Über eine halbe Million Menschen ohne Arbeit - Was ist aus den Versprechen von 1994 geworden?
- "EU-Beitritt bringt positive Beschäftigungseffekte"
- "Mehr Arbeitsplätze, höheres Wachstum"
- "Nicht-Beitritt zur EU kostet 30.000 Arbeitsplätze"
Das sind Schlagzeilen aus dem Frühjahr 1994, mit denen die ÖsterreicherInnen für ein Ja zum EU-Beitritt geködert wurden. Im Jänner 1995 waren 296.773 (inkl. AMS-Schulungen) Personen arbeitslos – eine erschreckend hohe Zahl. Wie sieht es zwei Jahrzehnte später aus? Was ist aus dem Job-Versprechungen geworden? Im Jänner 2015 waren 472.539 Personen arbeitslos, der höchste Wert seit sechs Jahrzehnten. Das sind 175.766 Personen mehr als 1995, ein Anstieg um fast 60%. Die bischöfliche Arbeitslosenstiftung, die noch andere Formen der offizielle verdeckten Arbeitslosigkeit in die Statistik miteinbezieht, kommt Anfang 2015 bereits auf auf 509.400 arbeitslose Menschen.
Neoliberalismus fiel nicht vom Himmel
Sieht man sich die Entwicklung der durchschnittlichen jährlichen Arbeitslosigkeit an, dann erkennt man, dass es seit Mitte der 90er Jahre einen wellenförmigen Trend nach oben. Stellten sich im Jahr 1991 vier Arbeitslose um eine offene Stelle an, waren es im Jahr 2015 bereits 15 Arbeitslose! Wer die wachsende Arbeitslosigkeit allgemein mit der Vorherrschaft neoliberaler Wirtschaftspolitik erklärt, liegt wohl nicht falsch, verschweigt aber Wesentliches: Diese Vorherrschaft des Neoliberalismus fiel nicht vom Himmel, sondern wurde unter dem Druck des EU-Binnenmarktregimes und der Währungsunion Schritt für Schritt politisch durchgesetzt: Die Liberalisierung der Güter-, Kapital- und Arbeitsmärkte hat die Löhne und Gehälter sowie die öffentlichen Nachfrage ausgehungert, was wiederum zu einem generellen Rückgang der Investitionen und zu einem regelrechten Absturz der öffentlichen Investitionen geführt hat.
EU erklärt Übel zum Heilmittel
Besonders in die Höhe getrieben wurde die Arbeitslosigkeit durch die tiefe Wirtschafts- und Finanzkrise, mit der 2008/09 das neoliberale EU-Modell krachend gegen die Wand gefahren ist. Durch massive Staatsinterventionen konnte zunächst noch das Schlimmste abgewendet werden. Doch über die politischen Strukturen auf EU-Ebene, die weitaus stärker gegenüber demokratischer Einflussnahme von unten abgeschottet sind als die nationalstaatlichen, konnte das schier Unglaubliche durchgesetzt werden: Das Übel wurde zum Heilmittel erklärt. Die EU antwortete auf den Crash des Neoliberalismus mit der „Radikalisierung des Neoliberalismus“ (J. Becker). Verschiedene EU-Richtlinien und der EU-Fiskalpakt entmündigen seit 2011/12 die nationalen Parlamente in einem hohen Maß und zwingen sie unter ein scharfes Sparregime, das die Arbeitslosigkeit in vielen EU-Staaten regelrecht explodieren und auch in Österreich auf ein Rekordniveau ansteigen lässt. Der Ökonom Markus Materbauer analysiert in der AK-Zeitung „Arbeit und Wirtschaft“ zutreffend: „Die Konjunktur leidet in ganz Europa unter den Sparbemühungen der öffentlichen Hand und dem anhaltend labilen Finanzsystem, was sich in schwacher Konsum- und Investitionsnachfrage äußert. Sie droht in eine gefährliche Deflationsspirale zu rutschen. Unter den gegenwärtigen Rahmenbedingungen ist ein nachhaltiger Aufschwung nicht denkbar und die Arbeitslosigkeit steigt weiter. Die schwächeren Wachstumsaussichten drohen sich sogar selbst zu erfüllen, weil unter den geltenden Budgetregeln der EU die Wirtschaftspolitik systematisch zum falschen Handeln gedrängt wird: […] Die Revision des Wirtschaftswachstums löst früher oder später neue Sparpakete aus“ (Arbeit & Wirtschaft, 15.1.2015).
Immer mehr prekäre Beschäftigung
Mit der Einbindung in den liberalisierten EU-Binnenmarkt ist nicht nur die Arbeitslosigkeit gewachsen, auch prekäre und atypische Arbeitsverhältnisse breiten sich sprunghaft aus. Seit 1995 ist die Zahl der Normalarbeitsverhältnisse um 6% gesunken, der Anteil der Teilzeitbeschäftigten an den unselbständig Beschäftigten hat sich dagegen von 13% auf fast 28% verdoppelt, bei den Frauen arbeiten bereits fast die Hälfte Teilzeit, viele davon nicht freiwillig. Zwei Drittel der Teilzeitbeschäftigten haben ein Einkommen, das unter der Armutsgefährdungsschwelle von 1.050,- liegt; das für Frauen bereits jetzt hohe Risiko der Altersarmut wird sich weiter zuspitzen, wenn die negativen Folgen der Pensionsreformen zu greifen beginnen. Die Zahl der geringfügig Beschäftigten ist auf über 333.000 angewachsen, ein Zuwachs von 145% gegenüber 1995. Auch die Zahl der LeiharbeiterInnen, die den Schwankungen des Arbeitsmarktes besonders ausgesetzt sind, hat massiv zugenommen: von 12.500 (1995) auf 73.800 (2013).
„EU der Banken und Konzern“
Hohe Arbeitslosigkeit und prekäre Arbeitsverhältnisse schwächen auch die gewerkschaftliche Interessensvertretung. Insbesondere die unteren Lohngruppen kommen dadurch immer stärker unter die Räder. Auf das untere Fünftel der ArbeitnehmerInnen entfielen vor dem EU-Beitritt noch über 5% aller unselbständigen Einkommen, heute sind es 1,9%. Das obere Fünftel konnte dagegen von einem Anteil von 40% (1987) auf über 47% (2012) zulegen. ÖGB-Chef Foglar urteilt mittlerweile manchmal erstaulich klarsichtig über dieses EU-Konkurrenzregime: „Das ist eine EU der Banken und Konzerne, die sich in Wahrheit gegen die Arbeitnehmer richtet“ (OÖ-Nachrichten, 31.12.2012). Warum der ÖGB in entscheidenden Situationen – Abstimmung über den EU-Beitritt, über den Beitritt zu Währungsunion, über den EU-Fiskalpakt – dann doch immer wieder mithalf, gemeinsam mit den Regierungsparteien und der Industriellenvereinigung diese „EU der Banken und Konzerne“ durchzusetzen, kann die Gewerkschaftsführung ihrer eigenen Mitgliedschaft immer schwerer vermitteln.
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