Die EU-Kommission hat die türkis-blauen Pläne zur Demontage der Sozialversicherung ausdrücklich begrüßt und weitere Schritte in diese Richtung eingefordert. Das ist kein Zufall: Denn die österreichische Sozialversicherung ist für das EU-Konkurrenzregime, das alles der „offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb“ unterordnen will, ein systemischer Fremdkörper.

Die EU-Kommission hat in ihrem „Labour-Market-Development-Report 2012“ bereits ihre Abneigung gegenüber solidarischen Sicherungssysteme formuliert. Als „beschäftigungsfreundliche Reformen“ listet sie dort u.a. auf:
- Absenken der Sozialversicherungsbeiträge (das bedeutet: Reduzierung der Budgets für Gesundheit und Altersversorgung)
- die Senkung von Pensions-, Invaliditäts- und anderen sozialen Leistungen
- die Schwächung von Kollektivverträgen
- die „Reduzierung gewerkschaftlicher Verhandlungsmacht“.

Damit soll der Grundsatz der EU-Verträge durchgesetzt werden: eine Wirtschafts- und Sozialpolitik, die die EU-Staaten zu einer „offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb“ (O-Ton EU-Vertrag) verpflichtet. Dazu gehört auch, die öffentlichen Dienste dem EU-Wettbewerbsregime unterzuordnen.

Soziale Kassen abseits der Kapitalmärkte...

Die österreichische Sozialversicherung ist im Grunde die Antithese zu diesem neoliberalen Konzept: Fast ein Fünftel des österreichischen Sozialprodukts wird abseits der Kapitalmärkte über die sozialen Kassen – insbesondere für Gesundheit und Pensionen – umverteilt. In der sozialen Krankenversicherung heißt das grundsätzlich: jeder zahlt entsprechend seiner finanziellen Leistungsfähigkeit ein und bekommt entsprechend seiner Bedürfnisse qualitativ hochwertige Gesundheitsleistungen. Mehr noch: Über die Selbstverwaltung haben die Organisationen der ArbeitnehmerInnen einen zentralen Einfluss auf Verwaltung und Verwendung diese Gelder.

... sind ein Ärgernis für Konzerne und Kommission

Das ist Konzernen und EU-Kommission ein Ärgernis: Den Konzernen entgehen Milliardenbeträge, die sich völlig der Kapitalverwertung und Dividendenausschüttung entziehen. Und dort, wo Konzerne wie z.B. im Pharmabereich am Markt auftreten, sind sie mit den Sozialversicherungen als kollektivem Nachfrager konfrontiert sind, der ihnen gegenüber über eine große Verhandlungsmacht verfügt. Für die EU-Kommission ein zusätzlicher Dorn im Auge: Die Sozialversicherung verwaltet ihre Mittel selbst. D.h. ein Budget von über 60 Milliarden, rund die Hälfte aller öffentlichen Ausgaben, entziehen sich dem direkten Durchgriff der Regierung und damit den Vorgaben der EU-Institutionen, die eine harte neoliberale Austeritätspolitik erzwingen wollen.

Entsprechend wurde und wird über die EU-Ebene Druck gemacht, diese solidarischen Versicherungssysteme Schritt für Schritt zu schleifen und der Regierung einen direkten Zugriff auf die Gelder der Versicherten zu verschaffen. So entließ die EU-Kommission Österreich 2013 erst dann aus dem EU-Defizitverfahren, nachdem die Regierung eine „Gesundheitsreform“ beschlossen hatte, die eine „Deckelung“ der Gesundheitsausgaben vorsah. Diese Deckelung wurde 2017 nochmals verschärft. Viele Menschen wissen bzw. spüren inzwischen, was das heißt: lange Wartezeiten auf Operationen und Therapien, Ausdünnung der medizinischen Versorgung, Burn-out bei den Beschäftigten.

EU-Kommission lobt türkis-blaue Pläne

Die türkis-blauen Pläne sollen nun die Arbeitnehmer in ihrer eigenen Versicherung weitgehend entmachten und der Regierung einen direkten Zugriff auf die Gelder der Versicherten verschaffen. So sollen es die türkis-blauen Pläne in Zukunft möglich machen, dass die Regierung SV-Beschlüsse beeinspruchen und in der Folge faktisch an sich ziehen, deren „finanzielle Auswirkungen im Ausmaß von 10 Millionen Euro innerhalb eines Kalenderjahres oder mehrerer Kalenderjahre übersteigen“ (sh. Beitrag Lukas Wurtz in Reflektive). Somit erfolgt praktisch jede Entscheidung der Sozialversicherung unter Kuratel der Regierung, denn Gesamtkosten von zehn Millionen Euro über mehrere Jahre hinweg hat eine Entscheidung in einer Kasse mit zwölf Milliarden Euro Jahresbudget wohl oft. 

Entsprechend lobt die EU-Kommission in ihrem „Länderbericht 2018“ die türkis-blauen Pläne zur Demontage der Sozialversicherung als Beitrag zur „Verbesserung von „Kosteneffizienz, Transparenz und Gerechtigkeit des Systems“. Gleichzeitig macht die EU-Kommission weiter Druck für eine härtere Gangart. Die Einführung der „Gesundheitsdeckelung“ sei zwar „positiv“, aber noch „nicht sehr ehrgeizig“. Entsprechend mahnen die Kommissare im „Länderbericht 2018“ von Österreich eine härtere „Durchsetzung der Ausgabenobergrenzen“ im Gesundheitsbereich und insbesondere den Abbau des „überdimensionierten Spitalssektors“ (1) ein.

Damokesschwert des EU-Wettbewerbsrechts

Insgesamt hängt über dem Gesundheitsbereich das Damoklesschwert des EU-Wettbewerbsrecht. Bislang konnten zwar Angriffe, die Sozialversicherung als EU-vertragswidrig  aufzuheben, noch abgewehrt werden. Doch die Kugel ist im Lauf (sh. dazu „Krankenhäuser als lukratives Geschäftsmodell“). Je mehr marktförmige Elemente in die Sozialversicherung eindringen – z.B. Selbstbehalte – desto leichter könnten es Konzerne haben, mit Klagen bei EuGH und EU-Kommission durchzudringen, die Sozialversicherung als EU-binnenmarktwidriges „Nachfragekartelle“ insgesamt in Frage zu stellen.

„Neoliberales Gift“

„Das größte Problem der EU ist, dass ihre Politik durch neoliberale Ideen vergiftet wird“, urteilte der damalige Sozialminister Alois Stöger bei einer ÖGB-Veranstaltung im Jahr 2017 (2). Das ist richtig und doch nur die halbe Wahrheit. Der Neoliberalismus vergiftet nicht nur die Politik, er ist in den Verträgen und Institutionen der EU in einer Weise einzementiert, die eine andere Politik faktisch unmöglich macht, wenn man diese Rahmenbedingungen nicht in Frage stellt.

Gerald Oberansmayr
(Oktober 2018)

Anmerkungen:
(1) Europäische Kommission, Brüssel, den 7.3.2018, Länderbericht Österreich 2018.
(2) Sh. www.oegb.at, 25.4.2017