Eine Betroffene macht ihrem Ärger über den Pflegenotstand in Österreich Luft und fordert eine Debatte darüber, welche Pflege wir in Österreich haben wollen: Ökonomisierung aller Lebensbereiche oder eine Abkehr von dieser in ihrer Konsequenz menschenverachtenden Politik.

Jetzt wird darüber diskutiert, dass den ausländischen 24-Stunden-Betreuungskräften in Österreich die Familienbeihilfe gekürzt werden soll, die für viele ein wesentlicher Bestandteil des Einkommens ist. Niemand redet davon, dass es ein allgemeines politisches Versagen gibt, weil man nicht auf die seit langem vorherrschenden Probleme in der Pflege reagieren will. Niemand sagt, liebe Wähler, werdet so alt wie ihr wollt, aber die Pflege müsst ihr selbst zahlen, denn der Staat hat kein Geld mehr. Nicht für Gesundheit, nicht für Soziales, nicht für Bildung.

Die Pflege wird nach den geltenden Marktgesetzen auf alle Fälle teurer: viel Nachfrage, wenig Angebot! Die Kassen des Sozialstaates sind leer. Alle wollen alt werden, doch will man trotzdem mit 60/65 in Pension gehen, die Wirtschaft braucht keine älteren Arbeitskräfte. Und in manchen Bereichen hat man auch Angst vor der Erfahrung der Älteren. Über Freitod darf in Österreich aufgrund der Euthanasie-Versuche während des Nationalsozialismus auch nicht geredet werden. Viele Politiker – in den Fängen der Wirtschaft – sagen natürlich nicht, dass man als pflegebedürftiger Mensch ein unrentabler Kostenfaktor ist.

Deswegen muss das Problem in Form von Fremdbetreuung ausgelagert werden. An Betreuungskräfte aus dem Osten, die billig und willig sind und sich keinesfalls ins politische Tagesgeschäft einmischen. Sprachkenntnisse sind offiziell gar nicht erwünscht. Warum verlangen angloamerikanische Länder für Einwanderer beste Ausbildung und Sprachkenntnisse auf C1-Niveau, in der Schweiz gibt es ein eigenes Gesetz, das für Zuwanderer in der Pflege zumindest Sprachniveau B2 vorschreibt, in Österreich hingegen wird für zugewandertes Pflegepersonal im öffentlichen Dienst gerade einmal B2 empfohlen, in Privateinrichtungen reichen auch weniger aus. Und niemand überprüft tatsächlich, ob die Betroffenen persönlich über ausreichende Sprachkenntnisse verfügen. Denn die Unterlagen kann einem jeder in der jeweiligen Sprache zusammenstellen.

Diese Fremdbetreuung ist immer noch günstiger als genügend Fachkräfte im eigenen Land zu qualifizieren und diese auch zu halten. Derzeit herrscht in allen europäischen Ländern ein Brain-Drain aus den peripheren Regionen in die reichen Zentren, aus ärmeren Regionen dorthin, wo man besser bezahlt bekommt, aus den ländlichen Regionen in die Städte. Für die – vorwiegend weiblichen -  Pflegekräfte bedeutet das nicht selten Migration quer über den Globus.

Innerhalb von Europa ist vor allem aufgrund der demografischen Entwicklung ein Zuzug von Migranten aus Drittstaaten in die Pflegeberufe spürbar, was die Schulungsprogramme für Flüchtlinge in die Pflege zeigen. Ungeachtet der Sprachkenntnisse werden hochqualifizierte einheimische Pflegekräfte, die nicht entsprechend bezahlt und häufig nicht qualifikationsadäquat eingesetzt werden, wiederum in die Emigration getrieben. In Italien gibt es in den Pflegeheimen überwiegend marokkanische Pfleger, in der Schweiz Pflegekräfte und  Ärzte aus Deutschland, Österreich und Südtirol, in Österreich sind Pflegekräfte und zunehmend mehr Ärzte aus den osteuropäischen Staaten vorherrschend.

Europaweit zeigt sich in vielen Branchen ein ähnliches Bild, von dem zunehmend populistische Parteien profitieren. Dass es einen Zusammenhang zwischen niedrigen Löhnen, Ungleichheit in der Gesellschaft, Raubbau am Sozialsystem und letztlich auch Zunahme von Gewalt gegen Jung und Alt gibt, scheint noch nicht in der öffentlichen Debatte angekommen.

Es gibt letztlich auch keinen Mangel an österreichischen Pflegekräften, die Ausbildungsstätten liefern am Fließband, die Aufnahmekriterien werden seit Jahren abgesenkt, weil man das Personal dringendst braucht. Qualität kann auf diese Weise nicht entstehen, weil es auch keine Kontinuität des Personals gibt. Genauso wenig gibt es verlässliche Zahlen über Verweildauer im Beruf. Lediglich aus der letzten NEXT-Studie (nurses early exit study) aus dem Jahr 2011 geht hervor, dass Arbeitskräfte im Pflegeberuf alle sechs Jahre neu ausgebildet werden, weil die Leute nicht im Beruf bleiben. Von volkswirtschaftlicher Nachhaltigkeit kann dabei nicht die Rede sein.

Viel geredet wird auch von den Angehörigen, in der Regel immer noch überwiegend Frauen. 80% der Betreuungs- und Pflegebedürftigen werden in Österreich von Angehörigen versorgt. Diese stehen unter schwerer Belastung, aber auch darum kümmert sich die Politik wenig. Der Anteil an pflegenden Angehörigen wird zurückgehen, der Ausbau der professionellen ambulanten Pflege noch lange nicht vollzogen. Auch den Angehörigen ist es ein Anliegen, dass die Pflege so günstig wie möglich ist, weswegen vor allem in Privathaushalten, die ausreichend Wohnraum haben, häufig 24h-Betreuerinnen zugegen sind. Man will ja schließlich auch die Eigentumswohnung oder das Haus erben. Leistbare Pflege für alle ist kein politisches Zukunftsmodell, denn dabei müsste man über die immer breiter werdende Kluft zwischen denen, die etwas besitzen (Eigentum, Kapital, Ressourcen) und denen, die nie etwas besitzen werden, weil die grundlegenden Voraussetzungen fehlen, diskutieren.

Und so bleiben die professionellen Pflegekräfte wieder auf der Strecke, was letztlich allen recht ist, aber langfristig zu sehr großen Problemen führen wird.

Der Zuzug von 24-Stunden-Betreuerinnen bleibt aufrecht, aber vielleicht versiegt er auch. Die Politik überlässt das Feld dem Wählervolk und entzieht sich gleichzeitig der Verantwortung, auf die zusammenhängenden Probleme hinzuweisen und diese zu lösen. Gegenwärtig machen sich Tendenzen breit, den Zuzug von Arbeitsmigranten einzudämmen, was für die Professionalisierung der Pflege und für bessere Bezahlung durchaus eine Chance wäre. Denn dann müsste man sich darum bemühen, dass man ausreichend inländische Pflegekräfte hat, die es nur bei entsprechenden Arbeitsbedingungen und Bezahlung gibt, wie in vielen anderen Branchen auch.

Gesundheits-und Sozialpolitik können nicht nach betriebswirtschaftlicher Logik gestaltet werden. Der Staat hat die Gesamtzusammenhänge aus den Augen verloren. Das Volk, jeder Mensch hat ein Recht auf eine funktionierende Gesundheitsversorgung, auf ein hochwertiges Sozial- und Bildungswesen. Doch darum muss auch gekämpft werden und dem Wählervolk wurden wichtige Informationen über die Sachverhalte von linear ausgerichteter Wirtschaftspolitik vorenthalten. Darin verschwinden nämlich Transparenz, Partizipation und Meinungsfreiheit.

Es wird eine grundsätzliche Entscheidung erforderlich sein: Wird diese fortlaufende Ökonomisierung aller Bereiche des menschlichen Lebens in naher Zukunft aufrechterhalten werden, dann müssen auch die Folgen für alle diese Bereiche ganz offen politisch deklariert werden. Oder wird es zu einer Abkehr dieser in ihrer Konsequenz menschenverachtenden Politik kommen und  es gibt eine Überlebenschance für alle, aber dann muss man auch eine gemeinsame Vision entwickeln, wie die anstehenden Probleme gelöst werden.

(Juli 2018)