Ein Beitrag des Sozialwissenschaftlers Albert F. Reiterer, Autor des Buches "Nation und Imperium".


Es war in der Debatte um die EG-Volksabstimmung in Österreich 1994. Haider hatte ent­deckt: Mit dem Thema Österreich ließen sich nicht wenige Leute ansprechen, die sonst für die FPÖ unzugänglich waren. Und so bemühte er sich. Zwar brachte er die Wendung österreichi­sche Nation vorerst nur mit einigem Stottern heraus, wortörtlich! Aber es ging schließlich. Und damit legte er die Grundlage für eine neue Ära der politischen Kräfte und ihrer Verhältnisse in Österreich.

Wenige Jahre zuvor hatte er noch anders gesprochen. "Die österreichische Nation – sagte er – war eine ideologische Missgeburt, denn die Volkszugehörigkeit ist die eine Sache und die Staatszugehörigkeit die andere" (Jörg Haider im TV-Inlandsreport, laut Wiener Zeitung vom 19. August 1988). Dieser Satz könnte genauso gut von sozialdemokratischen Emigranten in London 1945, nach der Befreiung und Wiederverselbständigung Österreichs, stammen. Fritz Adler und Julius Braunthal waren konsequent genug, in dieses ihnen verhasste Österreich erst gar nicht zurückzukehren. Karl Czernetz hingegen, aus demselben Umfeld, spielte in der Zweiten Republik eine gewisse Rolle. Er war zum "Chefideologen" der SPÖ geworden, dokumentiert durch eine enorme Anzahl von Artikeln in der "Zukunft" von 1946 bis 1966. Wie konnte er das mit seiner früheren Stellung zu Österreich vereinbaren? Die Lösung war: Deutschland durfte er nicht sagen, Österreich wollte er nicht. Also sagte er "Europa" und erklärte sich zum enthusiastischen "Europäer". Das war eine Lösung dieser persönlichen Probleme, die in der Sozialdemokratie häufig war. In der deutschnationalen Tradition der österreichischen Sozialdemokratie von Viktor Adler – im Grunde seit den Anfängen der mitteleuropäischen Arbeiterbewegung lange vor Adler – bis Otto Bauer und seinen Adepten war alles, was österreichisch war, dunkel. Nur die deutsche Orientierung verkörperte den Fortschritt. Einige wenige versuchten, diese deutsche Linie auch nach dem Zweiten Krieg beizubehalten. Heute allerdings ist nicht diese Wendung kennzeichnend, heute schaut man nach „Europa“.

Wie allgemein bekannt, war das in der Republik sogenannte "Dritte Lager", im Klartext: die seit spätestens 1930 weit rechts stehenden deklarierten Deutschnationalen, im Zweiten Öster­reich parteimäßig in der FPÖ organisiert. Nach dem gescheiterten Versuch einer liberalen Wende unter Norbert Steger und der Übernahme des Parteivorsitzes durch Jörg Haider im Sommer 1986 nahm diese Partei einen phänomenalen Aufschwung. Sie wurde zu einem Sammelbecken jener, die sich vom Hauptstrom der gegenwärtigen Politik nicht vertreten fühlen, aber auch nicht ein progressives Gegenprojekt wünschen. Doch vorerst hielt die ideologische Entwicklung nicht Schritt. Wir brauchen nur an die authentisch braunen Rändern in vielen Gruppen in und am Rande dieser Partei heute noch sprechen.

Dem Stimmenumfang nach geht die Wählerschaft dieser Partei spätestens seit 1990 weit über jenes Potential hinaus, welches man auch bei laxer Definition als deutschnational kennzeich­nen könnte. Noch einmal Haider: Sein Erfolgsrezept war das Hinhören auf Meinungsströmun­gen, die andere Politiker einfach nicht zur Kenntnis nahmen. Hier war H. C. Strache sein authentischer Nachfolger. "Durch das neue Wählerpotential ist das ursprüngliche, 220.000 Wähler ausmachende Potential der FPÖ zur Minderheit geworden... Wir brauchen eine Zukunftsperspektive" (Haider im Interview in: Wirtschaftswoche 34/17. Aug. 1995). Der eigentliche Wendepunkt war die Abstimmungskampagne zum EG-Beitritt. Die FPÖ führte ihn unter (deutsch-) österreichischen Motiven. Erst danach wurde auch die programmatische Grundlage nachgeliefert. In einer Serie von Interviews kündigte Haider an, die deutschnatio­nale Ausrichtung aufzugeben und auf Österreich-Patriotismus zu setzen. Da er selbst aus deutschnationalem Umfeld kam und sichtlich bzw. hörbar davon und von einer Affinität zur NS-Vergangenheit geprägt war, hatte er erhebliche Schwierigkeiten bei der jehen Umstellung. In einem dieser Interviews (Profil, 21. August 1995, Nr. 34) bezeichnet er beispielsweise die Tätigkeit von Wehrmachtssoldaten als "Widerstand" und spricht von "offizieller Geschichts­schreibung", wenn der Beginn des Zweiten Weltkrieges und die deutsche Kriegsschuld ange­sprochen wird. Er reagierte aggressiv, als dies den Journalisten auffällt und sie ihn auf seine Fehlleistungen aufmerksam machten. "Ich will mich mit diesen Geschichten (!) nicht befas­sen, sondern ich sage, wie immer die Geschichte im Laufe der Zeit noch facettenreicher wird, ist dies nicht mein Problem..." Was er dabei überging, ist, dass die Definition von (nationalen, regionalen, ...) Identitäten über den Bezug auf die Kontinuität der Geschichte läuft: Gerade Nationalisten reizten diesen Bezug bis zum Exzess aus. Die plötzliche Vermeidung von Geschichte ist eine durchsichtige Flucht aus seiner eigenen bisherigen Vergangenheit, zumal dann der Inhalt des Projektes in historisch recht beladenen Vokabeln erfolgt.

Allerdings steckt noch mehr dahinter: Haider war der Mustertypus des "amerikanischen" Poli­tikers. Der ist grundsätzlich konservativ, richtet sich aber ebenso grundsätzlich nach Umfrage­ergebnissen. Sein politisches Projekt fasste Haider unter dem Vokabel "Dritte Republik" zusammen, welches allerdings kaum mit konkreten Inhalten gefüllt ist. Der Untergrund ist "Antisozialismus", der sich als Antiliberalismus entpuppt: "Die auf dem Boden der Aufklä­rung gewachsenen, für Europa prägenden Ideen und Gesellschaftssysteme sind überholt, am Ende, oder überhaupt gescheitert... Es gilt auch, Abschied zu nehmen von einem überkomme­nen Liberalismus, dessen einziger Sinn in der verantwortungslosen Hingabe an eine indivi­dualistische Bedürfnisbefriedigung zu liegen scheint... das Thema der Geschichte hat sich gründlich geändert, der Wind dreht sich" (Haider 1994, 10, 12). Der stilistisch und inhaltlich kennzeichnendste Satz dieser pompösen Deklamation wurde von mir in Kursiv gesetzt. Die antiliberale Haltung ist der Grund, dass die hegemoniale Gruppe ihn in Acht und Bann getan hat.

Doch vorerst weiter: "Ich hatte mit der österreichischen Nation nie ein Problem." Wenige Sätze später jedoch erklärt er, dass "die österreichische Nation in Wirklichkeit eine Erfindung der Kommunisten gewesen ist", was in seinem Mund wohl eine Verurteilung bedeutet. Auch im nur vier Tage vorher datierten Interview mit der "Wirtschaftswoche" macht er noch eine explizite Unterscheidung zwischen der "Missgeburt" (der Ausdruck wird ihm vom Journalis­ten entgegengehalten) der österreichischen Nation – "Das ist etwas anderes als Österreich. Das war ja der Versuch, sich aus der Geschichte fortzustehlen" – und der österreichischen Identität.

Man beachte, wie stark die Übereinstimmung in der Formulierung vom "Fortstehlen aus der Geschichte" mit den Tendenzen zur sogenannten Vergangenheitsbewältigung bei Linksliberalen ist.

Doch das alles zählte nicht wirklich. Er füllt das Projekt Ö-Nation mit zwei Code-Wörtern: "Heimatbewusstsein" und "Vaterlandsliebe im klassischen Sinn". Damit ist der konservative Charakter seines Projektes klargestellt. Das war eine die taktische Richtung: Es ging um die noch verbliebenen Wähler der ÖVP, für welche der Deutschnationalismus in der F(PÖ), zumindest für einen beträchtlichen und gerade auch den konservativsten Teil unter ihnen, ein beinahe unüberwindlicher Hinderungsgrund für eine Stimmabgabe zugunsten dieser Partei war. Der Taktiker Haider hatte Erfolg. Interessanter Weise – aber das ist hier eine andere Frage – hat er noch mehr die SPÖ beschädigt als die ÖVP.

Und damit sind wir wieder in der Gegenwart.

Hegemonie war für Antonio Gramsci, Mitbegründer der KPI und eine Zeitlang bevorzugter Theoretiker der westeuropäischen Linken, der zentrale Begriff seines politischen Denkens. Hegemonie bedeutet die fraglose Akzeptanz der Grundlagen und der Grundstrukturen unseres Denkens, wie sie von den Intellektuellen im Dienst der Herrschaft vorgegeben werden. Diese Hegemonie wird heute klar und eindeutig von den sogenannten „Linksliberalen“ ausgeübt und bestimmt. Links ist allerdings an diesen „Linksliberalen“ nichts mehr. Seit geraumer Zeit haben sie sich von den beiden zentralen Werten der Linken verabschiedet: von Gleichheit und von Demokratie.

In den 1980ern und 1990ern ging der Umweg noch über die Identität. Heute ist ihnen auch Identität zum Unwort geworden. Denn das Phänomen – nicht das Vokabel – kommt von der kleinräumig orientierten Basis. Gerade diese Orientierung ist aber das gerade Gegenteil dessen, was der liberale Hauptstrom möchte. Ihr höchster Wert ist der Globalismus, der Transnationalismus, in Wirklichkeit der Weltstaat.

Sie berufen sich dabei auf den Internationalismus. Die meisten unter ihnen wissen allerdings ganz gut, dass der alte proletarische Internationalismus das gerade Gegenteil des neoliberalen Globalismus ist. Mit diesem neuen, neoliberalen „Internationalismus“ haben sie inzwischen das alte linke Projekt von Gleichheit und Selbstbestimmung weitgehend kaputt gemacht. Wer sich heute links einordnet, wird heute vom Großteil der Bevölkerung mit Misstrauen betrach­tet: Das sind doch die, welche den Eliten die Mauer machen! So ist denn die alte reformisti­sche Linke am Zusammenbrechen. Das „sozialdemokratische Jahrhundert“ ist definitiv vorbei. Aber auch die KP kriegt keinen Fuß auf den Boden, in Österreich und anderswo.

Die Bevölkerung ist tendenziell in ihrer Mehrheit gegen die EU. Sie hat bestens begriffen, dass sie die staatliche Organisation des Neoliberalismus ist. Heute bestreitet eigentlich auch kaum mehr jemand unter den Progressiven, dass die EU im Wesentlichen dem Finanzkapital dient. Der Streit wurde inzwischen anderswohin verschoben. Kann man die EU reformieren? Manche vertreten dies naiv und in gutem Glauben. Andere bedürfen dazu beträchtlicher Ver­renkungen. Attac Österreich z. B. verkündet in einem Buch: Warum die EU unreformierbar ist und warum Austritt trotzdem keine Lösung ist.

Die ethnischen Minderheiten stehen in ihrer Tradition in einer Auseinandersetzung mit dem nationalen Staat, der definitionsgemäß der Staat einer anderen Identität war. So waren sie stets auf der Suche nach übernationalen Verbündeten. Und so glauben sie, diese in der EU gefun­den zu haben.

Doch da ist noch etwas. Überall haben die Militanten der nationalen und ethnischen Minder­heiten eine Koalition geführt, welche Bauern und Landbevölkerung als Haupt-Element der Basis, und Intellektuelle und Mittelschicht-Gruppen als Führung hatten. Die Bauern sind weitgehend verschwunden. Übrig blieben die Intellektuellen und die Mittelschichten. Kaum ist dieser Sachverhalt anderswo so deutlich zu sehen wie gerade in Kärnten bei den Slowenen. So ist inzwischen die Frage der einstigen diskriminierten Minderheiten zu einer Klassenfrage geworden, wo sich Minderheitsangehörige gewöhnlich auf die Seite der Privilegierten stellen. Gar so unterschiedlich zur SP ist diese Situation eigentlich auch nicht. Und das ist ominös.

Die Nation war die politische Form, in welcher sich zuerst der Parlamentarismus und dann die bescheidenen Ansätze der Demokratie entwickelten, welche schließlich den Wohlfahrtsstaat hervorbrachten. Das supranationale Imperium, in Europa also die EU, ist die Antithese zur These. Sie dreht die Spirale der politischen Dialektik um eine Windung weiter. Das Ziel ist jetzt die Zerstörung von Demokratie und vergrößerte Ungleichheit.

Und doch bin ich Optimist: Die Bevölkerung wehrt sich und wird eine tatsächliche Zerschla­gung der demokratischen Lebensform kaum zulassen. Doch das bedarf der Organisation!

(5.12.2019)