ImageIn einem offenen Brief stellt der Vorstand der Solidarwerkstatt an die Promotoren von "Europa geht anders!" zur Kampagne gegen den "EU-Wettbewerbspakt" die Frage: "Welcher Sinn aber ergibt sich, wenn vor etwas gewarnt wird, was bereits stattfindet?" Am 1. Jänner 2014 tritt das EU-Twopack in Kraft, über das der ÖGB geurteilt hat: „Damit erhält die EU-Kommission bereits im Vorfeld der nationalen Budgetverabschiedung quasi ein politisches Vetorecht. Dieses verstärkte 'Überwachungssystem' geht über die bestehenden Vorschriften für Länder in einem Defizitverfahren noch deutlich hinaus. […] Das Two-Pack ist also leider ein weiterer Schritt zur Stärkung der Kommissionsbürokratie gegenüber den gewählten Parlamenten und Regierungen in den Mitgliedstaaten“ (www.oegb.at, 14.3.2013). Für die Solidarwerkstatt drängt sich der Eindruck auf, es ginge bei der Kampagne gegen den "EU-Wettbewerbspakt" darum, in einer kritischen Öffentlichkeit die Sozialdemokratie und die Grünen in Hinblick auf die EU-Parlamentswahl als wählbare Alternative aufzublasen, nachdem und während sie für die Radikaliserung der neoliberalen Sozial- und Wirtschaftspolitik der EU eine tragende Rolle gespielt haben und spielen.


Offener Brief an die Promotoren von "Europa geht anders!" zur Kampagne gegen den "EU-Wettbewerbspakt"


Solidarwerkstatt Österreich
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An
Europa geht anders
p.a.: Attac
z.Hd.
Abg. z. Nr. Bruno Rossmann
Markus Koza (AUGE-UG)
Alexandra Strickner
Sonja Ablinger

Linz, 17. Dez. 2013 

Offener Brief

Sehr geehrte Damen und Herren,
Liebe FreundInnen,

mit Interesse  haben wir von Eurer Kampagne gegen den "EU-Wettbewerbspakt" Kenntnis erlangt und besprochen, ob wir diese Kampagne unterstützen. Bei eingehender Beschäftigung und Recherche zu diesem Thema, wurde jedoch deutlich, dass bis heute nicht klar ist, wer, wann, welchen Wettbewerbspakt beschließen solle. Es bestehen offensichtlich erhebliche Differenzen zwischen der EU-Kommission und dem Rat über Inhalt und Gestalt eines derartigen Vertrages.

Während die deutsche Kanzlerin in Davos von einem völkerrechtlichen Vertrag ähnlich dem EU-Fiskalpakt sprach, meint die EU-Kommission und Ratspräsident Van Rompouy, alle rechtlichen Voraussetzungen seien bereits geschaffen und denkt über politische Vereinbarungen mit den Regierungen jener Länder nach, die noch nicht einem ökonomischen Programm der Kommission gemäß Fiskalpakt, Sixpack oder Twopack unterworfen sind. Die Kommission sieht sich offenkundig durch die genannten geschaffenen Rechtsbestände erheblich in ihrer Macht gestärkt und will diese nicht durch ein neues völkerrechtliches Konstrukt zugunsten des Rates aufweichen.

Dazu in Widerspruch wurde von "Europa geht anders"  bereits für den EU-Gipfel im Juni  ein derartiger Beschluss in Aussicht gestellt, ohne dass er sich auf der Agenda befand. Auch jetzt beim Dezember Gipfel des EU-Rats, wird mit dem Diktum, es gelte einen Beschluss des EU-Rats über einen "Wettbewerbspakt" zu verhindern, die kritische Öffentlichkeit alarmiert. Im Vorfeld des Gipfels, Anfang Dezember, schien es noch einmal dramatisch zu werden: Bruno Rossmann, Abg. z. NR der Grünen, schreibt uns in Beantwortung unserer Petition "EU-TwoPack" einpacken: "Mir ist ein Dokument zugespielt worden, in dem ganz unverblümt gesagt wird, worum es dabei (EU-Wettbewerbspakt) geht: um massive Eingriffe am Arbeitsmarkt und den Sozialstaat. Das will ich der Öffentlichkeit nicht vorenthalten." (Bruno Rossmann, E-Mail vom 28.11.2013)  In der Presseaussendung von "Europa geht anders" vom 2.12.2013 liest man/frau: "EU-Wettbewerbspakt: Geleaktes Dokument belegt Freibrief für Sozial- und Demokratieabbau!" und weiter: "... Der Pakt sieht vor, dass sich alle Staaten der Eurozone durch Verträge mit der EU-Kommission zu 'Strukturreformen' verpflichten um ihre 'Wettbewerbsfähigkeit' zu verbessern. Ein vor dem Rat geleaktes EU-Dokument nennt erstmals explizit, was darunter zu verstehen ist: Einschnitte im Arbeitsmarkt, bei öffentlichen Dienstleistungen, beim Pensionssystem und in der Ausbildung."

Um was geht's? Die EU-Kommission hat in den letzten Jahren durch Sixpack, Fiskalpakt, Twopack Möglichkeiten bekommen an den Parlamenten vorbei auf die Sozial- und Wirtschaftspolitik der Mitgliedsstaaten Einfluss zu nehmen ( Makroökonomische Anpassungsprogramme, Korrektiver Aktionsplan, Ökonomisches Partnerschaftsprogramm, u.a.) Voraussetzung dafür ist, dass die betroffenen Länder bereits in einem Defizitverfahren oder einem Verfahren wegen makroökonomischer Ungleichgewichte oder finanzieller Instabilität (Twopack) sein müssen, damit die Kommission volle Durchgriffsrechte hat. Es sollen alle Länder miteinbezogen werden können. "But it is important to reinforce economic policy coordination well before Member States face severe economic difficulties." (Sherpa Meeting, 21-11-2013)

Das Papier beinhaltet Überlegungen über generelle Prinzipien für vertragliche Vereinbarungen zwischen EU-Kommission und Mitgliedsstaaten und Prinzipien bezüglich eines "Solidaritätsmechanismus", der derartige Vereinbarungen unterstütz, die beim EU-Rat beschlossen werden sollen. Weiter im Text wird sogar explizit festgehalten: "In case of no agreement between the Member State and the Comission , there would be no contractual arrangement." Also keine "vertragliche Vereinbarung" ohne Zustimmung des Mitgliedsstaates. Eine Befassung der Parlamente wird nur für notwendig erachtet, wenn diese "vertragliche Vereinbarung" mit finanzieller Unterstützung verbunden ist. ("Such arrangements could take the form of a politicalliy binding commitment between the Member States, the Council and the Comission. If a contractual arrangement were to be ammompanied with financial support, the associated finanicial support aggreement would need to have a legal nature.", Sherpa Meeting, 21-11-2013) Wie Bruno Rossmann hier zum Schluss kommt: "Eine Flucht aus den europäischen Verträgen (ist) angedacht" (Bruno Rossmann, E-Mail vom 28.11.2013), bleibt schleierhaft.

Jetzt mag es richtig und wichtig sein, die Gesellschaft rechtzeitig zu warnen, damit sie rechtzeitig ihre Stimme artikuliert und erhebt, bevor alles in EU-Rechtsbeton gegossen ist. Etwa wenn der grüne Gewerkschaftsfunktionär "Markus Koza ... eindringlich vor einer Verpflichtung zu Lohnzurückhaltung, Lohnverhandlungen auf betrieblicher Ebene, ausgehebelten Kollektivverträgen sowie dem Ende der automatischen Anpassung von Mindestlöhnen (warnt)." (PA-"Europa geht anders" 2-12-2013) In dem so bedeutsamen "geleakten" Dokument wird jedoch unterstrichen, dass der Rechtsbestand, um eine derartige Politik durchzusetzen, bereits in Kraft ist. Welcher Sinn aber ergibt sich, wenn vor etwas gewarnt wird, was bereits stattfindet?

Die Angriffe auf Sozialleistungen, Kollektivverträge und den öffentlichen Dienst finden durchaus nicht nur in jenen Ländern statt, die unter der Knute der Troika stehen. Auch in Österreich gab es eine Nulllohnrunde für den öffentlichen Dienst und auch bei der aktuellen Lohnrunde signalisiert die Bundesregierung nicht einmal die Inflation ausgleichen zu wollen. Die Pensionen werden das zweite Jahr in Folge nicht in Höhe der Inflationsrate angepasst. Die Gesundheitsausgaben werden als Anteil am BIP gedeckelt. Auf Druck der Arbeitgeberseite wurde und wird ein  einheitlicher Kollektivvertrag für die Metallbranche verhindert. Die Arbeitslosigkeit steigt auf historisch einmalige Höchststände seit 1945, die politische Debatte thematisiert jedoch nicht diesen Skandal, sondern ein ominöses Budgetloch, das in Wahrheit nur vor den Vorgaben der bereits beschlossenen Rechtsinstrumente auf EU-Ebene überhaupt wahrnehmbar ist. Wie glaubwürdig da das Engagement eines grünen Abgeordneten gegen einen EU-Wettbewerbspakt ist, der zur gleichen Zeit moniert, dass die "haushaltspolitische Überwachung ... von den Mitgliedsstaaten tendenziell unterlaufen (wird), wie man ja am Beispiel der österreichischen Haushaltsplanung gesehen hat. Da wurde am 15. Oktober ein Dokument an die EU-Kommission verschickt, von dem schon klar war, dass ein Budgetloch in Höhe von mehreren Milliarden Euro nicht berücksichtigt wird." (Bruno Rossmann, E-Mail vom 28.11.2013), bleibt dahingestellt.

Die Solidarwerkstatt Österreich wird wie in der Vergangenheit nach Kräften dazu beitragen, die Beschlussfassung eines "Wettbewerbspaktes" zu verhindern. Die wichtigste Voraussetzung dafür ist, die Umsetzung der bereits beschlossenen asozialen Maßnahmen außer Kraft zu setzen. Wenn jedoch mit dem Diktum der drohenden Gefahr gegen etwas mobilisiert wird, was bereits beschlossenes Recht und gängige Praxis ist, werden die Menschen nicht selbst dazu ermächtigt, die Verhältnisse zu ändern. Es drängt sich vielmehr der Eindruck auf, es ginge bei der Kampagne gegen den "EU-Wettbewerbspakt" ausschließlich darum, in einer kritischen Öffentlichkeit die Sozialdemokratie und die Grünen in Hinblick auf die EU-Parlamentswahl als wählbare Alternative aufzublasen, nachdem und während sie für die Radikalisierung der neoliberalen Sozial- und Wirtschaftspolitik der EU eine tragende Rolle gespielt haben und spielen.

Natürlich sind weitere Verschärfungen vorstellbar, ob in Form von „Wettbewerbspakten“ oder anderen Vereinbarungen. Aber diese bauen auf den bisherigen neoliberalen EU-Verordnungen und Verträgen auf, ja sind legistisch ohne diese gar nicht vorstellbar. So wurde im Frühjahr 2013 das sog. EU-Twopack beschlossen, das ab 1. Jänner 2014 rechtswirksam wird. Die Souveränität des österreichischen Nationalrats in Budgetfragen gilt fürderhin nur noch vorbehaltlich der Zustimmung der EU-Kommission. Das wird auch von den Sherpas der EU-Kommission in ihrem Papier unterstrichen.  Die Kommission gewinnt damit weitgehende Vollmachten. Der ÖGB hat über das EU-Two-Pack geurteilt: „Damit erhält die EU-Kommission bereits im Vorfeld der nationalen Budgetverabschiedung quasi ein politisches Vetorecht. Dieses verstärkte 'Überwachungssystem' geht über die bestehenden Vorschriften für Länder in einem Defizitverfahren noch deutlich hinaus. […] Das Two-Pack ist also leider ein weiterer Schritt zur Stärkung der Kommissionsbürokratie gegenüber den gewählten Parlamenten und Regierungen in den Mitgliedstaaten“ (www.oegb.at, 14.3.2013). Warum liest man davon in den Papieren bei „Europa geht anders!“ nichts? Wie ernst meint man es mit dem Kampf gegen mögliche weitere Verschärfungen, wenn deren legistische Grundlagen wie das Twopack nicht thematisiert, geschweige denn in Frage gestellt werden? Hat das damit zu tun, dass grüne und sozialdemokratische EP-Abgeordnete diesen EU-Verordnungen zugestimmt haben?

Beim EU-Gipfel am 19. und 20. Dezember stehen Sicherheit, Militär und Rüstung auf der Tagesordnung. Geplant ist unter anderem die Verabschiedung eines Programms zur Herstellung einer europäischen Kampfdrohne. Auch davon liest und hört man bei „Europa geht anders!“ nichts.

Die Solidarwerkstatt hat dazu zwei Petitionen initiiert: "EU-Twopack wieder einpacken! Budgetsouveränität wieder herstellen!" und "Drohnenkrieg - Nein Danke!" . Solange die Promotoren der Kampagne "Europa geht anders!" diese Kampagnen weder unterstützen noch sonst irgendeine öffentliche Äußerung dazu verlieren, bleibt Euer Engagement für ein anderes Europa leider für uns völlig unglaubwürdig.

Mit freundlichen Grüßen!

Vorstand der Solidarwerkstatt Österreich