Briefe aus der Praxiswerkstatt von Dr. phil. Horst Müller, Initiative für  Praxisphilosophie und konkrete Wissenschaft.

Liebe Freundinnen und Freunde der politischen Philosophie,

in der Sagenwelt begegnet der Teufel häufig als geschwänztes Wesen. Ich benutze dieses Denkbild, um das Naturell der Kapital- und Finanzwirtschaft möglichst stichhaltig zu erklären: Was man sonst auf der Großleinwand sieht, ist eher ein Schattentheater mit Profitmachern, Finanzhaien und Klimakillern. Das Spiel dahinter und seine Regeln werden aber nicht er-klärt. Stattdessen erscheint darunter die Laufschrift: Green New Deal …Green New Deal …

Marx hat zu den Spielregeln erklärt: Der Mehrwert, alias Profit, der von der Kapitalseite angeeignet wird, stammt aus nicht bezahlter Lohnarbeit. Auch der Zins für Beteiligungen aus den finanzkapitalistischen Büroetagen ist nur ein Anteil am Mehrwert. Die Ansprüche aus der Finanzwelt verstärken den Druck auf die Lohnquote und die Produktionssphäre, und die Spirale steigender Einkommens-, Eigentums-. und Vermögensungleichheit dreht sich weiter.

Das damit einher gehende, zwanghafte Wirtschaftswachstum ist so aber nicht erklärt: Das Geheimnis der Kapitalwirtschaft als historisch vergänglicher Wirtschaftsweise versteckt sich in ihrer inneren Gliederung und Motorik. Dazu braucht es über die Kapitallektüre hinaus einen reproduktions- und praxisanalytischen Ansatz. Marx‘ Schachzug war, dabei die Dimen-sionen der Produktion von Produktions- und von Konsumtionsmitteln zu unterscheiden.

So entsteht Mehrwert von vornherein und proportioniert immer auch in der sachlichen Gestalt von Produktionsmitteln. Diese werden dem Kapitalstock zugeschlagen, also reinvestiert oder akkumuliert. Damit reicht das Produktivitätsniveau, das die Grundlage der Darstellung jenes Plus war, nur noch zu dessen einfacher Re-Produktion. Ein neuer produktiver Mehrwert, überhaupt Bedingung und Zweck für weiteres Wirtschaften, erfordert daher eine erneute Produktivitätssteigerung. So geht es retournierend immer weiter in einer Aufwärtsspirale.

Das System beinhaltet somit einen intrinsischen Akkumulations- und Wachstumszwang in Verbindung mit immer neuen Produktivitätssteigerungen. Diese stellen sich als blendender wissenschaftlich-technologischer ‚Fortschritt‘ dar. Derweil führt die kapitalistische Entwick-lung durch das Missverhältnis von Lohn und Mehrwert zu immer mehr sozial-ökonomischer Ungleichheit, verbunden mit sozialen Presswehen und Krisenbrüchen. Die Maßlosigkeit des Getriebes teilt sich der Konsumgüterproduktion und der Konsum- und Lebenswelt mit.

Der Wachstumszwang erwächst also primär nicht aus Gewinnsucht, angestachelter Konsumneigung, Marktgesetzen oder blindem Fortschrittsdenken. Er ist vielmehr im Innern der Kapitalwirtschaft unaufhebbar verankert. Irreführend ist daher die Vorstellung von einem Haufen Sozialprodukt, der nur mit mehr Augenmaß weiter aufgehäufelt und in einen grünen Hügel verwandelt werden könnte, oder irgendwie geschrumpft gehörte, um damit die Welt zu retten. Dazu hilft auch nicht die Entdeckung, dass der Haufen BIP teils aus Müll besteht, so keinen Wohlstand bedeutet und anders geschätzt werden sollte.

Ungeachtet aller Einwände und Proteste, verschiedener Erklärungsversuche, Gegeninitiativen, Widerstände oder auch Alternativvorschläge programmiert das intrinsische ökonomische Kalkül den Prozess der Kapitalwirtschaft auf Wachstum ohne Ende. Daraus erwächst aber nicht einfach immer Mehr, was nur anders und ‚gerechter‘ zu verteilen wäre. Vielmehr wirkt der Prozess in 7 Dimensionen und mit einem extra Stachel, um Natur, Gesellschaft und Zukunft dem ‚Ungleichheitsregime‘ und der Wachstumszwangswirtschaft unterzuordnen:
Kapitalwirtschaftliches Wachstum löst immer neue Druckwellen zur Rationalisierung und Anpassung der menschbetriebenen Produktion und allen sozialen Verkehrs aus. Es verlangt, zweitens, die Unterwerfung des Sozialstaats unter seine Imperative und erzwingt soziale Austerität. Es drängt zu immer höher organisierter Akkumulation investiver Kapitalien, so dass die Vernichtung von Arbeit und die Großproduktion als ‚wirtschaftlicher‘ gilt und Alternativen verdrängt werden. Es verwirklicht sich, viertens, durch ständige, vielfach unnötige und schädliche Produktions- und Konsumsteigerungen. Weiterhin wird die Privatisierung des Öffentlichen als Wachstumsfeld benutzt: Eine sozialwidrige Vereinnahmung von administrati-ven, sozial-infrastrukturellen und kulturellen Diensten.

Dieses Wachstum führt, sechstens, zu Überproduktionen, die zu einem globalen Expansio-nismus drängen: Mit Schmiedung von Verwertungsketten bis in alle Winkel des Planeten, brachialem Freihandel, kapitalwirtschaftlichen Offensiven in alle Weltgesellschaften und den globalen Süden. Der Sog des Wachstums führt, siebtens, zur Extraktion natürlicher und menschlicher Ressourcen bis zur Erschöpfung und zum Ausstoß unzähliger schädlicher Exkremente. Es lässt Ausgegrenzte in Arbeitslosigkeit, Armut und als Vertriebene zurück.

Die zwingenden Produktivkraftsteigerungen sind ein zusätzlicher Stachel: Sie wirken einerseits zivilisatorisch, münden aber zugleich in eine maßlose informatisch-technologische Aufrüstung und Entnaturalisierung der gesellschaftlichen Praxis. Dieser ‚Fortschritt‘ im Wachstum blendet und bleibt vernünftiger Gestaltung und gesellschaftlicher Kontrolle entzogen. So entgleist er nukleartechnisch, chemo- wie biotechnologisch, agrarindustriell, sozialtechnologisch und überwachungskapitalistisch: Das System hat keine Fehler, es ist das Problem!

Beste Grüße,
Horst Müller
https://www.praxisphilosophie.de


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