Die EU-Kommissions-Vize-Präsidentin Dubravka Suica ließ vor Kurzem die Katze aus dem Sack: Mit Verweis auf ein Grünbuch der EU-Kommission fordert sie bis 2040 die Anhebung des Pensionsantrittsalters auf 70 Jahre im EU-Durchschnitt, für Österreich auf 71 Jahre, für einige osteuropäische Staaten sogar auf 75 Jahre.

Die Argumentation der EU-Kommission ist simpel: Die Lebenserwartung der Menschen steigt, die Zahl der Erwerbstätigen schrumpft. Daher müsse das Antrittsalter für die Pension bis 2040 deutlich angehoben werden (sh. Presse, 29.1.2021). Was sofort auffällt: Produktivität und Verteilung spielen für die EU-Kommission offenbar keine Rolle. Ob mehr PensionistInnen durch weniger Erwerbstätige finanziert werden können, hängt maßgeblich von der Produktivität der Erwerbstätigen ab – und wie diese verteilt wird. Auch bei den Kommissaren sollte sich herumgesprochen haben, dass wir heute mit einer durchschnittlichen Arbeitszeit von 40 Stunden in der Woche deutlich besser leben als zu Zeiten, wo die Menschen noch 60 Stunden und mehr in den Fabriken malochten und es keine Pensionsversicherung gab.

Warum spielt diese ökonomische Binsenwahrheit für die Kommission keine Rolle? Wohl weil man diese wachsende Produktivität in Form von wertschöpfungsbezogenen Sozialversicherungsbeiträgen auch an die ältere Generation umverteilen müsste. Genau das aber wird von der EU-Kommission auf Biegen und Brechen bekämpft. Es gibt kaum ein „europäisches Semester“, wo die EU-Staaten von der Kommission nicht ermahnt werden, die sog. „Lohnnebenkosten“ zu senken, um die Interessen der exportorientierten Großindustrie zu bedienen.

Interessengeleitete Demenz

Zum Zweiten fällt auf, dass die Kommission auf ca. 16 Millionen Menschen einfach vergisst. Denn so viele sind derzeit in der EU arbeitslos. Würde dieses Millionenheer durch eine entsprechende Vollbeschäftigungspolitik sozial und ökologisch sinnvoll in Lohn und Brot gebracht werden, ließen sich die Finanzierungsprobleme der sozialen Kassen leicht lösen. Doch auch in diesem Fall dürfte die Demenz der Kommission interessengeleitet sein. Hat doch gerade die von der EU-Kommission exekutierte und von den Eliten der großen EU-Staaten, insbesondere Deutschlands, angetriebene Austeritätspolitik im letzten Jahrzehnt die Arbeitslosigkeit sprunghaft in die Höhe getrieben – vor allem in jenen Ländern, die direkt von EU-Kommission, EZB und IWF unter die Knute von „Strukturanpassungsprogrammen“ gezwungen wurden.

Vom Arbeitsplatz in den Sarg?

Die EU-Kommission schlägt 70 Jahre als Pensionsantrittsalter vor – im EU-Durchschnitt. Dieses Pensionsantrittsalter wird für die einzelnen EU-Staaten aufgeschlüsselt: für Österreich soll es bei 71 Jahren liegen. Noch viel stärker soll das Pensionsantrittsalter in osteuropäischen Staaten angehoben werden. Die Begründung könnte zynischer nicht sein: Da das neoliberale EU-Konkurrenzregime dazu geführt hat, dass die osteuropäische Peripherie immer stärker ökonomisch ausblutet, wandern immer mehr, insbesondere junge und gut qualifizierte Menschen Richtung Westen ab. Diese massive Umverteilung von armen zu reichen Staaten fällt den wirtschaftlich Ausgebluteten bei den Pensionen ein weiteres Mal auf den Kopf. Statt diesen neoliberalen Wahnsinn zu beenden, sollen jene, die nicht aus Osteuropa abwandern, gleich von der Werkbank oder dem Bürosessel in den Sarg hüpfen. Für Rumänien etwa schlägt die EU-Kommission ein Pensionsantrittsalter von 75 Jahren vor. Die durchschnittliche Lebenserwartung in Rumänien liegt bei knapp über 75 Jahre.

Hauptnutznießer der Verschlechterung öffentlicher Pensionssystem sind die großen privaten Pensionsfonds und Versicherungskonzerne. Die Drehtür zwischen diesen und der EU-Kommission rotiert besonders häufig. Diese Konzerne haben intensiv dafür lobbyiert, dass die EU-Kommission 2019 die EU-Verordnung für ein „Europaweites Privates Altersvorsorgeprodukt“ (PEPP) auf Schiene brachte. Ausgeblendet wird dabei, dass sich die Privatisierung der Altersvorsorge in vielen Staaten als regelrechtes Debakel erwiesen hat.

„Next Generation Funds“ als Druckmittel

Die EU-Kommission betont zwar, dass die Anhebung des Pensionsantrittsalters nur ein Vorschlag sei, da die EU in dieser Frage keine unmittelbare Kompetenz hat. Doch schon in der Vergangenheit setzte die EU-Kommission Instrumente wie den EU-Fiskalpakt oder den ESM ein, um Ländern, die die EU-Budgetregeln nicht einhalten konnten, zu brutalen Sozialabbaumaßnahmen zu zwingen. Mit dem sog. „Next Generation Fund“ (ursprünglich: Corona-Wiederaufbaufonds) steht der EU-Kommission nun eine scharfe Waffe zur Verfügung, um ihren „Empfehlungen“, die sie im Rahmen des „europäischen Semesters“ an die EU-Staaten verteilt, Nachdruck zu verleihen. So wurde Ende 2020 klammheimlich durchgesetzt, dass die EU-Kommission die Vergabe von Mitteln aus dem „Next Generation Fund“ mit der Umsetzung solcher „Empfehlungen“ junktimieren kann. Im Klartext: Kein Sozialabbau, kein Geld.

Bereits im Vorjahr hat die Kommission eine sog. „technische Note“ an die Regierungen verschickt, in der diesen angeraten wurde, die Corona-Krise zu nutzen, um „eine starke Dynamik für eine ehrgeizige Reformagenda“ zu entfachen. Diese werde „wirtschaftliche, soziale und politische Kosten“ verursachen, die „typischerweise spezifische Gruppen treffen“, wie etwa „Arbeiter, Rentner, Beschäftigte im öffentlichen Dienst, Kranke und Familien mit Kindern“ . Kurzum, die breite Mehrheit der Bevölkerung.

Wir sind gewarnt.

Gerald Oberansmayr
(17.2.2021)