Irrationale Covid-Proteste, die die Gefahren der Pandemie leugnen oder verharmlosen, machen dem neoliberalen Irrationalismus die Mauer, der selbst in der Pandemie noch Spitalsbetten abbaut.

Tatsächlich wäre es jetzt wichtig, dass – unter Einhaltung von Hygieneregeln – viele Menschen auf die Straße gehen. Denn es gibt viele wichtige Themen, die schon vor Covid im Argen lagen, in der Pandemiekrise aber nochmals an Bedeutung gewonnen haben:

  • Für eine sofortige Aufhebung der Deckelung der Gesundheitsausgaben, die im letzten Jahrzehnt zum Abbau von über 5.000 Spitalsbetten geführt und das Gesundheitspersonal in der Pandemie ans Limit bringt.
  • für die Einführung einer solidarischen Pflegeversicherung, um den grassierenden Pflegenotstand in Österreich zu überwinden
  • für eine dauerhafte Anhebung des Arbeitslosengeldes, um zu verhindern, dass Menschen, die am derzeitigen Arbeitsmarkt keine Chance haben, in die Armut gedrängt bzw. zum Lohndumping instrumentalisiert werden
  • Für eine Bildungsoffensive – vom Kindergarten bis zur Hochschule, um Lehr- und Lernqualität – nicht nur in Krisenzeiten – für alle Kinder und Jugendlichen zu verbessern.
  • Für eine ökosoziale öffentliche Investitionsoffensive – vom Öffentlichen Verkehr über sozialen Wohnbau bis hin zum Ausbau erneuerbarer Energien, um Klimaschutz, soziale Sicherheit und Vollbeschäftigung miteinander zu verbinden.

Bei alle diesen Themen geht es letztlich darum, mit der irrationalen Vodoo-Ökonomie des Neoliberalismus zu brechen, die uns weismachen will, dass eine rücksichtslose Ellbogengesellschaft die Wohlfahrt aller steigern würde. Wir brauchen vielmehr langfristige Rahmenplanung, vor allem bei strategischen Investitionen, statt sich dem kurzsichtigen Regime der maximalen Eigenkapitalrendite zu unterwerfen. Wir brauchen mehr öffentliches Eigentum statt weiterer Privatisierungen. Wir brauchen dafür die Regulierung von Kapital-, Waren- und Arbeitsmärkten, statt diese hemmungslos zu deregulieren und sich durch Großkonzernen erpressbar zu machen. Vor allem brauchen wir eine Ausweitung der öffentlichen Budgets, um in den nächsten Jahrzehnten eine großangelegte ökologische Transformation unserer Wirtschaft sozialverträglich organisieren zu können. Es gibt in einigen dieser Bereiche Bewegungen: So haben Beschäftigte im Gesundheits- und Pflegesektor im November mit der Aktion „5 nach 12“ die Öffentlichkeit auf ihre unzumutbaren Arbeitsbedingungen aufmerksam gemacht; eine Vielzahl von Gruppen macht Druck für eine klimafreundliche Verkehrswende statt dem Bau neuer Autobahnen; LehrerInnen, SchülerInnen und ihre Eltern demonstrierten in Wien gegen Kürzungen im Bildungsbereich; Leute aus unterschiedlichen sozialen und politischen Zugängen haben das Volksbegehren „Arbeitslosengeld rauf!“ gestartet.

Voodoo-Ökonomie trifft auf Voodoo-Medizin

So weit, so gut, so wichtig. Doch gleichzeitig erleben wir: Die Straßen werden derzeit vielfach durch Proteste beherrscht, die nicht den Irrationalismus der neoliberalen Voodoo-Ökonomie bekämpfen, sondern diesen mit irrationalen Verschwörungserzählungen garniert mit Voodoo-Medizin noch toppen. Statt ein Ende der Sparpolitik im Gesundheits- und Pflegebereich zu fordern, die vielen Menschen in dieser Pandemie das Leben gekostet hat, wird die Gefahr des Virus verharmlost oder geleugnet, die deutliche Übersterblichkeit bagatellisiert. Die neoliberalen Austeritätsideologen in der EU-Kommission, die in den vergangenen Jahren einen noch viel radikaleren Abbau von Spitalsbetten gefordert haben, können sich über diese Schützenhilfe freuen. Statt sich und andere durch Schutzmasken, Abstandsregeln, Lockdown und Impfungen zu schützen, werden Pferdeentwurmungsmittel propagiert und ein gesundes Immunsystem beschworen. Die Konsequenz dieser Haltung: Wessen Immunsystem (oder Karma) nicht stark genug ist, dem Virus zu widerstehen, der/die hat auf der Strecke zu bleiben. Natürliche Auslese, Sozialdarwinismus – manchmal in esoterischer Verpackung.

Kein Wunder, dass jene politische Kraft, die den Sozialdarwinismus in ihrer DNA trägt, von Anfang an bei diesen Protesten nicht nur dabei, sondern mittendrin war: der organisierte Rechtsextremismus vor allem in Form von FPÖ und Identitären. Sie drücken diesen Protesten ihren Stempel auf. Sie denunzieren solidarisches Verhalten auf widerliche Art und Weise: Die Schutzimpfung, die laut Berechnungen der WHO allein in Europa hunderttausenden Menschen das Leben gerettet hat, gilt als Neuauflage der mörderischen Menschenversuche von Mengele im KZ Auschwitz, die Schutzmaske als Rückkehr des Hakenkreuzes; Ungeimpfte inszenieren sich als Wiedergänger der jüdischen Holocaust-Opfer. Diese offene NS-Verharmlosung geschieht unter dem Deckmantel des Kampfes um demokratische Grundrechte – eine im rechtsextremen Milieu beliebte Täter-Opfer-Umkehr.

Rechtsextremes Ventil für Neoliberalismus

Es wiederholt sich in der Coronakrise ein altbekanntes Muster: Das neoliberale Establishment und die rechtsextreme (Schein-)opposition streiten an der Oberfläche, subkutan sind sie innig miteinander verbunden:

  • Der Sozialdarwinismus, d.h. das Ausmerzen der „Schwachen“, ist die gemeinsame ideologische Grundlage von Neoliberalismus und Rechtsextremismus. Was den einen die „produktiven Blutbäder“ der kapitalistischen Konkurrenz ist den anderen die „natürliche Selektion“, sei es durch Krieg oder eben durch Seuchen.
  • Das neoliberale Mantra einer Margaret Thatcher „Es gibt keine Gesellschaft“ wurde jahrzehntelang über Politik und Medien getrommelt. Diese Ellbogenmentalität, dass „jeder seines eigenen Glückes Schmid“ sei, kehrt nun wieder in Form der asozialen Haltung, dass jeder für seine Gesundheit selbst verantwortlich zu sein habe. Solidarische Rücksichtnahme und eine gesellschaftliche Verantwortung für unserer aller Gesundheit werden abgelehnt.
  • Der Irrationalismus der Covid-Proteste lenkt herrlich vom Irrationalismus des Neoliberalismus ab, der über Jahrzehnte die solidarischen Sicherungssysteme und das Gesundheitswesen in eine Weise heruntergefahren hat, die uns in der Pandemie bitter auf den Kopf fällt. Selbst mitten in der Pandemie werden noch Spitalsbetten abgebaut.

Dieses rechtsextreme Ventil ist für das neoliberale Establishments unverzichtbar geworden, weil der Neoliberalismus auf EU-Ebene quasi in Verfassungsrang einzementiert wurde: Binnenmarkt, Währungsunion, Fiskalpakt und Freihandelsverträge haben die demokratisch gewählten Parlamente in zentralen Politikbereichen entmündigt und die Macht auf eine EU-Technokratie übergehen lassen. „Die EU-Verträge können nicht abgewählt werden“, vermerkte dazu der eh. EU-Kommissar Jean Claude Juncker süffisant. Das erzeugt eine systematische Schieflage zugunsten der Macht der Konzerne bzw. der Machteliten der großen Nationalstaaten, insbesondere von Deutschland. Die Rechtsextremen sorgen dafür, dass der Unmut über die Aushöhlung von Sozialstaat und Demokratie herrschaftskonform kanalisiert wird. Denn Irrationalismus ermächtigt die Menschen nicht, sondern hetzt sie gegen die eigenen Interessen auf.

„Zeit der Monster“?

Vom italienischen Marxisten Antonio Gramsci, der in den 20er und 30er Jahren des vergangenen Jahrhunderts von den Faschisten eingekerkert wurde, stammt das Zitat „Die alte Welt liegt im Sterben, die neue ist noch nicht geboren. Es ist die Zeit der Monster.“ Um die Monster des derzeit wieder hochkochenden Irrationalismus zu vertreiben, müssen wir einer neuen, solidarischeren Welt zum Durchbruch verhelfen. Der Kampf für einen österreichischen Solidarstaat, der mit der Unterordnung unter das neoliberale EU-Regime bricht, ist keine ganz leichte, aber unverzichtbare Herausforderung auf diesem Weg.

Gerald Oberansmayr
(in: Werkstatt-Blatt Dezember 2021)


Cartoon aus Momentum:
https://www.moment.at/story/hebel-der-macht-ursachenforschung