innenstadtnahes Quartier mit einem hohen Anteil an Migrant_ innen. Das Wirtschaftsgefüge und eine migrantisch geprägte Vereinsstruktur sind Ausdruck davon, mehrere Moscheen liegen im Neustadtviertel. Da die gewählte Lage des Musiktheaters auch dazu dient, jenes Gebiet, das in Linz als „City“ wahrgenommen wird, nach Süden hin zu erweitern, wird das Neustadtviertel aufgewertet. Empirische Daten deuten darauf hin, dass das Viertel bereits Ziel von Immobilieninvestitionen und Spekulationen ist, die letztendlich zu Verdrängungsprozessen führen. Die Wohnungspreise im Viertel sind in den letzten 10 Jahren erheblich gestiegen.
Initiativen für ein „Recht auf Stadt“
Größere Bewegungen gegen Gentrifizierung sind ein Phänomen von Metropolen, in Deutschland z.B. Berlin, Hamburg und München. Doch auch in kleineren Städten tut sich mittlerweile etwas. Weltweit versammeln sich städtische Protestinitiativen, die sich gegen die neoliberale Hegemonie in der Stadtentwicklung wehren, unter dem Stichwort „Recht auf Stadt“, „Right to the City“, „Le droit à la ville“ (nach Henri Lefebvre). Häufig wird dabei versucht, Deattraktivierungsstrategien gegen die zuzugswillige Mittelschicht anzuwenden oder Bauprojekte zu verzögern. Wirkungsvoll sind solche Initiativen vor allem dann, wenn es gelingt, über subkulturelle Proteste und lokale Parteipolitik hinaus tatsächliche Basisinitiativen zu entwickeln und zu einer Politisierung der Auseinandersetzung beizutragen. Es muss um die Eindämmung immobilienwirtschaftlicher Gewinnstrategien gehen, insbesondere gegen jene Extragewinne, die durch die besonderen Orte erzielt werden. Letztlich braucht es öffentlich zur Verfügung gestellte ökonomische Mittel für eine Stadt für alle, um den Finanz- und Immobilienmärkten die Macht über die Stadtentwicklung zu nehmen.
„Recht auf Stadt“ meint das Recht auf Nichtausschluss von den Qualitäten der urbanisierten Gesellschaft, es beschränkt sich nicht auf die konkrete Benutzung städtischer Räume, auf eine erneuerte Zentralität und Orte des Austausches, sondern umfasst auch Mitbestimmung. Für Lefebvre ist „das Urbane als die Einheit aus Widersprüchen, als Ort des Zusammenpralls und der Konfrontation“ zu denken - es ist damit kein widerspruchsloses Utopia.
Andrea Mayer-Edoloeyi
ist Mieterin in einem der letzten nicht luxussanierten Häuser an der Linzer Landstraße
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Hier 2 Beispiele:
Prenzlauer Berg, Berlin:
15 Jahre nach Beginn der Modernisierung lebten nur noch 20% der ursprünglichen Bewohner_innen im Viertel
Haus Linienstraße 118, Berlin
1997 zahlte ein Hamburger Ehepaar € 700.000.-, bis
2011 wurde es als normales Mietshaus bewirtschaftet, es war rentabel, die 14-jährige Bewirtschaftung hatte sich für die Eigentümer_innen schon gelohnt.
2011 kaufte eine Immobilienfirma aus Wien das Haus um € 2,4 Mio.
2012 wurde es um € 5,5 Mio. an David Brock Immobilien verkauft
2013 summierten sich die Verkaufsangebote der Eigentumswohnungen auf über € 8 Mio.
Literatur
Dell, Christopher, Ware: Wohnen. Politik. Ökonomie. Städtebau, Berlin 2013
El-Maffalani, Aladin / Kurtenbach, Sebastian / Strohmeier, Klaus Peter (Hrsg.), Auf die Adresse kommt es an … Segregierte Stadtteile als Problem- und Möglichkeitsräume begreifen, Weinheim / Basel 2015
Holm, Andrej /Gebhardt, Dirk (Hrsg.), Initiativen für ein Recht auf Stadt. Theorie und Praxis städtischer Aneignungen, Hamburg 2011
Holm, Andrej, Wir Blieben Alle! Gentrifizierung - Städtische Konflikte um Aufwertung und Verdrängung, Münster 2010
Holm, Andrej, Mietenwahnsinn. Warum Wohnen immer teurer wird und wer davon profitiert, München 2014
Löw, Martina / Steets, Silke / Stolzer, Sergej, Einführung in die Stadt- und Raumsoziologie, Ulm 22008
Twickel, Christoph, Gentrifidingsbums oder eine Stadt für alle, Hamburg 2010
Wer mehr zum Thema erfahren möchte kann dies beim Themenabend:
Gentrifizierung - das Recht des Stärkeren im Stadtraum?
Input von Andrea Mayer-Edoloeyi
Theologin, Aktivistin der Solidarwerkstatt
und gemeinsamer Diskussion zum Thema Wohnen in der Stadt.
Do. 16. Juni 2016, 19 Uhr
Solidarwerkstatt, Waltherstr. 15, Linz
Mitmachen! Aktion Minus 10%
Mehrwertsteuern auf lebensnotwendige Güter sind unsoziale Steuern. Sie belasten die unteren Einkommensgruppen prozentuell ungleich mehr als die Besserverdienenden. Das betrifft insbesondere das Wohnen.
Macht mit! Unterschreibt unsere Kampagne „Minus 10%!“
http://www.solidarwerkstatt.at/Forum/Minus10.php