ImageUniv. Prof. Dr. Rupert Vierlinger, langjähriger Direktor an dier Pädagogischen Akademie der Diözese Linz, plädiert für die "Direkte Leistungsvorlage" anstelle des Ziffernnotensystems. Denn dieses überkommene Prüfungswesen ist "ein Spiel mit gezinkten Karten", das die Schule in einen "Hunderennplatz" verwandelt. Die "Direkte Leistungsvorlage"  sieht Vierlinge als "kopernikanische Wende" in der Pädagogik, die die Lernmotivation befreit, die Zusammenarbeit fördert und das soziale Klima an den Schulen wieder sanieren kann.

 

  

1. Der Umgang mit Ziffernnoten gleicht einem Spiel mit gezinkten Karten


Jedes Instrument, das der Messung und Beurteilung eines Sachverhaltes dient, muss drei Gütekriterien entsprechen: der Objektivität, der Reliabilität und der Validität. Übertragen auf das schulische Mess- und Beurteilungsinstrument namens Ziffernnote verlangt die Objektivität, dass das Kalkül unabhängig von der Person des Lehrers (1) sein muss. Reliabel bzw. zuverlässig ist es dann, wenn der Prüfer eine Leistung bei wiederholter (zeitlich verschobener) Vorlage gleich benotet. Valid bzw. gültig ist es, wenn derjenige Leistungsbereich gemessen und beurteilt wird, der als Gegenstand dieser Handlungen angegeben worden ist.


Eine Unmenge von Forschungsdaten aus dem 20. Jh. bestätigt in großer Einhelligkeit, dass die Ziffernnote jedes der drei Kriterien verfehlt.

 

Objektivität:

Im Rahmen eines Vortrages über das Kriterium der Objektivität habe ich in den Neunzigerjahren rund 200 Experten des oberösterreichischen Schulwesens (Landes- und Bezirksschulinspektoren, Direktoren, Fachgruppenleiter etc.) folgenden Aufsatz eines elfjährigen Bauernkindes vorgelesen, den es zum Thema „Ein schöner Herbsttag“ geschrieben hatte:

Vor ein paar Tagen sagte mein Vater zu mir: „Bua, morgen ziagst di besser an, wir fahren in die Stadt.“ So sind wir nach Urfahr gefahren. Von dort gingen wir zu Fuß über die Donaubrücke nach Linz. Dort besuchten wir einen Optiker. Er sah mich an und sagte: „Bua, du schiagelst ja.“ Dann musste ich viele größere und kleinere Buchstaben lesen. Jedes Mal fragte er: „Ist es so besser oder so?“ Ich sagte es ihm. Dann bekam ich Brillen. Jetzt schiagle ich nicht mehr. Das war mein schönster Herbsttag. 

Die Experten sollten für Inhalt und Sprachgestaltung eine Note geben. An die 10 Personen zeigten bei der Note „fünf“ auf, weil doch „offensichtlich das Thema verfehlt“ sei. Etwa gleich viele (2) stimmten für ein „Sehrgut“. Ihnen hatte es die Originalität angetan und die schöpferische Verfremdung des Themas zu „Mein schönster Tag im Herbst“. Rund 50 waren für die Note „vier“, etwa gleich viele für „zwei“. Der Rest von etwa 90 Personen entschied sich für ein „Befriedigend“ (Vierlinger, R., 1999, S. 41).

Die leicht pikierten Experten haben sich zur Wehr gesetzt und darauf hingewiesen, dass schöpferische Sprachgestaltungen einer rein hermeneutischen Deutung unterlägen, bei der nun einmal nicht die Exaktheit möglich sei wie etwa in der Mathematik.

Es liegen aber zahlreiche empirische Untersuchungen vor, die auch in diesem Gegenstandsbereich erschreckende Mängel in der Objektivität nachweisen. Wenigstens zwei Begründungen seien genannt: Es kommt vor, dass Lehrer auch in der Mathematik Fehler sehr ungleich gewichten: Der eine begnügt sich mit dem Durchschauen des Algorithmus, der andere achtet penibel auf die korrekte Durcharbeitung bis zum richtigen Endergebnis. Der letztlich ausschlaggebende Faktor aber dürfte im nicht selten höchst unterschiedlichen Niveau liegen, das die einzelnen Schulklassen einerseits aus Gründen ihrer Zusammensetzung, andererseits aber auch wegen des Unterschiedes im Engagement und in der methodisch-didaktischen Kompetenz der unterrichtenden Lehrer erzielen. Wie anders wären die Daten aus der berühmten Untersuchung von Karl Heinz Ingenkamp aus Berlin verstehbar, die sich auf 37 Klassen des sechsten Schuljahres bezog, dem letzten Jahr, in welchem dort die Schüler noch heterogen beisammen sind. Bei jedem Einzelnen wurde der von ihm erreichte Punktwert aus einem mathematischen Schulleistungstest seiner letzten Zeugnisnote gegenüber gestellt. Neben den vom Kenner der Verhältnisse erwarteten „normalen“ Abweichungen gab es eine ganze Reihe von Klassen, die in ihrer Leistung so weit auseinander lagen, dass der Punktwert, mit dem man in der einen Klasse den besten Zweier bekam, weit unter dem Wert lag, mit dem man in der anderen nicht einmal zu den „Vierer-Kandidaten“ zählte (Ingenkamp, K.H., 19959, S. 197).

Diese Daten unterstellen nicht, dass der einzelne Lehrer ungerecht sein will! Zweifellos kann er seine Schüler – wenn es denn sein muss? – insbesondere in den Disziplinen mit zähl- und messbaren Daten in eine stimmige Rangreihe bringen. Was ihm aber nicht gelingen kann ist, die Subjektivismen (curriculare Schwerpunktsetzungen (3), Niveau der Gestaltung des Unterrichts, normative Vorstellungen etc.) auszuschalten, die den Vergleich der von ihm vergebenen Noten mit denen aus der Feder der Kollegen – und schon gar derer aus anderen Schulen – höchst riskant werden lässt.

Reliabilität und Validität:

Die Gütekriterien Zuverlässigkeit und Gültigkeit halten der Überprüfung kaum besser stand als das Kriterium der Objektivität. Wenn zum Beispiel Klausurarbeiten - etwa im Rahmen von Lehramtsprüfungen - den Prüfern einige Monate nach der Erstkorrektur wieder vorgelegt würden, gereinigt von den seinerzeitigen Eintragungen und der Note, müsste jeder Kandidat wieder dieselbe Note bekommen. Welcher Lehrerbildner könnte sich dafür verbürgen? Für den Statistiker wird eine bestimmte Anzahl von Veränderungen tolerierbar sein; der Pädagoge aber müsste schon wegen des Missgeschickes, das auch nur einen Prüfling trifft, Schuld empfinden.

Aus der einschlägigen Forschung sei die schon in der Zwischenkriegszeit vorgelegte Arbeit von Hartog & Rhodes genannt (zit. nach Ingenkamp, K.H., 19959, S. 80-82), deren erster Teil nochmals die fehlende Objektivität belegt: 15 Prüfungsarbeiten aus Geschichte, die vom Examination Board mit einer mittleren Note bewertet worden waren, wurden weiteren 15 Prüfern zugeleitet. Der Leser wird angesichts der Zustände im Bereich der Objektivität nicht erwarten, dass sie alle die mittlere Note bestätigt hätten. In der Tat stellten sich gewissermaßen „pünktlich“ die geradezu obligaten Abweichungen ein: Von den 96 möglichen Punkten vergaben die strengsten Prüfer 21, die mildesten 70. Nach einem Jahr wurden die Arbeiten von 14 der seinerzeit 15 Prüfer nochmals bewertet. An den Extremwerten änderte sich wenig; sie streuten nun von 16 bis 71. Das war u.a. darauf zurück zu führen, dass die Durchschnittswerte der einzelnen Prüfer ziemlich konstant blieben. (Es scheint, dass Korrektoren ein je individuelles Anspruchsniveau herausbilden und auf Dauer stellen.) Innerhalb dieses Rahmens aber wurden die Zensuren der Geschichtsarbeiten wie die Figuren eines Brettspieles verschoben. Obwohl nur drei Kalküle zur Verfügung standen (mit Erfolg bestanden – bestanden – nicht bestanden), hat jeder Prüfer Veränderungen vorgenommen. Einer hat dies sogar bei acht von den 15 Arbeiten getan.

Die Gültigkeit des Lehrerurteils wird durch den Einfluss von Stereotypien in Frage gestellt. Maria Zillig hat gefunden, dass in den Heften schwacher Schüler deutlich weniger Fehler übersehen werden als in denen der guten. „Kann denn aus Nazareth etwas Gutes kommen?“ mögen sich die Zensoren im übertragenen Sinn gefragt haben, als sie das Heft eines Sorgenkindes bereits schließen wollten, ohne das sprichwörtliche Schlachtfeld angerichtet zu haben. Bei genauerem Hinsehen hat sich dann schon noch Einiges aufstöbern lassen (Zillig, M., 1928, S. 58-106).    

Rudolf Weiss hat vor zwei getrennten Lehrergruppen die Herkunft eines Aufsatzschreibers manipuliert. Der einen Gruppe von Zensoren hat er gesagt, der Schreiber stamme aus sprachlich  anregendem Hause; bei der anderen hat er den Schüler aus der „Gosse“ kommen lassen. Sogar im Rechtschreiben, in welchem das doch eher unkomplizierte Zählen der Fehler den Ausschlag gibt, schlug das Milieu durch: Dem Schüler aus vermeintlich gutem Hause gaben 40 % ein Gut, dem anderen nur 7 %. Die Genügend wurden im Verhältnis von 8 zu 38 vergeben (Weiss, R., 1968, S. 62).

Im Anschluss an eine Vorlesung vor Lehramtsstudenten, in der ich sie auf die Gefahr diverser Voreingenommenheiten gegenüber den Schülern aufmerksam gemacht hatte, bat ich sie um die Beurteilung des Inhaltes eines Aufsatzes, den ein Dreizehnjähriger mit der „Klaue“ der Vorpubertät - also ziemlich verlottert - geschrieben hatte. In meine Bitte schloss ich ausdrücklich den Hinweis ein, die Schrift und die Formgebung nicht zu beachten. Die von den Studenten erzielte Notenstreuung hatte ihren deutlichen Kulminationspunkt bei der Note „drei“. Der nächsten Vorlesungsgruppe, einer gleich ausgebildeten Hundertschaft von Studenten, schrieb ich den Aufsatz in schöne Schulschrift um. Der Kulminationspunkt lag diesmal bei „zwei“.

Peter Birkel hat die fehlende Validität bei einer mündlichen Abiturprüfung in Geographie nachgewiesen. Er hat von den Ausführungen einer Studentin, die mit der Note „drei“ abgeschlossen hatte, ein Transkript angefertigt und die Szene von einer schauspielerisch begabten Kommilitonin in zwei Varianten nachspielen lassen: Das eine Mal hatte sie den Text flüssig zu sprechen, wobei sie 16 Minuten brauchte, das andere Mal stockend (21 Minuten). Jedes Band wurde einer von zwei verschiedenen Gruppen von Gymnasiallehrern der Geographie (je 51) vorgespielt. Bei jeder Version gab es erwartungsgemäß eine große Streubreite der Noten, aber mit deutlich verschiedenen Schwerpunkten. Die flüssige Version erzielte die Durchschnittsnote 2,57, die stockende 3,44 (Birkel, P., 1993, S. 181/82). Hat es sich, so möchte man fragen, um die Überprüfung von Kenntnissen aus der Geographie gehandelt oder um das Küren einer Fernseh-Sprecherin?

In jedem anderen Leistungsbereich unserer Hochkultur würde ein Instrumentarium zum Müll geworfen, wenn die Überprüfung seiner Gütekriterien zu einem ähnlichen Desaster wie bei den Schulnoten führte. Die Lehrer in unseren Schulen aber werden nach wie vor gezwungen, mit dem untauglichen Besteck der Ziffernzensur über ihre Schüler schicksalsträchtige Entscheidungen zu treffen und ihnen Lebenschancen zuzumessen. Die Schulbürokratie mancher Länder berechnet aus diesem Zahlenmaterial Zugangsberechtigungen auf Zehntel- und Hundertstelstellen, obwohl schon die Einerstellen nicht stimmen. Doppelt ungerecht werden solche Manipulationen, weil sich Mittelwertsberechnungen bei Nominal- und Ordinalskalen verbieten; das Niveau von Intervallskalen (invariante Abstände) oder gar von Verhältnisskalen (absoluter Nullpunkt) aber wird von Noten nicht erreicht. -

John Rawls bezeichnet die Gerechtigkeit als die oberste Tugend von Sozialsystemen und vergleicht sie mit der Wahrheit als der obersten Tugend von Denksystemen. „Eine noch so schöne und prägnante Theorie muss verworfen werden, wenn sie unwahr ist“, sagt er und fährt fort: „Ebenso müssen noch so gut funktionierende Institutionen (wie die Leistungsbeurteilung mit Hilfe der Ziffernzensur – R. V.) geändert oder abgeschafft werden, wenn sie ungerecht sind!“ (Rawls, J.A., 1979, S. 19)
 


2.  „Direkte Leistungsvorlage“ als Alternative zum Zensurenzeugnis 

Die „Direkte Leistungsvorlage“ (DLV) –  synonym mit Portfolio (4) - kann als kopernikanische Wende angesehen werden.

Das bisherige System zeigt dem Adressaten der Schulnachricht über die Leistung eines Kindes nicht diese selbst, sondern ein Stellvertreter-Zeichensystem: Der Lehrer nimmt das vom Kind erreichte Leistungsniveau zur Kenntnis und transferiert es nach seinem Gutdünken in einen Code: die Ziffernnote. Der Adressat (weiterführende Schule, Firmen- bzw. Personalchef etc.) bekommt nur die Note zu Gesicht. Er transferiert sie nach seinem Gutdünken in eine bestimmte Vorstellung von der zu erwartenden Leistungsfähigkeit. Dass bei diesem Prozess Phänomene wie beim Gesellschaftsspiel „Stille Post“ auftreten wird denjenigen nicht verwundern, der die Ausführungen über die Gütekriterien gelesen hat.

Zur Kategorie der Stellvertreter-Systeme gehören auch die bisher versuchten Alternativen, wie die verbale Beurteilung, die Pensenbücher der Maria Montessori und deren Variationen (Lernberichte, Entwicklungsberichte u. a.) (5) Bei der DLV klinkt sich der Lehrer als der den Lernprozess des Schülers besiegelnde Richter und Zensor aus; er bevormundet den Adressaten nicht mehr, sondern lässt diesen die Leistung selbst sehen und begutachten. (Wo sonst als in der traditionellen Schule liefert der Produzent, der Lehrer, auch gleich selbst das Gutachten über das Produkt mit?) Wie der Aktionär seine Wertpapiere in einem Portfolio sammelt, so legt der Schüler unter Assistenz des Lehrers seine signifikanten Arbeitsergebnisse in eine womöglich selbst gebastelte Mappe und zeigt sie dem Adressaten.

Das Portfolio des Schülers enthält exemplarische Belegstücke aus allen Gegenständen; die Liste reicht von der schriftlichen Sprachgestaltung in den angebotenen Sprachen bis zum Notenblatt in der Musik, vom mathematischen Test bis zu statistischen Daten in den sportlichen Disziplinen und von  Zeichen-und Malarbeiten bis zu Berichten über diverse Forschungsprojekte. Zum Portfolio können aber auch Beilagen gehören wie Werkstücke, Fotos und audio-visuelle Reports, die über mündlich vorzutragende Kenntnisse und Fertigkeiten oder auch über dramaturgische Leistungen Auskunft geben (vgl. u.a. die Anregungen in: Brunner, I. / Schmidinger, E., 2001, und in: Winter, F. / A. von der Gröben, / Lenzen, K.D, 2002).

Mit dem Hinweis auf die exemplarische Auswahl soll auch ausgedrückt werden, dass die Mappe, das Portfolio, keineswegs anschwellen muss. Angenommen, als Beleg für die schriftliche Sprachgestaltung einer zehnjährigen Bewerberin für das Gymnasium läge nichts Anderes vor als folgender Aufsatz zum Thema „Rätselgeschichte - Beschreibung eines Gegenstandes“:

Ich kenne in unserer Klasse ein lustiges Ding. Es hat einen zierlichen Kopf mit vier schwarzen Ohren, einen langen dünnen Hals, einen breiten Rumpf, aber keine Beine. Es liegt fast den ganzen Tag im weichen Bett und schläft. Um 12 Uhr holt es ein Kind heraus. Wenn das Kind sein Ding streichelt, wird es sofort munter und singt die schönsten Lieder und Stücke. Wenn es schon lange gesungen hat, klingt es manchmal falsch. Dann dreht es die Lehrerin an den schwarzen Ohren – und gleich macht es seine Sache besser. Weißt du, was es ist? (Darunter zeichnet sie eine Geige.)

Ist nicht dieses Blatt allein schon bei weitem aussagekräftiger als eine Gesamtnote in Deutsch? Wer wegen der empfohlenen knappen Auswahl in Sorge ist, möge sich auch vergegenwärtigen, wie spärlich doch vielfach die Daten sind, auf der die Note des Lehrers basiert. (Wie oft wird denn eigentlich ein Sekundar-Schüler in den so genannten Lerngegenständen geprüft?) Der Lehrer ist selbstverständlich immer eingeladen, die Arbeitsergebnisse wie auch den Arbeitsprozess zu kommentieren und Interpretationshilfen beizufügen. Die DLV sichert sich somit alle Vorteile der verbalen Beurteilung, sie vergisst aber nicht, dasjenige auch her zu zeigen, worüber „geredet“ wird. Mit seiner Signatur bestätigt der Lehrer, dass die Arbeit vom Schüler selbst stammt. Betrügerische Manipulationen verbieten sich im Übrigen von selbst, weil doch beispielsweise der Firmenchef über den vorgelegten Leistungsnachweis ein Gespräch beginnen oder ein analoges Beispiel aus dem Firmen-Alltag (Rechenexempel etc.) stellen kann. Der Bewerber kann sich hier nicht mit: „Das haben wir nicht gelernt!“ ausreden, was beim Notenzeugnis jederzeit möglich ist.

Wenn gesagt worden ist, dass sich der Lehrer als Richter und Zensor ausklinkt, dann muss vor dem Missverständnis gewarnt werden, als bräuchte er nicht mehr zu sagen, was richtig und was falsch ist. Als Führer im Auseinandersetzungsprozess der Schüler mit dem Kulturgut muss er wie ein Trainer in der sportlichen Übungsstätte ständig Stellung nehmen, muss loben und auch tadeln, muss konstatieren, dass etwas in die falsche Richtung geht, und er muss vor allem sagen und zeigen können, wie etwas besser gemacht werden kann. Das Neue an der DLV ist, dass sie den Lehrer nicht mehr wegbeordert von der Seite des Lernenden, dass sie den Trainer nicht mehr zwingt, in die Robe des Richters zu schlüpfen, der den Spruch über Aufnahme und Ablehnung in weiterführende(n) Institutionen bzw. in den diversen Berufsfeldern zu formulieren hat.

Dass die Wirtschaftstreibenden die DLV akzeptieren würden, hat eine Studie in Bayern ergeben (Palme, G., 1996), bei der von den 90 befragten Verantwortlichen für die Lehrlingsaufnahme 82 % sofort zur Übernahme dieser neuen Form der Schulnachricht bereit gewesen wären. 9 % wollten für eine gewisse Übergangszeit auch das Zeugnis mitgeliefert haben, die restlichen 9 % auf Dauer. Zu den Begründungen für diese z.T. geradezu begeisterte Zustimmung gehören Sätze wie: „Da kann ich mir selbst ein Bild machen und das ansehen, was für unseren Betrieb wichtig ist.“ Ganz ähnlich erfüllt die DLV die Berichts- und Berechtigungsfunktion der Schulnachricht auch beim schulischen Um- und Überstieg: “Wenn Sie mir ein Notenzeugnis vorlegen und die Eignung für den Besuch des Gymnasiums vermerken, muss ich es Ihnen glauben“, hat die Direktorin eines Gymnasiums zu einem Grundschullehrer gesagt, der probeweise Leistungsmappen anstelle der offiziellen Zeugnisse vorgelegt hat. „Würden aber alle Bewerber solche Leistungsmappen vorlegen“, fuhr sie fort, „dann könnte ich eine Kommission zusammenstellen und wir dürften die Auslese nach unseren Standards durchführen“ (Zangerl, L., 1994, S. 176-78).

Es ist leicht abzusehen, dass diese Neuerung auch dazu führen würde, dass sich die Universitäten die Studierenden selbst auswählen und dass ganz allgemein über Aufnahme oder Ablehnung nicht mehr die vorangehende Institution entscheidet, sondern die nachfolgende; sie kennt ihr Anspruchsniveau besser. Damit wäre eine bedeutsame Innovation im gesamten Berechtigungswesen angestoßen, weil doch nicht mehr gefragt würde: „Was hast du für Zeugnisse?“ sondern: „Was kannst du?“

1992 hat eine Gruppe von Volksschullehrerinnen in Salzburg/Lehen einen Schulversuch mit der DLV begonnen. 1995 hat die Lernwerkstatt Brigittenau in Wien die Idee aufgegriffen. Mittlerweile arbeiten in Österreich Hunderte von Lehrern mit der DLV bzw. mit Portfolios, darunter auch bereits Lehrer an Gymnasien (vgl. Andexer, H. / Paschon, A. / Thonhauser, J., 2001). Die Abschlusszeugnisse am Ende der einzelnen Schultypen aber müssen auf Geheiß der Behörde auch in den Versuchsklassen nach wie vor mit Noten gefüllt werden.                

                                           

3. Die DLV distanziert sich von der Kollektivnorm 

Wer einen Sachverhalt misst und das Ergebnis beurteilt, muss sich an einer Norm orientieren. In unserem Zusammenhang bieten sich drei Normen an: Die Sachnorm bzw. die Orientierung an den Kriterien der gestellten Aufgabe. Auf einer Lernzielliste kann beispielsweise abgehakt werden, welche Teilziele bearbeitet worden sind und welchen Rang ihre Beherrschung einnimmt.

Die Individualnorm lenkt den Blick auf den Leistungszuwachs beim einzelnen Schüler; sie vergleicht beispielsweise die Ausgangssituation eines Lernprozesses mit dem Status quo.

Die Kollektivnorm wird üblicherweise Sozialnorm genannt. Weil aber mit dem Wort sozial ein ganz anderer Kontext assoziiert wird als das Ranking in einem rivalisierenden Aggregat, sei vom Kollektiv gesprochen. Das Ziffernnoten-Zeugnis orientiert sich am fiktiven Mittelmaß der Klasse und damit an der Kollektivnorm. „Um eine Schülerarbeit beurteilen zu können, muss man den Mittelwert der Klassenleistung kennen!“ haben die obgenannten Schulexperten anklagend gesagt, als ihnen das Debakel bei der Beurteilung des Aufsatzes vom „schönen Herbsttag“ passiert ist. Mit dem Bekenntnis zu dieser Praxis haben sie im Übrigen gezeigt, dass die behördlichen Anmahnungen, den Blick auf das individuelle Kind zu richten, wenig fruchten. Wenn das für Unterricht zuständige Ministerium selbst die Note „drei“ in der Weise definiert, dass sie vergeben werden soll, wenn das Wesentliche zur Gänze beherrscht wird, zementiert es unweigerlich die Ideologie der Normalverteilung.

Dies ist durchaus logisch und stringent gedacht, denn die Ziffernnote und die Individualnorm sind nun einmal nicht kompatibel. Wenn der Lehrer den schwach begabten Schüler wegen seines Fleißes mit „gut“ honoriert und den Begabten wegen seiner Faulheit schlecht benotet, weil dieser die bereits am Beginn der Lernperiode vorhandenen respektablen Kenntnisse kaum vermehrt hat, dann macht er sich gegenüber der Berichts- und Berechtigungsfunktion der Schulnachricht schuldig: Der Arbeitgeber würde den mit „gut“ beurteilten Bewerber nehmen und täte damit im Hinblick auf den erwarteten Leistungsstatus einen folgenschweren Fehlgriff. Die systemkonform gegebene Ziffernnote kann den Erfolg des Schwachen nicht sichtbar machen. Wenn ihn die schlechte Note im letzten Jahreszeugnis nicht bereits demotiviert hat, arbeitet er im neuen Schuljahr weiter – mit geringen Kräften zwar, aber doch. Die Anderen, die vom Schicksal Begünstigten, arbeiten aber auch. Er müsste über mehr Kraft und Ingenium als diese verfügen, um einige Konkurrenten überflügeln zu können. So aber wird ihm die nächste Jahresnote die Position des Aschenputtels aufs Neue bestätigen.

Die DLV orientiert sich ausschließlich an der Sachnorm und an der Individualnorm. Was wäre sachlicher als die Sache selbst, die sie unverstellt zeigt? Wer würde bezweifeln, dass die Kunstuniversität angesichts der Zeichnungen und der Malarbeiten in der Mappe des Studienanwärters und seiner praktischen Arbeiten an Ort und Stelle mehr über die Eignung weiß als ihr die Note sagen kann? Ähnlich verhalten wir uns bei allen Auswahlverfahren im täglichen Leben: Wir verkosten die Brötchen der in Reichweite vorhandenen Bäcker, ehe wir uns für einen entscheiden, und überprüfen die Entwürfe der Architekten etc; nach den Noten in den Diplomen der Anbieter fragen wir nicht. Die Begutachtung und Würdigung der individuellen Arbeiten als solchen gibt nicht nur den schulischen Produktionen die Würde zurück, sondern auch dem Schüler selbst. Seine Musterstücke werden an seinen subjektiv gegebenen Möglichkeiten gemessen; sein jeweiliger, Einsatz sichert ihm den individuellen Erfolg, der im Lernprozess – und nicht nur da – das Erfolgreichste ist, was es gibt. Die DLV erlöst die Schulnachricht von der emotionalen Blindheit im Hinblick auf die Individuallage des Schülers, weil sich doch die Schülerpersönlichkeit in ihren Werken ausdrückt. Der Betrachter kann in ihnen lesen wie der Graphologe in der Schrift. Darüber hinaus ist der Lehrer eingeladen, mit seinem Kommentar auch einen Einblick in die Lebensumstände zu geben,  die den Schaffensprozess des Schülers beeinflussen (vgl. Bambach, H., 1994).

Die DLV erlaubt auch eine individuelle Modifikation der diversen Kontrollphasen im Schulalltag. Pars pro toto sei auf den Zeitfaktor verwiesen. Es bedarf beispielsweise keines Appells mehr zur zeitgleichen Abgabe der Hefte bei schriftlichen Prüfungen. Der Lehrer darf dem Schüler die Zeit gönnen, die er benötigt. Er kann den Vermerk anfügen, dass die vorliegende Leistung in x Minuten erbracht worden ist.Die DLV beendet auch die in den Schulen übliche Praxis, dass die Note nicht die unverfälschte Endleistung des Schülers zum Ausdruck bringt (zu bringen versucht), sondern eine Art Mittelwert aus den über das ganze Jahr verstreuten Recherchen. In additiv strukturierten Fächern mag dies einigermaßen sinnvoll sein. In sequentiell aufbauenden Disziplinen aber wird bei diesem Vorgehen eine Art Strafverfahren eingeleitet: Wegen seiner Faulheit im ersten Semester muss der Schüler belangt werden, auch wenn er im zweiten Semester aufgeholt hat. – Die DLV misstraut dieser repressiven Grundhaltung, weil sie weiß, dass man mit einem Löffel voll Honig mehr Fliegen fängt als mit einem Fass voll Essig. Sie zeigt daher vor, was der Schüler endgültig erreicht hat und was er hic et nunc zu leisten imstande ist. 


4. Die DLV stärkt das Lernen um der Sache willen 

Die Apologeten der Zensurenzeugnisse befürchten einen Niedergang der Lernleistungen, wenn die Drohung der schlechten Noten wegfällt. Sie übersehen, dass die Lernergebnisse in unseren Schulen trotz des permanenten Notendrucks zum Teil sehr mittelmäßig sind (vgl. die Klagen der Wirtschaftsuniversitäten über die Mathematikkenntnisse der Maturanten (Schneider, W., 1998, S. 271-94); auch die Ergebnisse der internationalen Vergleichsstudie PISA bei den „schulmündigen“ Jugendlichen zeigt, dass uns die Spitzenländer mit Pflichtschulen ohne Noten mit gehörigem Abstand vorauseilen. Anders gewendet: Wo bleibt der antreibende Effekt des Bombardements mit „Nicht genügend“ beim alarmierenden Prozentsatz derjenigen, die in neun pflichtigen Schuljahren nicht lesen gelernt haben? 

Die Verfechter des Notendrucks übersehen auch, dass er vielfach das Lernen um der Noten willen provoziert und das Interesse an der Sache verdrängt. Die Konsequenz dieser Pseudo-Lernhaltung ist, dass das Lernen abgebrochen wird, sobald die Note stimmt. Stimmig ist sie für den Jugendlichen aber vielfach schon dann, wenn die Gefahr des Strauchelns gebannt ist. Ein Schüler der gymnasialen Oberstufe, der noch in der Unterstufe Auszeichnungen nach Hause gebracht hatte, wurde von seiner Mutter gerügt, weil seine Zeugnisse mittlerweile eine Schwemme von Vierern enthielten. Gelassen klärte er sie auf: „Weißt, Mama, ein Vierer ist genau richtig; da braucht man nicht zu viel tun – und die Ferien sind doch gesichert.“

Aber selbst wenn gute Noten angestrebt werden, ist noch lange nicht verbürgt, dass sie eine intensive Auseinandersetzung mit der Sache zur Voraussetzung haben. Jede Befragung bestätigt, dass das sogenannte Schwindeln in unseren Schulen einen hohen Stellenwert hat. Ein Gutteil der vergnüglichen Erinnerungen, die bei Matura-Jubiläen aufgetischt werden, betrifft die Durchtriebenheit, mit der seinerzeit die staatlichen Siegelbewahrer übers Ohr gehauen worden sind. Trotz aller Verharmlosung handelt es sich letztlich um Betrug, den die Zensurenschule in den prägsamsten Jahren mit der heranwachsenden Generation einübt. Der Verzicht auf Noten wird nicht nur von internationalen Vergleichsstudien legitimiert, sondern auch von den Ergebnissen zahlreicher „Freier Schulen“ ohne Noten: Würden denn die Eltern von deren Schülern große Summen ausgeben wollen, um Lerndefizite einzukaufen?

Die Schubumkehr, welche die DLV geradezu notgedrungen im Hinblick auf die Arbeitshaltung bewirkt, hat eine Gruppe von Schülern der Sekundarstufe II nach der Kenntnisnahme dieser neuen Form der Schulnachricht (6) zu der Äußerung veranlasst: „Das ist nichts für uns; da müssten wir ja etwas tun!“ Schon von den sehr jungen Schülern des Wiener Schulversuches zur DLV wird eine Steigerung der Lernmotivation berichtet: “Vom Sammeln der besten Arbeiten“, heißt es im Bericht einer Schule, „scheint eine Motivation auszugehen, etwas noch besser zu machen, noch mehr auszuprobieren oder zu entdecken“ (Fürlinger, M., 1997, S. 99).

Wenn die Sache zählt, freuen sich die Schüler über die Leistungen, die aus ihrer Klasse kommen. Wenn aber das Gerangel um die guten Noten stilbildend ist, unternehmen die Schüler einiges, um die positiven Noten zu verbilligen. Sie entwerfen Strategien des Mobbings gegen die kulturell besonders Interessierten; sie nennen diese „Streber“ oder „Schweinchen schlau“ und pfeifen sie mit sozialem Druck von der Front der Kulturbegegnung zurück in den Trott des Mittelmaßes (Johnson, D.W. / Johnson, R.T., 1992, S. 44-47).

Die Umpolung von den Noten auf die Sachgesetzlichkeiten des Lernens, die von der DLV bewerkstelligt wird, befreit den Lehrer von manchen Konflikten, in die ihn das Zensurenwesen verstrickt. Wenn er nämlich berechtigt ist, als Mandatsträger einer Macht aufzutreten, welche über die Lernkarriere der Schüler urteilt und damit auch über ihre Zukunft mitbestimmt, besteht die Gefahr, dass sie ihn in der Ambivalenz von Gönner und Widersacher sehen: „Hätte er mir die bessere Note gegeben, dann...“ – Bei der DLV liegen die Leistungen in jeder Disziplin offen auf und können außerdem vom Schüler bis unmittelbar vor seiner Bewerbung noch aufgebessert werden. Verdächtigungen und böse Anschuldigungen, wie sie aus dem Zeugnisalltag mühelos und zuhauf aufgelistet werden könnten, sind damit passe.

Wenn bei der direkten Vorlage der Leistung des Schülers diese gleichsam ihre Würde behält, auch wenn ihr Wert bescheiden ist, wenn der Lehrer nicht mehr aufgerufen ist, über sie den Stab zu brechen (sie notenmäßig zu taxieren), dann weicht von den Schülern ein Gutteil der Angst, die von der Forschung in erschreckend hohem Ausmaß diagnostiziert wird – und das seit vielen Jahren (Lukesch, H., 1981, S. 21. Helmke, A., 1983, S. 329. Eder, F., 1997, S. 417). Es sind keinesfalls nur die am Rande des Absturzes Stehenden, welche große Angst haben. (Es sei denn, dass sie unter der nicht enden wollenden Serie von Tiefschlägen bereits paralysiert und zu Lernverweigerern geworden sind: Wer sich nicht beteiligt, läuft nicht Gefahr, blamiert zu werden.) Angst erfüllt auch viele gute Schüler; es ist die Angst vor der Verschlechterung und dem damit gekoppelten Prestigeverlust. Dass die Angst ein schlechter Lehrmeister ist, weiß die Psychologie seit den Tagen der klassischen deutschen Gedächtnispsychologie. Sie beflügelt nicht das Denken - wie die an neue Herausforderungen gekoppelte Erregung -, sondern lähmt es (Spitzer, M., 2002, S. 164). Das mancherorts vorgetragene Plädoyer für das Zensurensystem wegen der quasi heilsamen Angst vor den schlechten Noten ist schlichtweg kontraproduktiv.

Die DLV verhindert schließlich auch die Katastrophen, die Lehrpersonen mit krankhaften Charakterzügen anrichten, indem sie mit Hilfe der Noten zynische und sadistische Tendenzen an den Schülern ausagieren. Sie mögen nicht in der Größenordnung von Prozent-Rängen auftreten, aber auch in den Promille-Rängen haben sie es mit Kindern zu tun, die in die Schule gekommen wären, um von freundlichen Menschen angenommen und begleitet zu werden. Jede Studentengeneration berichtet von gar nicht so wenigen Lehrern, deren Umgang mit Noten zu Formen des Psychoterrors ausartet und die dabei auch noch Vergnügen zu haben scheinen. Wohl ist das Medium der DLV kein Mittel der Therapie, aber es verführt nicht wie die Zensuren zu solchem Gehabe, sondern ruft zur Besinnung. Es entgiftet schließlich auch das Verhältnis zwischen Elternhaus und Schule, das durch zahlreiche noten-bedingte Konfrontationen getrübt ist, mit denen sich in steigendem Maße sogar die Gerichte befassen müssen. 


5. Die DLV saniert das soziale Klima in der Schulklasse 

Ich habe eine Hauptschulklasse betreten, in der soeben die Mathematik-Schularbeitshefte zurück gegeben worden waren. Wer kennt nicht die nervöse Gereiztheit, die von solchen Aktionen ausgelöst wird, die verstohlenen Blicke auf die Hefte der Mitschüler und die Strategien des Umgangs mit dem eigenen Heft. Der Lehrer hat mir gestattet, die Schüler zu bitten, sie mögen anonym auf einen Zettel schreiben, was ihnen jetzt durch den Kopf geht. 18 von den 28 Schülern haben etwas mitgeteilt. Auf die Sache selbst (Aufklärung über Richtiges und Falsches etc.) hat keiner Bezug genommen, aber 12 haben Schadenfreude und Überheblichkeit oder Neid und Eifersucht zum Ausdruck gebracht: „Ich freue mich, weil der Nachbar eine schlechtere Note hat.“ „Wenn Sylvia eine bessere Note hat, werde ich eifersüchtig.“ „Ich beneide die sehr, die eine bessere Note geschrieben haben.“ - Lediglich drei haben Mitgefühl geäußert: „Ich bin froh, dass mein Nachbar auch eine gute Note hat.“ – Weitere drei haben keinen Vergleich angestellt, sondern ihre eigene Note kommentiert: „Ich bin froh, ich werde von meinen Eltern nicht beschimpft.“ (Vierlinger, R., 1999, S. 92)

Das Notensystem trägt nach wie vor das Brandzeichen (7) an sich, das es bereits in den präludierenden Vorversuchen in der Zeit der Gegenreformation aufgedrückt bekommen hat. In der 1599 erschienenen Ratio Studiorum der Jesuitenschulen ist bestimmt worden, dass in den Dekurien (Zehnerschaften) einer Klasse jeder Schüler in der gegnerischen Dekurie seinen Aemulus (Wettbewerber) habe. Wurde er aufgerufen, musste auch sein Rivale aufstehen. Er hatte wie ein Habicht auf die Blößen achten, die sich der andere gab, um dann mit dem eigenen Wissen aufzutrumpfen. Für den Nachweis der in diesen Buhurts erbrachten Leistungen wurde eine sechsstufige Notenskala eingeführt (Jenzer, C., 1991, S. 120). Mit diesem Instrument – ob sechs- oder fünfstufig macht keinen Unterschied – wurde und wird das ständige Vergleichen der Schüler in der Klasse provoziert.

Die Pädagogik weiß es mittlerweile besser. Sie verurteilt das ständige Messen des einen an den anderen, welches bei den jeweils Unterlegenen das Selbstwertgefühl schädigt und Hass gebiert. Sie rügt eine Erziehung, die auf individuellen Wetteifer, auf Eifersucht und Neid sowie auf Habgier und Eitelkeit zurückgreift, auf Leidenschaften, die nach Rousseau am schnellsten emporschießen und am geeignetsten sind, die Seele zu verderben. Die DLV bietet sich der Schulpolitik und der Schulverwaltung als Instrument an, um beides zu tun: die Leistungen jedes Einzelnen optimal hervor zu locken und gleichzeitig das soziale Klima in der Klasse zu pflegen. „Ist es gut für uns (und unser schulisches Vorankommen), zu wissen, dass Anna an erster Stelle steht in Französisch und Tom an vierundzwanzigster?“ hat die Schülervertretung der Helene-Lange-Schule in Wiesbaden ihre Schulregierung gefragt, als sie mit Erfolg die versuchsweise Abschaffung der Noten und die Einführung der DLV in einigen Klassen beantragt hat (Becker, G.U., 1997, S. 242).

Die Verteidiger der Noten schwören auf den Motivationsschub des Wettbewerbs. Dieses Argument bedarf einer differenzierten Analyse. Das Lernklima in einer humanen Schule kennt den Wettbewerb durchaus auch: Wenn das Augenmerk auf die permanent präsentierten Leistungsvorlagen der Schüler gerichtet wird und nicht auf ihr verschleierndes Surrogat namens Noten, können sich die Schüler dem Kraftfeld des Ansporns kaum entziehen, der von den besonders gelungenen Arbeiten ausgeht. Aber in einem Klima des vom sachlichen Vorbild ausgelösten Nacheiferns wird niemand brüskierend abgeschlagen und verletzt. Der gute Schifahrer lehrt mich erfolgreicher, wenn ich ihn beobachten darf, als wenn ich mit ihm in einen Wettkampf treten muss! Die Lehrer einer Schule – um eine zweite Analogie zu bemühen - wissen normalerweise sehr gut die pädagogischen Qualitäten der einzelnen Mitglieder im Kollegium einzuschätzen und lassen sich von leuchtenden Vorbildern anregen. Würden sie aber von ihrem Direktor in eine Noten-Rangreihe (Ordinalskala) gebracht, dann würden sie heftig protestieren, weil dies unweigerlich die Kollegialität zerrüttete. Die Schüler jedoch müssen solch desaströse Maßnahmen ständig über sich ergehen lassen!

Der blanke, von sozialer Verantwortung nicht gebändigte individuelle Wettbewerb hat in der Schule nichts zu suchen. Wer ihn propagiert, weil er gewissermaßen zur anthropologischen Triebausstattung gehört, müsste mit derselben Begründung auch aggressive und sexuelle Verhaltensmuster in die Palette der Lernmotive aufnehmen. Vom Sport möge die Schule die Funktionslust leihen, welche die verschiedenen Tätigkeiten stützt, aber doch nicht das mörderische Gerangel um die drei Siegerpodeste, die – ohne jede Analogie zur Schule – auch noch horrende Summen einbringen. Das „Alles oder Nichts“ kann nicht als Modell für das „Haus des Lernens“ dienen, dessen schönster Lohn die Bereitschaft zum Weiterlernen bei jedem Einzelnen ist.

Beim Verweis auf den Wettbewerb in der Wirtschaft muss außerdem peinlich darauf geachtet werden, ob es sich um den lauteren oder den unlauteren handelt. Vom lauteren Wettbewerb sagen die Wirtschaftsleute selbst, dass er am besten gewonnen wird über die fortdauernde Bereitschaft zum Drücken der Schulbank. Das Lernen in der Schule muss daher als Befriedigung erlebt werden, sonst wird man später darauf verzichten wollen. Im Hinblick auf den unlauteren Wettbewerb attestiert Bert Brecht der Schule sarkastisch, dass sie ganz gut im Rennen läge: „Der Schüler lernt alles, was im Leben notwendig ist, um vorwärts zu kommen. Es handelt sich um Unterschleif, Vortäuschen von Kenntnissen...“ (Brecht, B., 1978, S. 32). – Bei der DLV wird das Schwindeln, das Betrügen des Lehrers, obsolet; der Schüler betröge sich selbst, weil er damit aufhörte, an der Vervollkommnung und Bereicherung seines Portfolios zu basteln.

Ein Medium wie die DLV ist in der Lage, das hässliche Rivalisieren zu verdrängen und der Zusammenarbeit, dem gegenseitigen Helfen Raum zu geben. Das Zensurensystem tut sich beispielsweise schwer mit der Beurteilung von gemeinschaftlich erstellten Projekten. Was ist der Anteil des Einzelnen wert? Die DLV verlockt geradezu zu Arbeitsformen wie dieser. Der Schüler möge dem Adressaten das Ergebnis interpretieren und dabei seinen eigenen Beitrag herausstreichen... Über das gemeinsame Tun entsteht  Gemeinschaft und Solidarität, während das überkommene Prüfungswesen wie ein sozialer Sprengsatz wirkt und die Klasse nach einem Wort von Fritz Redl in einen Hunderennplatz verwandelt (Redl, F., 1971, S. 186). Ist es der Schule denn bewusst, möchte man fragen, dass sie sich mit diesem Trojanischen Pferd ein Gutteil der Aggressionen einschleust, unter denen das Klima und der Lernerfolg leiden? - Es ist an der Zeit, sie mit der DLV von den Betriebsstörungen zu befreien, die von unpädagogischen Mächten installiert worden sind und von polit-bürokratischen Denkformen nach wie vor gestützt werden. 


Literaturverzeichnis:

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Anmerkungen:

(1) Ich bitte um Verständnis, dass ich um der leichteren Lesbarkeit willen auf die „bisexuelle“ Schreibweise verzichte.

(2) im Auditorium von 200 Personen war keine genaue Übersicht möglich und für das Absammeln und Auszählen schriftlicher Eintragungen fehlte die Zeit.

(3) Trotz aller Zumutungen an Standardisierung höchst wünschenswert!

(4) wenn dieses nicht nur als Sammelmappe von Arbeiten verstanden wird, sondern auch als Schulnachricht.

(5) Mit der formalen Gleichsetzung all dieser Maßnahmen sei die Intention ihrer Protagonisten auf eine Humanisierung der schulischen Leistungsbeurteilung keineswegs bagatellisiert!

(6) Von mir erstmals publiziert in Vierlinger, R., 1975, S. 54/55

(7) „Nota“ hat u. a. auch diese Bedeutung!