Ab 2024 sollen die EU-Fiskalregeln wieder in Kraft treten, die aufgrund der Corona-Krise außer Kraft gesetzt worden sind. Die EU-Kommission schlägt allerdings eine Modifizierung dieser Regeln vor. Was lässt sich bisher abschätzen?
2008/09 fuhr der Neoliberalismus in der tiefen Finanz- und Wirtschaftskrise krachend gegen die Wand. Doch statt einer Abkehr vom neoliberalen Dogma einzuleiten, konnten die EU-Institutionen gemeinsam mit der deutschen Regierung eine Radikalisierung des Neoliberalismus durchpeitschen. Neue EU-Richtlinien (Sixpack, Twopack) und der EU-Fiskalpakt gaben ab 2010/12 der EU-Kommission neue Instrumente zur Hand, um den Mitgliedsstaaten eine harte Austeritätspolitik aufzuzwingen. Und diese nutzte diese ausgiebig (sh. Kasten am Ende des Beitrags), um den Sozial- und Gesundheitsbereich auszutrocknen, öffentliche Investitionen zu beschneiden, Mindestlöhne zu senken, Kollektivvertragssystem zu demontieren und den Arbeitnehmerschutz auszuhöhlen. Vor allem in südeuropäischen Ländern, allen voran Griechenland, führte das zu einer Explosion der Arbeitslosenzahlen insbesondere bei Jugendlichen und zu einer massenhaften Ausbreitung von bitterer Armut. Selbst der Internationale Währungsfonds sprach von einem Fehlschlag dieser Politik, weil sich durch den Einbruch der Wirtschaftsleistung die Verschuldung des Landes weiter stark erhöhte, statt zu sinken.
Welche neuen Regeln?
Unter den Bedingungen der Corona-Krise hätte die Beibehaltung dieser Fiskalregeln wohl zum völligen wirtschaftlichen Kollaps der geführt. Die EU-Institutionen setzten diese Regeln daher ab 2000 aus, zunächst bis 2023, sodann bis 2024. Ab kommendem Jahr sollen die EU-Staaten also wieder in dieses Korsett gezwängt werden, allerdings schlägt die EU-Kommission eine Reform der Fiskalregeln vor:
- Die sog. Maastricht-Konvergenzkriterien, die ein maximals Defizit von 3% des BIP und eine maximale Verschuldung von 60% des BIP erlauben, sollen beibehalten werden, allerdings verliert das Verschuldungskriterium an Bedeutung. Anstelle der sog. Zwanzigstel-Regelung (Verpflichtung zum Abbau der Differenz zwischen der realen Schuldenquote und dem 60%-Ziel um ein Zwanzigstel jedes Jahr) müssen sich „überschuldete“ EU-Staaten nun in einem mit der Kommission ausgehandelten „mittelfristigen Haushaltsstrukturplan“ dazu verpflichten, die Schulden innerhalb von vier Jahren „auf einen sinkenden Pfad der Schuldenquote“ zu drücken, wobei eine Verlängerung dieses Zeitraum auf sieben Jahre möglich ist, „wenn die Mitgliedsstaaten Reform- und Investitionspläne vorlegen, die das BIP glaubwürdig und ausreichend steigern.“
- Künftig soll die Entwicklung der nationalen Netto-Primärausgaben (also die Staatsaugaben ohne Zinszahlungen, Zahlungen von Arbeitslosengeld und durch Steuererhöhungen gedeckte Mehrausgaben) als einziger Indikator genutzt werden, um die Einhaltung des Defizit- und Schuldenkriteriums zu bewerten.
- Die 3%-Defizitregel hingegen soll künftig wieder strikter eingehalten und bei Nicht-Einhaltung leichter sanktioniert werden. Die Sanktionen sollen bis zu 0,5% des BIP des betroffenen Landes aber auch die Suspendierung der Auszahlung von EU-Mitteln umfassen.
Weitere Zentralisierung der Macht bei EU-Technokratie
Weitere Änderungen sind noch möglich, sogar wahrscheinlich, nachdem die deutsche Regierung eine Verschärfung der fiskalischen Regeln fordert. Ob und in welchem Ausmaß durch solche „Reformen“ die verheerenden Folgen der bisherigen Fiskalregeln eingedämmt oder vermieden werden können, ist höchst fraglich. Weniger fraglich dagegen ist: Die Macht der EU-Technokratie wird durch diese „Reform“ wachsen. Denn die EU-Kommission erhält größeren Spielraum, wie sie die jeweiligen nationalen Regierungen behandelt und welche „Strukturreformen“ sie den „Schuldensündern“ mittels der „mittelfristigen Haushaltsstrukturpläne“ aufzwingt. Es geht offensichtlich weniger darum, ganz bestimmte technische Ziele einzuhalten, die wie das 3% bzw. 60%-Kriterien ökonomisch ohnehin willkürlich sind, sondern um die Stärkung der Macht für die EU-Technokratie, den Staaten ganz bestimmte Politiken vorzugeben. Damit werden die gewählten nationalen Parlamente weiter gegängelt, während die Macht wird bei einer Institution zentralisiert wird, die demokratisch kaum belangbar ist und daher besonders eng mit dem Großkapital und seinem Lobbyismus verbandelt ist. Laut der NGO „Lobby-controll“ nehmen schätzungsweise 25.000 Lobbyisten mit einem Jahresbudget von 1,5 Milliarden Euro in Brüssel Einfluss auf die EU-Institutionen. Etwa 70 Prozent von ihnen arbeiten für Unternehmen und Wirtschaftsverbände. Sie genießen privilegierten Zugang zu den KommissarInnen. Die „Drehtür“ zwischen Kommission und Konzernen rotiert fleißig. Ein Beispiel: Ein Drittel der Mitglieder der Barroso II-Kommission wechselte in Jobs zu Unternehmen oder Unternehmensverbänden, die ein „Naheverhältnis“ zu ihrer vormaligen Position als KommissarIn aufwiesen.
„Ehrgeizige Reformagenda“
Die EU-Kommission könnte diese gestiegene Macht dazu nutzen, „überschuldeten“ Staaten – und das sind derzeit nahezu alle westeuropäischen EU-Staaten – „Strukturreformen“ nach ihrem Gusto aufzunötigen. So etwa hat die EU-Kommissions-Vize-Präsidentin Dubravka Suica mit Verweis auf ein EU-Grünbuch die Anhebung des durchschnittlichen Pensionsantrittsalters auf 70 Jahre gefordert. Hauptnutznießer der Verschlechterung öffentlicher Pensionssystem sind die großen privaten Pensionsfonds und Versicherungskonzerne. Die Drehtür zwischen diesen und der EU-Kommission rotiert besonders häufig. Bereits 2020 – mitten in der Coroan-Krise – forderte die EU-Kommission die EU-Staaten in einer „technischen Note“ auf, die Corona-Krise zu nutzen, um „eine starke Dynamik für eine ehrgeizige Reformagenda“ zu entfachen. Diese werde „wirtschaftliche, soziale und politische Kosten“ verursachen, die „typischerweise spezifische Gruppen treffen“, wie etwa „Arbeiter, Rentner, Beschäftigte im öffentlichen Dienst, Kranke und Familien mit Kindern“. (1)
Im „Next Generation Fund“ konnte die EU-Kommission durchsetzen, dass die Vergabe der Mittel damit junktimiert werden kann, dass die Empfängerländer die „Empfehlungen“ der EU-Kommission, die diese im Rahmen des „europäischen Semesters“ an die EU-Staaten verteilt, beherzigen. Die neofaschistische Regierung Meloni in Italien musste zwar heuer sicherlich nicht aus Brüssel dazu gezwungen werden, hunderttausenden ItalienierInnen die Sozialhilfe per SMS zu kürzen, ebenso wenig die französische Regierung Macron die Verschlechterung des Pensionssystems mit Hilfe von Polizeigewalt und eines autoritären Verfassungsartikels gegen eine soziale Massenbewegung und eine Parlamentsmehrheit durchzupeitschen. Mit Wohlwollen wurden diese Einschnitte im Sozialbereich in Brüssel allemal aufgenommen. Bereits heuer hat die Kommission - mit Verweis auf das Wiederinkrafttreten des Fiskalkorsetts ab 2024 - die EU-Staaten aufgefordert, die öffentlichen Ausgaben zurückzufahren.
EU-Fiskalregeln blockieren Erreichen der Klimaziele
Manche erhoffen sich, dass durch die Neujustierung der Fiskalregeln zumindest öffentliche Investitionen nicht mehr in dem Maß eingeschränkt werden, wie durch die bisher geltenden. Doch auch hier gibt es Unwägbarkeiten, denn die gewerkschaftsnahen Kreisen geforderte „goldene Regel“, die kreditfinanzierte öffentliche Nettoinvestitionen grundsätzlich erlaubt, ist nicht vorgesehen. Die Mitgliedstaaten können sich zwar mehr öffentlichen Investitionen durchführen, um den fiskalischen Anpassungspfad zu verlängern, wenn die Kommission zustimmt, dass die Investitionen mit der Schuldentragfähigkeit vereinbar sind. Details zum Bewertungsrahmen von „guten“ und „schlechten“ Investitionen bleiben jedoch unklar. Laut einer Studie des Instituts für internationale Wirtschaftsbeziehungen bräuchte die EU ein Prozent des BIPs an Investitionen im Verkehrs- und Energiesektor, um die Klimaziele zu erreichen. Das wären rd. 146 Milliarden Euro im Jahr. Der Ökonom und Mit-Studienautor Philipp Heimberger, befürchtet, dass auch die modifizierten Fiskalregeln der Kommission „voraussichtlich zu unzureichenden öffentlichen Investitionen auf nationaler Ebene führen werden.“ (2)
Dass im Kommissionsentwurf ein positiver Verweis auf den „Green Deal“ der EU enthalten ist, muss nicht unbedingt optimistisch stimmen, denn mit dem „Green deal“ sollen zwar neue Technologien stimuliert, die neoliberale Agenda aber unangetastet bleiben: globale Markteroberung und Standortkonkurrenz bleiben Trumpf, klimaschädliche Freihandelsabkommen wie z.B. das EU-Merkosur-Abkommen sollen vorangetrieben, der Straßenausbau weiter aus EU-Geldern finanziert, dem Automobilismus durch E-Autos ein zweiter Frühling verschafft werden, statt eine echte Verkehrswende einzuleiten usw..
In einem Punkt kann man sich aber sicher sein: Rüstungsinvestitionen wird die EU-Kommission auf jeden Fall als „gute Investitionen“ anerkennen. Dass der Kommissionentwurf den „Strategischen Kompass“ der EU, mit dem Militärausgaben und Waffenproduktion in den nächsten Jahren „einen Quantensprung“ (3) vollziehen sollen, als „gemeinsame Priorität der Union“ hervorhebt, lässt diesbezüglich keinen Raum für Zweifel.
Gerald Oberansmayr
(Oktober 2023)
Quellen:
- EU-Kommission, Understanding the political economy of reforms: evidence from the EU, Technical note for the Euro-group, 1.9.2020
- Arbeit & Wirtschaft, 12.6.2023
- Rat der Europäischen Union, Der Strategische Kompass, Brüssel, 21.3.2022
KASTEN
Sozialstaat im Visier
Neue EU-Richtlinien (ab 2010) und der EU-Fiskalpakt (2012) haben der EU-Kommission neue Instrumente zur Hand gegeben, die Budgetpolitik der Nationalstaaten zu bevormunden. Der linke EU-Parlamentsabgeordnete Martin Schirdewan hat in einer Studie nachrecherchiert, welche Politik damit verfolgt wurde. Die EU-Kommission hat allein zwischen 2011 und 2018
- 63-maldie EU-Staaten aufgefordert im Gesundheitsbereich zu kürzen bzw. zu privatisieren. Viele der Toten der Corona-Krise – gerade in Ländern wie Italien und Spanien - gehen auf das Konto dieser brutalen Austeritätspolitik.
- 50 Malwurde zwischen 2011 und 2018 an die Mitgliedstaaten die Aufforderung gerichtet, das Lohnwachstum zu unterbinden
- 39 Malwurde die Anweisungen zur Verringerung der Arbeitsplatzsicherheit, des Beschäftigungsschutzes und der Rechte von ArbeitnehmerInnen und Gewerkschaften auf Tarifverhandlungen erteilt
- 109 Malwurden Kürzungen und Verschlechterungen bei Pensionen gefordert
- 45 Malwurden Forderungen gestellt, die darauf abzielen, die Leistungen für Arbeitslose, schutzbedürftige Menschen und Menschen mit Behinderungen zu verringern oder zu streichen.