Kommentar zu Perspektiven des palästinensischen Befreiungskampfes nach dem Massaker am 7. Oktober 2023. Von Gerald Oberansmayr
Ich bin, seit ich politisch aktiv bin (und das ist schon eine geraume Zeit), der Palästina-Solidarität verbunden. Ich habe mich – zugegebenermaßen eher sporadisch – auch aktiv in diese Solidaritätsarbeit eingebracht: publizistisch, durch das Mit-Organisieren von Demonstrationen und Veranstaltungen, durch die Teilnahme an der Gaza-Flottille im Jahr 2011. Motiviert hat mich die bereits viele Jahrzehnte andauernde Unterdrückung der PalästinenserInnen – durch die israelische Politik von Besatzung, Krieg, Landraub und Apartheid, gestützt durch westliche Großmächte, allen voran den USA, zunehmend mehr auch von EU-Staaten. Allein seit 2000 hat diese Politik über zehntausend PalästInenserInnen das Leben gekostet, ein Fünftel von ihnen Kinder und Jugendliche. Die großartige israelische Menschenrechtsorganisation B´tselem hat diese Verbrechen der israelischen Besatzungsmacht penibel aufgelistet (siehe https://www.btselem.org/).
Von der Notwendigkeit, diese Unterdrückung der PalästinenserInnen zu überwinden, bin ich auch nach den Ereignissen des 7. Oktobers überzeugt, mehr denn je. Aber es ist auch etwas in mir zerbrochen, als ich diese abscheulichen Bilder sah, wie Militante der Hamas wehrlose Jugendliche zu Hunderten abschlachteten. Ich bin mir sicher geworden, dass der palästinensische Befreiungskampf keine Chance hat, wenn er sich nicht aus dieser - durch eine reaktionäre dschihadistische Ideologie unterfütterten - Barbarei, befreien kann. Kein Volk kann sich selbst befreien ohne eine Ideologie der Befreiung, die allen Menschen – unabhängig von ihrer nationalen, kulturellen, religiösen Zugehörigkeit – gleiche Menschenwürde zuspricht.
Die jugoslawische Erfahrung
Manche sagen, PalästinenserInnen und JüdInnen werden nie friedlich zusammenleben können, zu viel Blut sei geflossen, zu viel Hass, zu viel Unterdrückung, zu verschieden der Gott, zu dem sie beten. Ich halte das für falsch. Ein Beispiel, dass das sehr wohl möglich ist, liegt – besser gesagt lag - vor unserer Haustüre: Jugoslawien. Das eng mit Nazi-Deutschland verbundene kroatische Ustascha-Regime ermordete zwischen 1941 und 1945 hunderttausende SerbInnen in bestialischen Konzentrationslagern. Hier ist in wenigen Jahren mehr Blut geflossen als in Jahrzehnten des Israel/Palästina-Konflikts. Wie war es trotzdem möglich, dass nach 1945 über fast ein halbes Jahrhundert lang KroatInnen und SerbInnen und viele andere Völkerschaften gemeinsam in der Bundesrepublik Jugoslawien zusammenleben konnten, ja die ethnischen und religiösen Zugehörigkeiten lange Zeit an Bedeutung verloren? Das politische Fundament dafür waren der gemeinsame antifaschistische Befreiungskampf gegen die deutschen Besatzer, eine auf Gleichheit aller Menschen fußende Ideologie und Gesellschaftskonzeption, das Ringen um nationale Souveränität in ihrer ganzen multiethnischen Vielfalt, eingebettet in internationale Solidarität, die in der zwischen Ost und West gespaltenen Welt zur Triebkraft der Blockfreienbewegung wurde, und – last but not least – der Aufbau einer solidarischen Ökonomie, die als „Selbstverwaltungssozialismus“ bekannt wurde. Es geht mir nicht um eine Verklärung des jugoslawischen „Modells“, das Land kämpfte mit vielen Problemen und Unzulänglichkeiten. Es geht mir darum zu vermitteln: Nur auf diesen fortschrittlichen Fundamenten konnte das friedliche Zusammenleben von Völkerschaften, die eine Geschichte gegenseitiger Grausamkeiten trennte, gelingen. Auf der Grundlage einer reaktionären völkischen Ideologie wie etwa der der großserbischen Tschetniks wäre das von vornherein zum Scheitern verurteilt gewesen.
Es war deshalb kein Zufall, dass Jugoslawien kollabierte, nachdem der Internationale Währungsfonds in seinen neoliberalen „Strukturanpassungsprogrammen“ Ende der 80er, Anfang der 90er Jahre diese fortschrittlichen Fundamente Jugoslawiens zum Einsturz brachte: eine auf Privatisierung und Liberalisierung aufbauende „Schocktherapie“ zerstörte den solidarischen Finanzausgleichs zwischen den Republiken, trieb tausende Betriebe über Nacht in den Bankrott und führte zu Massenarbeitslosigkeit und Massenverarmung. Das setzte – angestachelt von der deutschen Außenpolitik, die die ethnische Filetierung des Landes befeuerte – die nationalistischen Dämonen der Vergangenheit auf allen Seiten wieder frei, die letztlich in Bürgerkrieg, NATO-Bombardement und neokolonialer Bevormundung mündeten.
Ausweg aus dem Teufelskreis imperialer Fremdbestimmung und ethnischem Hass
Meine Konsequenz: Ich halte Aussöhnung, friedliche Koexistenz bzw. gleichberechtigtes Zusammenleben in einem gemeinsamen multiethnischen Staat oder Staatenverbund auch in Israel/Palästina für möglich, ja für alternativlos, wenn ein Ausweg aus dem Teufelskreis von Unterdrückung und Gewalt gelingen soll. Ohne einem Schematismus das Wort reden zu wollen, verweist die jugoslawische Erfahrung auf wichtige Rahmenbedingungen, damit das gelingen kann: eine Ideologie der Gleichheit und eine solidarische Ökonomie gehören ebenso dazu wie das Ringen um nationale Souveränität, basierend auf multiethnischer Gleichberechtigung, internationaler Solidarität und der Unabhängigkeit von imperialen Großmächten.
Man mag einwenden: Das ist eine Mammutaufgabe. Wohl wahr, aber es ist ein realistischer Weg, für den zu kämpfen sich lohnt. Völlig irreal ist aus meiner Sicht dagegen, dass der legitime Befreiungskampf der PalästinenserInnen auf der Grundlage einer reaktionären, menschenverachtenden Politik und Ideologie, wie sie im Massaker der Hamas am 7. Oktober zutage trat, eine Perspektive entwickeln kann, die aus dem Sumpf der imperialen Fremdbestimmung und des ethnischen Hasses herausfindet. Dafür dürften wohl auch die israelischen Machthaber seinerzeit ein feines (Herrschafts-)Gespür gehabt haben, als sie in den 80er Jahren subtil den Aufstieg der fundamentalistischen Hamas unterstützten, um den damals noch von der PLO dominierten palästinensischen Widerstand zu spalten.
Welche Bedeutung hat das für uns hier und heute?
Zu wissen, was andere tun sollten, wenn man es selbst nicht tut (oder zumindest versucht), ist Geschwätz. Durch die Einbindung Österreichs in die imperiale EU-Politik ist Österreich auch Teil des Problems im Israel-Palästina-Konflikts und nicht – wie noch zu Kreiskys Zeiten – Teil der Lösung. Wir müssen uns aus dieser Abhängigkeit befreien, wenn wir wieder Teil der Lösung werden wollen. Auch bei uns kann diese Befreiung nur nach vorne gerichtet und nicht reaktionär gelingen. Das Ringen um ein freies, solidarisches, neutrales und weltoffenes Österreich ist letztlich der wichtigste und realistischste Beitrag, den wir hier und heute leisten können. Im eigenen Interesse, aber auch im Interesse eines nach vorne gerichteten Auswegs aus Tragödien wie denen des Nahostkonflikts.
Gerald Oberansmayr
(10.10.2023)