Image"Es ist leider nicht mehr nur 5 Minuten vor 12 Uhr sondern viel schlimmer, es ist vielleicht schon 2 Jahre vor 1933. Wir haben die Wahl zwischen der Sparpolitik von Reichskanzler Brüning und dem „New Deal“ von Roosevelt. Wir haben die Wahl zwischen Schuldenbremse und Guthabenbremse."
Ein Gastbeitrag von Erhard Glötzl zur aktuellen Auseinandersetzung um die Schuldenbremse.


Ja, hohe Staatsschulden müssen abgebaut werden, weil sie unsozial sind.
Es stimmt, dass Staatschulden immer dann unsozial sind, wenn die Wachstumsrate unter der Zinsrate liegt oder präziser formuliert, wenn das durch die zusätzlichen Staatschulden ausgelöste Wirtschaftswachstum und die daraus erwachsenden Steuereinnahmen kleiner sind als die daraus erwachsenden Zinszahlungen. Denn dann können die Zinsen nicht durch Wachstum finanziert werden, sondern führen diese Zinsen zu einer Umverteilung von den vielen Steuerzahlern zu den wenigen Besitzern von Staatsanleihen und einem stetigen immer schnelleren Ansteigen der Staatsschulden. Und genau das ist die Situation, die wir seit den 80er Jahren überall in Europa haben.

Ja, die hohen Staatsschulden müssen rasch abgebaut werden, weil unser Wirtschaftssystem immer rascher auf einen Zusammenbruch zusteuert. Aber es sind nicht nur die Schulden des öffentlichen Sektors sondern auch die Schulden der Privaten und der Unternehmen, die weit über das für eine Volkswirtschaft verträgliche Ausmaß hinaus gestiegen sind, wie in der kürzlich von der Boston Consulting Group erstellten Studie „Back to Mesopotamia“ richtig festgestellt wurde. Aber die Brisanz der derzeitigen Situation wird nicht nur von Frau Merkel und Frau Fekter sondern leider auch von Herrn Faymann vollständig unterschätzt.

Es ist leider nicht mehr nur 5 Minuten vor 12 Uhr sondern viel schlimmer, es ist vielleicht schon 2 Jahre vor 1933.

Wir dürfen doch um Himmels Willen nicht den Fehler der 30er Jahre in Deutschland wiederholen und glauben, dass man Schulden durch gesamtwirtschaftliches Sparen zurückzahlen kann. Das führt geradewegs in die Katastrophe. Frau Fekter und Frau Merkel müssen endlich begreifen, dass die Volkswirtschaft insgesamt eben weder wie der Privathaushalt von Frau Merkel noch wie die Schottergrube von Frau Fekter funktionieren. Zwar kann ein privater Haushalt seine Schulden reduzieren indem er weniger ausgibt. Aber das funktioniert nur unter der Voraussetzung, dass die Einnahmen des Haushalts gleich bleiben. Auch ein Schottergrubenunternehmen kann seine Schulden reduzieren, indem den Arbeitern weniger bezahlt wird. Aber auch das geht nur dann, wenn die Nachfrage nach Schotter und damit die Einnahmen gleich hoch bleiben. Eine Ausgabenreduzierung kann eben allgemein gesagt nur dann zu einer Schuldenreduzierung führen, wenn sie nicht gleichzeitig zu einer Einnahmenverminderung führt. Und genau das gilt eben für eine Volkswirtschaft im Ganzen nicht, denn dort sind die gesamten Einnahmen immer gleich hoch wie die gesamten Ausgaben.

Daher kann eine Volkswirtschaft durch „generelles Sparen“  in Summe eben „nichts sparen“, sondern nur weniger produzieren und weniger konsumieren.

Das hat sogar schon Henry Ford gewusst, wenn er sagte. „Es nützt nichts, wenn ich mein Einkommen spare und in zusätzliche Maschinen investiere. Ich muss meine Arbeiter gut zahlen, sonst haben sie kein Geld meine Autos zu kaufen“. Mit Sparen kann man die Schulden genauso wenig abbauen wie man ein Auto bremsen kann, indem man versucht, die Tachometernadel zurückzudrehen.

Man muss verstehen, dass sich das Schuldenproblem so schwer begreifen lässt, weil es sich um ein Paradoxon handelt: „Das Fundamentalparadoxon der Geldwirtschaft: Die Ohnmacht der Schuldner“. Was für den einzelnen Schuldner gilt, nämlich dass er seine Schulden durch Fleiß und Sparsamkeit zurückzahlen kann, gilt für die Gesamtheit der Schuldner in Summe leider nicht.

Denn Schulden und Guthaben entstehen immer gleichzeitig und in gleicher Höhe. Sie sind daher in Summe immer gleich hoch (1. Hauptsatz der Volkswirtschaftslehre). Und weil die Summe der Schulden immer gleich hoch ist wie die Summe der Guthaben, können sie auch immer nur gleichzeitig abgebaut werden. Die Forderung nach einem Schuldenabbau ist daher immer identisch mit der Forderung nach einem Abbau der Guthaben oder dem Überwälzen der Schulden auf andere. Schulden in Summe abzubauen und gleichzeitig die Guthaben in Summe zu erhalten, ist daher prinzipiell unmöglich. Es reicht nicht, wenn sich die Schuldner (so wie z.B. Griechenland) für einen Schuldenabbau entscheiden und bereit wären, durch Fleiß und Sparsamkeit einen Überschuss an Waren zu erzeugen, sondern die Gläubiger (so wie z.B. Deutschland) müssen sich auch für einen Vermögensabbau entscheiden und diese Waren kaufen (z.B. in Griechenland mit ihren Ersparnissen auf Urlaub fahren). Die Gläubiger (z.B. Deutschland) aber wollen freiwillig keinen Vermögensabbau (z.B. durch eine ausgeglichene Zahlungsbilanz) sondern ganz im Gegenteil ein Wachstum ihrer Vermögen (z.B. durch Ausbau ihrer Exportwirtschaft). Darin liegt also die Ohnmacht der Schuldner.

Wenn man aber die Guthaben nicht antasten will, bliebe zum Abbau der Staatsschulden nur die Möglichkeit, sie auf die privaten Haushalte oder die Unternehmen abzuwälzen. Das aber scheidet aus, weil sie ohnehin schon zu stark verschuldet sind und weil sie auch gar nicht bereit wären, sich noch weiter zu verschulden.

Ja, es ist natürlich sinnvoll wenn die Staatsverwaltung effizienter wird. Natürlich ist es sinnvoll, wenn ein Verwaltungsbeamter eingespart werden kann. Zu einer Erhöhung des Wohlstandes führt das aber nur, wenn er stattdessen eine andere wertschöpfende Tätigkeit ausführt. Um das aber auch zu ermöglichen, muss es das vordringlichste Ziel aller Maßnahmen sein, die Realwirtschaft in allen Bereichen zu stärken. Ansonsten zielt jeder Versuch zur Effizienzsteigerung ins Leere.

Unser Wirtschafts- und Gesellschaftssystem droht derzeit wegen der generell wesentlich zu  hohen Verschuldung außer Kontrolle zu geraten. Wesentlich besser versteht man die Situation aber, wenn man sie nicht von den Schulden her betrachtet, sondern von der Kehrseite der Medaille also den Guthaben her betrachtet. Wie kann es aber gelingen, die Guthaben durch eine Guthabenbremse so rasch als möglich zu vermindern?

Wie man vorgehen muss, wenn ein dynamisches System droht, außer Kontrolle zu geraten, erkennt man am besten am Beispiel eines Autos, das wegen überhöhter Geschwindigkeit instabil wird. Für die Beherrschung solcher Situationen gelten für alle Maßnahmen zunächst zwei Prinzipien:

Niemals einseitige Maßnahmen (z.B. nur mit einem Rad bremsen) und niemals schockartige Maßnahmen (z.B. alle 4 Räder blockieren). Um die Geschwindigkeit des Autos und in Analogie dazu die Guthaben bzw. Schulden wieder unter Kontrolle zu bringen, sind folgende Maßnahmen nötig:

1. Sofort weg vom Gaspedal: Das heißt, die Zinsraten in allen Staaten so rasch als möglich gegen Null senken. Die einzige Institution, die das in der gegenwärtigen Situation sofort erreichen kann ist die EZB, indem sie Staatspapiere von allen Staaten der Eurozone, am besten in der Form von Eurobonds, aufkauft. Der sogenannte Rettungsschirm wird dazu nie in der Lage sein, wie man an der Realität schon jetzt erkennt.

2. Die Bodenhaftung erhöhen: Das heißt, die Realwirtschaft zu stärken. Dazu stehen 2 Möglichkeiten zur Verfügung: a.) durch einen Marshallplan mittels „produktiver Geldschöpfung“, das heißt, dass die EZB frisches Geld schöpft, dieses aber nicht über das normale Bankensystem in das Wirtschaftssystem einbringt, sondern ausschließlich (oder vorwiegend) über öffentliche Infrastruktur- und Investitionsbanken wie z.B. die EIB. Das würde gewährleisten, dass das frische Geld tatsächlich in der Realwirtschaft zu sinnvoller Nachfrage führt und nicht nur in der Finanzwirtschaft zu einer „Asset-Preis-Inflation“. Und b.) indem die Löhne in Deutschland und den anderen Überschussländern erhöht werden, anstatt sie in den Defizitländern zu senken.

3. Vorsichtig bremsen: Das heißt, Guthaben abbauen. Grundsätzlich gibt es dazu nur 3 Möglichkeiten: a.) Finanzvermögen durch einmaligen Haircut zu bereinigen oder b.) Finanzvermögen massiv zu besteuern oder

c.) Finanzvermögen zu entwerten (Inflation).

Die Methode der Bereinigung durch einen einmaligen Haircut war zwar 600 v. Chr. durch Solon den Weisen in Athen erfolgreich und 1948 bei der Währungsreform. In der heutigen Situation ist dies aber (noch?) nicht in demokratischer Weise durchzusetzen. Ähnliches gilt für eine notwendige massive Finanzvermögensbesteuerung. Beide Maßnahmen müssten „über Nacht“ mit Notstandsgesetzen und mit begleitenden Kapitalverkehrskontrollen umgesetzt werden, was unrealistisch ist. Daher scheint als einzig gangbarer Weg im Rahmen des demokratischen Systems der Weg über Inflation zu sein. D.h. massives Einschreiten der EZB als einzige kurzfristig handlungsfähige Institution und Sicherstellung, dass das geschöpfte Geld in der Realwirtschaft durch die oben genannte produktive Geldschöpfung landet. Bekanntlich würde Inflation zur Flucht in die Sachwerte mit allen negativen Nebenerscheinungen führen. Um dies zu verhindern muss der Inflationsweg gleichzeitig verknüpft sein mit einer entsprechend hohen Besteuerung der Sachwerte (vor allem Grund&Boden), was möglich ist, weil diese im Gegensatz zu Finanzvermögen in der Regel nicht mobil sind.

Einseitige Maßnahmen wie z.B. der einseitige Schuldenschnitt für Griechenland sind im Sinne des oben genannten 1. Prinzips kontraproduktiv, weil sie eher zu einer weiteren Destabilisierung des Systems führen, wie auch die jüngsten Entwicklungen auf den Kapitalmärkten zeigen.

Grundsätzlich bleibt eine Besteuerung der Finanzvermögen natürlich höchst sinnvoll ist, solange sie gemäß dem oben genannten 2. Prinzip möglichst flächendeckend eingeführt wird.


„Gott schütze Österreich“. Das war der fromme Wunsch von Kanzler Schuschnigg im Jahr 1938. Aber Gott hat weder Österreich, noch Europa, noch die ganze Welt davor geschützt, dass sie alle in ein Chaos stürzten. Darum dürfen wir uns auch heute nicht auf Gott verlassen, sondern müssen selbst die richtigen Entscheidungen treffen und auch umsetzen. Wir haben die Wahl zwischen der Sparpolitik von Reichskanzler Brüning und dem „New Deal“ von Roosevelt. Wir haben die Wahl zwischen Schuldenbremse und Guthabenbremse.

Warum aber lernt die Menschheit nicht aus der Geschichte? Warum sind wir gerade am besten Weg, die Geschichte zu wiederholen? Bundeskanzler Kreisky hätte wohl heute zu vielen gesagt: „Lernen Sie Geschichte“. Und dem müsste man noch hinzufügen: „Verstehen Sie endlich die Grundprinzipien der Ökonomie“.

Erhard Glötzl, 27.11.2011