Ein Gastbeitrag von Gerhard Kovatsch zu den aktuellen Auseinandersetzungen in Nicaragua, bei denen es viele Tote und Verletzte gab. Er beleuchtet Hintergründe, die in unseren Mainstream-Medien nicht zu finden sind.

Am 18. April begannen nicaraguanische StudentInnen zusammen mit Rentnern in einem Geschäftsviertel von Managua Protestaktionen gegen die gerade von der Regierung beschlossene Reform der Sozialversicherung. Nach Zusammenstößen mit Stoßtrupps der Sandinistischen Jugend, welche den Demonstrant*innen den öffentlichen Raum nicht überlassen wollten, kam es zum Einsatz der Bereitschafts- und Anti-Aufruhrpolizei und den ersten Verletzten. Ab Donnerstag 19. April weiteten sich die Proteste auf mehrere Universitäten der Hauptstadt aus, ab 20. April auf die wichtigsten Städte der Pazifikregion; ab diesem Tag schlossen sich auch zahlreiche Bewohner der Barrios (Stadtviertel) den Protesten an, deren Hauptforderung der Sturz der Regierung Ortegas ist. Seitdem sind zwei Monate vergangen. Die vom nicaraguanischen Parlament eingesetzte „Kommission für Wahrheit, Gerechtigkeit und Frieden“ zählt 173 Tote und über 2000 Verletzte. Der Nationale Dialog, zu dem Präsident Ortega bereits am Beginn der Konflikte eingeladen hatte und in dem die katholische Bischofskonferenz vermitteln sollte, macht keine Fortschritte. Die Protestierenden errichteten Straßensperren an den wichtigsten Überlandstraßen, die von organisierten sandinistischen Organisationen und der Polizei geräumt werden. Gewalttätige Oppositionelle zerstören soziale Infrastruktur des Landes wie Schulen, Gesundheitsposten, Gemeindeämter, Bauhöfe und Finanzämter und machen zugleich gezielt Jagd auf sandinistische Politiker, Aktivisten und ihre Familien.

Der Anlass der Konflikte war der Beschluss einer Reform der Sozialversicherung, den die Regierung von Präsident Ortega nach gescheiterten Verhandlungen mit dem Unternehmerverband COSEP fasste und am 17. April als Dekret des Sozialversicherungsinstituts INSS im Amtsblatt veröffentlichen ließ. Die Regierung hatte die Reform der Sozialversicherung zusammen mit einer neuen Steuerreform mit dem Unternehmerverband verhandelt, aber dabei keine Einigung erzielt. Wegen der Dringlichkeit der Sanierung des INSS entschied sie schließlich allein und rechnete damit, dass vor allem die Gewerkschaftsverbände und die Sandinistische Jugend die Reform verteidigen würden, da diese weder die Anzahl der notwendigen Mindestbeitragsmonate noch das Pensionsantrittsalter erhöht hätte und außerdem die Mindestsicherung für Senioren, die nicht genug Beitragsmonate gesammelt hatte, aufrechterhielt. Im Moment des Ausbruchs der Proteste ergab sich die absurde Situation, dass die Regierung, die eine von COSEP und Internationalem Währungsfonds vorgeschlagene brutale Reform verhindern wollte, dafür von den StudentInnen „geprügelt“ wurde und die, welche eigentlich die Verelendung der Alten planten, sich nun auf der Seite der „Guten“ einreihten.

KASTEN
Die nicaraguanischen Sozialversicherung muss dringend saniert werden, sonst geht sie 2019 bankrott. Hauptursache dafür ist, ohne Beachtung von anderen Faktoren, die in der politischen Auseinandersetzung ins Feld geführt werden (Bürokratie, zu viel Personal, falsche oder bedenkliche Investitionen) der Umstand, dass die Höhe der auszuzahlenden Pensionen wesentlich schneller steigt als die Einnahmen aus den kontinuierlich zunehmenden Beitragszahlungen. Die Regierung von Daniel Ortega, der ab 2007 wieder die Präsidentschaft übernommen hatte, konnte durch eine geschickte Wirtschaftpolitik kontinierliches Wachstum der nicaraguanischen Ökonomie und damit innerhalb von 10 Jahren eine Zunahme der sozialversicherten Erwerbstätigen um über 80 % erzielen. Doch dieser Zuwachs an Versicherungsbeiträgen reicht nicht aus, um alle Pensionen bezahlen zu können: Ende 2017 hat das INSS 914.000 aktive Beitragszahler und zahlt an fast 250.000 Personen Pensionen aus: Davon sind ca. 95.000 reguläre Alterspensionen, sowie ca. 53.000 reduzierte Alterspensionen (besser: Mindestsicherungen) für alte Menschen, die ihre Pensionsbeiträge nur zum Teil zahlen konnten. Dazu kommen ca. 40.000 Kriegsopferrenten (inkl. Witwen- und Waisenrenten), der Rest sind reguläre Unfallsinvaliden-, Witwen- und Waisenrenten.

Das Pensionsantrittsalter ist 60 Jahre für beide Geschlechter. Vorzeitig in den Ruhestand können Angehörige bestimmter Berufe treten wie MinenarbeiterInnen und LehrerInnen ab 55. Zum Zeitpunkt der Reform waren knapp 27% der ökonomisch aktiven Bevölkerung sozialversichert.

Die von der Regierung am 16.April beschlossene Reform – sie wurde eine Woche später vom Präsidenten Daniel Ortega zurückgenommen - sah Erhöhungen der Beiträge für Unternehmer um 3,5%, für unselbständig Erwerbstätigen um 0,75%, für selbständig Erwerbstätigen um 4% und des Staates (für öffentlich Bedienstete) um 1 % vor. Zugleich wäre die Höchstbeitragsgrundlage aufgehoben, mit der Änderung der Berechnungsformel die Ersatzrate von 80% auf 70% reduziert und von den aktuellen Rentnern selbst ein Krankenversicherungsbeitrag von 5% eingehoben worden. Die Mindestanzahl von Beitragswochen (750) und das Antrittsalter von 60 Jahren wurden beibehalten.

Vor allem von den Sympathisanten der Proteste im In- und Ausland wurde die Reform als „neoliberal“ verdammt. Die Sandinisten hätten ihre Grundsätze verraten. Bei genauerer Analyse erweisen sich vielmehr die (Gegen-) Vorschläge von COSEP und IWF als neoliberal: Sie sehen eine Erhöhung der Mindestbeitragswochen auf das doppelte vor (1500), ebenso Durchrechnungszeiträume von 30 Jahren und die schlagartige Erhöhung des Antrittsalter um 5 Jahre auf 65 Jahre. „Bei solchen Reformvorschlägen verliert die Sozialversicherung ihre soziale  Funktion“ kritisiert der unabhängige Wirtschafts-und Sozialexperte Adolfo Acevedo Vogl: „Es wird dann nur eine Minderheit der Bevölkerung geben, die eine Pension bezieht, die zum Leben ausreicht. Die übrigen werden keine erhalten oder nur eine, die zum Hungern reicht“.

Offene Fragen

Das erschreckende Ausmaß und die unglaubliche Intensität der Gewaltanwendung schockieren Nicaraguaner und Ausländer. Sie scheint das Bild eines friedlichen und sicheren Nicaragua, Voraussetzung für wirtschaftliche und soziale Entwicklung, Investitionen und Tourismus, Lügen zu strafen und gibt viele offene Fragen auf: Wie kommt es, dass in einer als friedfertig gefühlten Gesellschaft solche Gewaltexzesse möglich sind und dass eine Polizei, die in ganz Lateinamerika als exemplarisch in der Verbrechensbekämpfung und -prävention gilt (wir haben als Nicaragua-Nachrichten mehrmals darüber berichtet) Protestsituationen, wie jene gegen die Sozialversicherungsreform, wie sie sich in vielen Staaten präsentieren, nicht mit adäquaten Mitteln bewältigen kann? Woher kam die Zerstörungswut gegenüber öffentlichen Einrichtungen, die sich besonders in der Verwüstung der Einrichtungen des Gesundheitswesens, des Abfackelns eines Universitätszentrums in Leon äußerte? Was ist das Motiv Gemeindeämter wie jenes von Esteli zu zerstören, die Infrastruktur einer Gemeinderegierung, deren Arbeit in internationalen Rankings höchste Bewertungen erzielt hat und bei den Wahlen der letzten Jahrzehnte breiteste Zustimmung erlangte?

Vorbereitung des Regime Change?

Seit Monaten bereiten US-Kongressabgeordnete und -Senatoren ein Gesetz vor ‑ landläufig als Nica-Act bezeichnet ‑, welches die Sandinistische Regierung unter Androhung von Sanktionen „zur Demokratie zwingen“ soll. Die jetzige Situation bietet den USA und allfälligen Verbündeten mehr und größere Möglichkeiten, in Nicaragua zu intervenieren.

Chuck Kaufman von der Nicaragua Network/Alliance for Global Justice, eine seit dem Aufstand gegen Somoza existierende US-Solidaritätsbewegung, ist „verblüfft, wie fortschrittlich denkende (nord)amerikanische Menschen behaupten können, die USA hätten keine Verantwortung für die gegenwärtigen Unruhen in Nicaragua. Nur mit absichtlicher Ignoranz kann man die Parallelen zwischen Nicaragua und Venezuela und Syrien, die alle auf einen Regimewechsel abzielen, nicht erkennen.“ Auch von dem Informationskanal TELESUR interviewte Politologen und Journalisten sehen in den gegenwärtigen Ereignissen in Nicaragua eine Umsetzung des von US-Strategen erstellten „Drehbuches des weichen Putschs“ („Guión del golpe blando“).

Nicht spontan, nicht sozial, nicht gewaltlos

Mehrere Kommentatoren und Politikanalytiker haben in den letzten Tagen versucht, die Protestbewegung gegen die Regierung Ortega zu charakterisieren. Wir wollen drei Merkmale besonders hervorzuheben:

Dass es sich um spontane Proteste handelt, gilt bestenfalls für die ersten zwei Tage. „Ab dem 20. April war nichts mehr spontan“, versichert mir eine langjährige nicaraguanische Kollegin der Entwicklungszusammenarbeit: „Die Proteste und Attentate sind synchronisiert und andererseits örtlich und zeitlich klar abgrenzbar. Die Protestierenden verfügen über eine große Planungs- und Logistikkapazität.“

Sie ist, obwohl sie ihren Ausgang beim Protest gegen die Sozialversicherungsreform nahm, nicht sozial, sondern politisch. Sergio Ramirez sagte in einem Interview mit der deutschen TAZ, dass dieser Bewegung soziale Fragen wie Armut, Beschäftigung, Landzuteilung nicht wichtig sind. „Sie ist nicht links“. Ihr einziges unmittelbares Ziel ist der Sturz der Regierung Ortega.

Sie ist nicht friedlich. Gewaltlos waren die Demonstrationen am 18. April, ab dem 20. April zerstören Protestierende gezielt öffentliche Einrichtungen, vor allem die soziale Infrastruktur. Sie machen zugleich Jagd auf ausgesuchte Personen, sandinistische Bürgermeister, Abgeordnete und Aktivisten, die zum Teil entführt, gefoltert und ermordet wurden.

Wer steht dahinter?

Die Demonstranten bezeichnen sich als „autoconvocados“, das heißt autonom und selbstmobilisiert, darunter Studenten, „selbstmobilisierte Bewohner und Bauern“. Sie wurden schließlich von den Katholischen Bischöfen zum Nationalen Dialog eingeladen und bildeten dort die „Bürgerallianz für Gerechtigkeit und Demokratie“, in der immer mehr die seit Jahren bekannten Vertreter der sogenannten Zivilgesellschaft und Großunternehmer das Heft in die Hand genommen haben. Die Finanzierung der Proteste erfolgt durch Großunternehmer und nicaraguanische NGOs, die traditionell von den USA unterstützt werden. Als Hintermänner der militärischen Planung gelten ehemalige Heeresangehörige, die große Ressentiments gegen die FSLN hegen, und alte Kader der Contras. In den USA sind die Rechtsextremen um Ileana Ros-Lehtinen, Ted Cruz und Marco Rubio Verbündete der Bürgerallianz. Es existieren Differenzen mit der Trump-Administration, die auch die negativen Folgen eines Regime Change in Nicaragua kalkuliert: Destabilisierung Zentralamerikas, Zunahme der Flüchtlinge und Migranten, Stärkung der Drogenmafia.

Die OAS (Organisation Amerikanischer Staaten), die als verlängerter außenpolitscher Arm der USA funktioniert und als solcher vor allem Angriffe auf die Länder des ALBA tätigt, hat sich, was Nicaragua anlangt, auf eine „Lösung der Konflikte mit demokratischen Mitteln im Rahmen der Verfassung“ festgelegt. Das hieße konsensual im Nationalen Dialog vereinbarte Reformen, welche die Nationalversammlung beschließen müsste, und die Abhaltung demokratischer Wahlen. Die (außerparlamentarische) Opposition, die sich die Repräsentanz des nicaraguanischen Volkes anmaßt und von der auch Vertreter im Nationalen Dialog sitzen, wurde vom Sekretär der OAS, Luis Almagro als „lügnerisch, antidemokratisch und korrupt“ bezeichnet. Ich habe allerdings noch im Ohr, was die Lateinamerika-Korrespondentin einer österreichischen Zeitung anlässlich der Krise nach dem Wahlbetrug in Honduras im November 2017 sagte: „Ideal für die USA sind willfährige und korrupte Regierungen, welche erpresst werden können“. Damit sind sie für die Ziele des Imperiums einsetzbar, und wenn sie nicht funktionieren, sind sie absetz- bzw. ersetzbar.