Innerhalb eines Jahrzehnts wurde die europäische Hochschullandschaft neoliberal umgepflügt. Durch die Verabredungen der europäischen Exekutiven im Rahmen des Bologna-Prozesses (1999) und der EU-Lissabon-Strategie (2000) werden die Universitäten seither in Richtung Zwei-Klassen-Bildung – Schmalspurausbildung für die Masse, Elitebildung für die Upperclass – umstrukturiert.
Der Startschuss dafür wurde dort gegeben, wo auch schon die Blaupause für das neoliberale EU-Binnenmarktprojekt entwickelt wurde: An der Place de Carabinieris in Brüssel, dem Sitz des „European Round Table of Industrialists“ (ERT). Der ERT ist wohl eine der einflussreichsten EU-Lobbyorganisationen, die aus den Chefs der 48 mächtigsten europäischen Industriekonzernen besteht (sh. www.ert.be). Im Jahr 1995 legte der ERT den EU-Entscheidungsträgern das Papier „Education for Europeans – Towards the Learning Society“ (1) vor. Darin wird zunächst einmal mit emanzipativen Bildungsvorstellungen aufgeräumt, wonach Bildung und Wissenschaft dazu beitragen könnten, die gesellschaftlichen Lebensbedingungen zu humanisieren. Die Großindustrie will es umgekehrt: Die Menschen sollen sich nicht befreien, sondern unterwerfen – und zwar der „brutal beschleunigten Veränderung … erzwungen von externem wirtschaftlichen Druck des globalen Handels, der globalen Politik und der unmittelbaren weltweiten Anwendung von radikal neuen Technologien.“ Das Bildungs- und Hochschulssystem müsse sich anpassen an „die Verschiebung von regulierten Ökonomien zu liberalen, offenen und hochgradig konkurrenzorientierten.“ Die Konzerne brauchen nicht Menschen, die nach Selbstbestimmung und gesellschaftlicher Verantwortung streben, sondern „Menschen mit Selbstdisziplin, die sich an ständige Veränderungen anpassen können und endlosen neuen Herausforderungen gewachsen sind.“ Deshalb fordert das ERT-Papier, dass sich die Bildung "stärker auf die Bedürfnisse der Wirtschaft" auszurichten habe und die Großindustrie eine „aktivere Rolle an den Universitäten“ spielen müsse. Auch die den späteren Bologna-Prozess prägende Hierarchisierung der Hochschulbildung klingt bereits deutlich an: Weiterreichende wissenschaftliche Qualifikation sollten „erfahreneren Studierenden“ und dem „akademischen Stab“ vorbehalten bleiben.
Zwei-Klassen-Studium. Später resümiert der ERT stolz, dass dieses Papier „eines der einflussreichsten aller ERT-Papiere“ (2) gewesen sei. In der Tat. Es dauerte nicht allzu lange, bis die Hochschulen nach dem Gusto der großen Industrie umgekrempelt wurden. Auch der weitere Verlauf der Entscheidungsfindung ist aufschlussreich. Nach den Konzerneliten trafen sich die Regierungseliten der vier größten EU-Staaten Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien und verabschieden 1998 die sog. „Sorbonne-Erklärung“, in der sie ein Zwei-Klassen-Studium fordern, das deutlich die Hochschulausbildung in „zwei große Zyklen: Studium und Postgraduiertenstudium“ (3) trennt.
Nachdem die große Linie vorgegeben war, durften auch die Regierungseliten anderen europäischer Staaten antreten. 26 an der Zahl tun das ein Jahr später in der italienischen Stadt Bologna, wo sie den Startschuss für den nach dem Tagungsort benannten Prozess der Umkrempelung der europäischen Hochschullandschaft geben. Die oberste Prämisse des Bologna-Prozesses: „Verbesserung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit des europäischen Hochschulraums“ (4). Manche der in der Bologna-Erklärung festgehaltenen Ziele sind dabei durchaus sinnvoll, etwa die Förderung der europaweiten Mobilität und die Sicherstellung vergleichbarer Abschlüsse. Interessanterweise zeigen die Erfahrungen jedoch, dass gerade diese Aspekte durch den Bologna-Prozess verfehlt wurden.
Was jedoch nicht verfehlt, sondern zwischen 1999 und 2009 mit großer Präzision europaweit durchgezogen wurde, ist die Durchsetzung einer Zwei-Klassen-Bildung an den Hochschulen: ein hochgradig verschultes auf drei Jahre abgespecktes Schmalspurstudium für die Masse (Bachelor), an das sich erst mit dem Master (2 Jahre) und dem PhD/Doktor (3 Jahre) wissenschaftliche Qualifizierung anschließt. Die dann aber nur mehr einer schmalen „Elite“ vorbehalten und mit entsprechenden Selektionshürden und Zugangsbeschränkungen versehen sein soll. Flankiert wird dieses Programm von der zunehmenden Ausschaltung demokratischer Mitbestimmung von Studierenden und Lehrenden, um Regierung und privater Wirtschaft einen immer direkteren Zugriff auf die Hochschulen zu ermöglichen, in Österreich z.B. durch das Universitätsgesetz 2002 (sh. Artikel S. 4).
Zuviel Bildung unerwünscht. Warum ist den Mächtigen in Wirtschaft und Politik diese Aufspaltung in Masse- und Elitebildung eigentlich so wichtig? Eine Antwort darauf lieferte ein deutscher Unternehmensberater, als er im November 2009 diese Aufspaltung der Studierenden knapp und bündig damit rechtfertigte: “Die (Masse der Studierenden, Anm. G.O.) lernten früher Dinge, die wir gar nicht brauchen.“(5) Angesichts seiner Position als Unternehmensberater steht das „wir“ wohl für die Interessen seiner Konzernklientel. Das ungeschriebene Motto des Bologna-Prozesses lautet also: für die Masse der Studierenden soviel Bildung wie unbedingt nötig, um den Verwertungsprozess am Laufen zu halten – und so wenig wie mög, sondern auch die Fähigkeit zum kritischen Denken und zum Blick über den unternehmerischen Tellerrand in engen Grenzen zu halten. Höchste wissenschaftliche Qualifikation soll einem kleinen Kreis vorbehalten bleiben, der sich schon aus finanziellen Gründen weitgehend aus den bestehenden sozialen Eliten rekrutiert.
EU-Kommission will Schulgeld und Studiengebühren. Der Bologna-Prozess, der zwar von den EU-Machtträgern dominiert wird, aber mit mittlerweile 46 Mitgliedstaaten deutlich darüber hinausreicht, wird überwölbt von der sog. „Lissabon-Strategie“ der EU, die im Jahr 2000 aus der Taufe gehoben wurde. Vollmundig wird darin verkündet, die EU bis 2010 zum „international wettbewerbsfähigsten, dynamischsten, wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt“ zu machen. Die in allen EU-Staaten in diesem Jahrzehnt stattgefundenen „Reformen“ zur Absenkung staatlicher Pensionen, Privatisierung von öffentlichen Infrastrukturen, Aushöhlung von Kollektivverträgen, Prekarisierung von Arbeitsverhältnissen, usw. gehen nicht zuletzt auf die Verabredung der EU-Regierungsspitzen in Lissabon im Jahr 2000 zurück. Mit der Lissabon-Strategie hat sich auch die EU-Kommission eine Tür aufgemacht, sich zunehmend in die Bildungspolitik einzumischen. Von welcher Grundideologie sich die Kommissare dabei leiten lassen, offenbaren sie uns in diversen „Mitteilungen“ zur Lissabon-Strategie: „Es wäre jedoch anmaßend zu meinen, dass dieses offene, egalitäre, horizontale und manchmal minimalistische Konzept eine solide Grundlage für die Wissengesellschaft und –ökonomie in Europa und für den Platz Europas in der Welt bieten könnte“ (6).
Wer das Offene, Egalitäre und Horizontale verschmäht, will das Exklusive, Elitäre und Vertikale. Entsprechend sehen auch die Vorschläge der EU-Kommission aus: Bereits 2004 sprach sich die EU-Kommission in einem Arbeitspapier zur Umsetzung der "Lissabon-Strategie" für die Einführung von "(höheren) Studiengebühren" aus, um "Effizienz und private Investitionen im Bildungsbereich zu erhöhen." Wenig verklausuliert wird in diesem Papier der EU-Kommission die Einführung von Schulgeld und die weitere Privatisierung des Bildungsbereiches vorgeschlagen. So heißt es weiters: "Mehr finanzielle Anreize sollten in die Europäischen Bildungs- und Trainingssysteme eingeführt werden, um die beschränkten öffentlichen Budgets zu kompensieren und stärkere Leistungselemente einzuführen. Solche Anreize (z.B. im Bereich der nicht-verpflichtenden Bildung) würden eine stärkere Diversifizierung der Finanzierungsmöglichkeiten und eine bessere Mischung aus öffenlicher und privater Finanzierung miteinander verbinden. (...) Beispielsweise könnte die Einführung von Schuldgeld oder anderer Gebühren mit einigen Einschränkungen und begleitenden Finanzierungsmaßnahmen die generelle Ausweitung der Finanzierung höherer Bildungseinrichtungen unterstützen." (7)
Eliteunis für die Upperclass. Selbst das System der USA mit Studiengebühren bis zu 50.000 US-Dollar und mehr im Jahr wird von der EU-Kommission als Beispiel dafür zitiert, "dass Studiengebühren, wenn sie durch ein gezielte finanzielle Unterstützung ergänzt werden, zu einer Steigerung der Studierendenzahlen führen können, ohne dass sich dies negativ auf die Gerechtigkeit auswirkt." (8) Dabei beweist gerade das US-System, dass soziale Gerechtigkeit und die Privatisierung von Bildung unvereinbar sind.
Der deutsche Soziologe Michael Hartmann hat die soziale Herkunft von Studierenden an den teuren US-Privatuniversitäten untersucht und kommt zu einem eindeutigen Ergebnis: Vier von fünf Studierenden kommen dort aus dem oberen Fünftel der Gesellschaft. Jeder fünfte stamme sogar aus den obersten zwei Prozent mit Familienjahreseinkommen von mehr als 200 000 Dollar, das heißt fast doppelt so viele wie aus der gesamten unteren Bevölkerungshälfte. (9) Genau ein solches System von wenigen, dafür sündteuren privaten Spitzenuniversitäten will die EU-Kommission in Europa etablieren. Sie hat deshalb im Jahr 2005 die Initiative zur Schaffung von sechs EU-Exzellenzuniversitäten geschaffen - Prototypen einer durch und durch exklusiven, elitären und antidemokratischen Hochschulentwicklung: Die Verwaltungsgremien sollen maßgeblich von privaten Unternehmen kontrolliert werden, ein öffentliches Dienstrecht soll eliminiert sein, die Unis sollen sich die Studierenden selbst aussuchen können, die Finanzierung soll über Studiengebühren, private Schenkungen und Aufträge aus der „Wirtschaft“ erfolgen.(10) Freilich dürfe auch der Staat mitfinanzieren, solange damit nicht demokratische Mitsprache verbunden ist, als nachahmenswert hebt die EU-Kommission – in einem anderen Papier (11) - dabei “den hohe Anteil von Staatsgeldern für die Rüstungsforschung an den US-Hochschulen” hervor.
Der Einfluss der EU-Kommission auf die Bildungspolitik in der EU erhöht sich mit dem jüngst in Kraft getretenen EU-Reformvertrag beträchtlich. Denn mit diesem Vertrag wird die Mitbestimmung der nationalen Parlamente bei der Beschlussfassung von internationalen Handelsverträgen in den Bereichen Bildung, Gesundheit und Soziales eliminiert. Die Möglichkeiten der EU-Kommission, Verträge zur Liberalisierung von Bildung auf multilateraler Ebene auszuhandeln und diese Verträge dann innerhalb der EU ratifizieren zu lassen, sind damit deutlich gestiegen. Entsprechende Initiativen hat die Kommission bereits auf GATS-Ebene lanciert.
Gar nicht so kleiner Hoffnungsschimmer. Insgesamt zeigen Bologna-Prozess und Lissabon-Strategie freilich, wie sehr Parlamentarismus und Demokratie zunehmend zu einer leeren Hülle werden. Beide Prozesse waren und sind zunächst bloße Verabredungen der Konzernetagen und Regierungsspitzen. Und doch wurden sie innerhalb von zehn Jahren in allen EU-Staaten und darüber hinaus ohne gröbere demokratische „Reibungsverluste“ durchgestellt. Die Parlamente fungierten als brave Erfüllungsgehilfen. Dafür sorgten die weitgehend an das EU-Establishment und dessen neoliberale Agenda angebundenen Parteioligarchien – großteils unabhängig von den verschiedenen Couleurs. So wurden die weitgehend gleichen Unigesetze von „rot-grünen“ Regierungsbündnissen (z.B. in der BRD) ebenso implementiert wie von konservativ-rechtsextremen (wie z.B. in Österreich). Der Widerstand der Studierenden, der im vergangenen Jahr mit Hörsaalbesetzungen, Demonstrationen und vielen anderen Protestaktionen begonnen hat, hat diese politische Lähmung durchbrochen. Diese Bewegung ist nicht nur bildungspolitisch, sondern auch demokratiepolitisch ein gar nicht so kleiner Hoffnungsschimmer.
Gerald Oberansmayr
Anmerkungen:
(1) European Round Table of Industrialists, "Education for Europeans - Towards the Learning Society", März 1995, http://www.ert.be/doc/0061.pdf
(2)ERT-Sekretariat, in: http://www.ert.be /working_group.aspx?wg=15
(3) Sorbonne-Erklärung: Gemeinsame Erklärung zur Harmonisierung der Architektur der europäischen Hochschulbildung, 26.5.1998, Sorbonne.
(4) Der europäische Hochschulraum – Gemeinsame Erklärung der europäischen Hochschulminister, 19.7.1999, Bologna
(5) Deutsche Welle-TV, 23.11.2009
(6) EU-Kommission; Die Hochschulen in die Lage versetzen, ihren vollen Beitrag zur Wissensgesellschaft und Wirtschaft zu leisten. Diskussionspapier für die Konferenz in Brüssel am 10.2.2005
(7) EU-Kommission; Implementation of “Education and Training 2010”, Working Group E, “Making the Best Use of Ressources”, Dezember 2004, Brüssel
(8) EU-Kommission; Effizienz und Gerechtigkeit in den Europäischen Systemen der allgemeinen und beruflichen Bildung, 8.9.2006, Brüssel
(9) Michael Hartmann, in: „Leviathan“ 4 /2006, Zeitschrift für Sozialwissenschaft, S. 447ff.
(10) Informationspapier des EU-Bildungskommissars Jan Figel, SEC 2005 (354), 7.3.2005, Brüssel
(11) EU-Kommission, Die Rolle der Universitäten im Europa des Wissens, 5.2.2003, Brüssel