Die kritische Pflegeexpertin Alexandra Prinz schildert eindrücklich, woran es in der Pflege in Österreich fehlt.

Derzeit hat die Pflege Hochsaison. Kaum ein Tag vergeht, ohne dass nicht ein Bericht im Fernsehen oder in den Tageszeitungen über die Pflege erscheint. In den sozialen Medien tauschen sich Beschäftigte in der Pflege über ihre Alltagsrealitäten aus, diese weichen grundsätzlich von den diskutierten Inhalten in den Medien ab. Die wenigsten Journalisten haben wirklich Zugang zu Basisbeschäftigten in der Pflege und wenn, dann wird das als Einzelmeinung abgetan. Beschäftigte in der Pflege sind selten in der Lage, sich direkt über ein Medium Gehör zu verschaffen, zumal den meisten institutionell verboten ist, sich ohne Erlaubnis von Vorgesetzten öffentlich zu äußern. Vorgesetzte sind wiederum keine Basismitarbeiter und so wird täglich ein verzerrtes und teilweise inhaltsloses Bild über die sogenannten wahren Zustände in der Pflege vermittelt. Wer sich öffentlich äußert, ist bald den Job los und eine freiberufliche Tätigkeit in der Pflege ist zwar laut GuKG möglich, muss aber vom Kunden bzw. Patienten selbst bezahlt werden, obwohl dieser sein Leben lang in den Sozialversicherungstopf eingezahlt hat. Die Sozialversicherungen verrechnen nicht direkt mit den Pflegekräften, sondern nur mit Physiotherapeuten, Hebammen, Psychotherapeuten und Ärzten.

Abgesehen von den immer schwieriger werdenden Arbeitsbedingungen, der seit Jahren an Kaufkraft verlierenden Einkommen, dem Zerfall der Berufsgruppen in der Pflege befinden sich am anderen Ende der Skala eine steigende Anzahl von Pflegebedürftigen. Im November 2019 verzeichnet die Statistik Austria die Anzahl von 466.818 Pflegegeldbezieherinnen, die dafür benötigten Ausgaben belaufen sich auf 222 Millionen €. Die Gruppe der pflegenden Angehörigen ist mit Abstand die von Pflege-Arbeit am meisten betroffenen Gruppe. Nur 16% der Pflegegeldbezieher werden in einem Pflegeheim betreut, die restlichen 84% werden zu 45% von Angehörigen, zu 32% über die mobilen Dienste und nur zu 5% mittels 24h Betreuung versorgt. Der überwiegende Teil der Care-Arbeit in allen Settings wird von Frauen gemacht.

In der Praxis sieht das so aus: Frau L. ist 85 Jahre und schwer dement. Ohne 24h Betreuung könnte sie nicht mehr zu Hause leben. Die 24h-Betreuerin kommt aus Rumänien und spricht kaum Deutsch. Die Wohnung ist verdunkelt, die schwer demente Dame kann nicht mehr sprechen, sondern nur noch wimmern. Auch für die 24h Betreuerin ist das kein einfaches Leben, denn sie kann sich mit der Pflegebedürftigen weder unterhalten noch hinausgehen. Mit dem Rollstuhl können sie die Wohnung nicht verlassen, da es im Haus auch keinen Lift gibt. Unter solchen Umständen leben Zigtausende Menschen in Wien, teilweise unter desolatesten Verhältnissen. Viele können sich keine 24h Betreuung leisten, oft steht kein separates Zimmer zur Verfügung.

Zahlreiche Betreuungsbedürftige haben keine Angehörigen, die sich um sie kümmern. Eine 93jährige Frau berichtet, dass sie auf keinen Fall ins Pflegeheim will, ihr Sohn lebt in Australien und kann sich nicht um sie kümmern. Doch mobile Dienste will sie auch nicht akzeptieren, da käme immer jemand anderer und das Personal könne auch nicht immer deutsch, sagt sie. Eine aufsuchende Sozialarbeit gibt es bis dato nicht und so finden sich auch erschreckende Zustände in österreichischen Wohnungen. Man sagt, dass die Situation am Land besser wäre als in der Stadt, aber schließlich gelten Wohnungen und Häuser als privater Bereich. Auch wenn Menschen ihre Wohnungen schon lange nicht mehr in Ordnung halten können, so sind diese Wohnungen dann immer noch der Arbeitsplatz der MitarbeiterInnen von mobilen Diensten, für die kein Arbeitnehmerschutzgesetz gilt. Bei sehr gepflegten Wohnungen ist das nicht weiter schlimm, wird aber dann schlagend, wenn Wohnungen nicht gelüftet werden, der Putz von den Wänden fällt, elektrische Leitungen lebensgefährlich sind, der Gasherd seit Jahren nicht gereinigt wurde, die Badewanne als WC benützt wird und auch Ratten im unbeleuchteten Treppenhaus wohnen. All das sind Arbeitsverhältnisse, die die mobile Pflege ausmachen, für die es immer weniger Personal gibt. Junge Menschen, die eine tertiäre Ausbildung durchlaufen haben, wollen sich solchen Arbeitsverhältnissen nicht aussetzen, man braucht dazu auch schon sehr viel Erfahrung, denn einen Arzt wie im Krankenhaus hat man in der mobilen Pflege nicht sofort zur Hand. Und was tun, wenn es einen akuten Notfall gibt, die gebrechliche Frau beim Transfer vom Bett in den Rollstuhl stürzt, die Füße aufgrund von Ödemen stark angeschwollen sind oder der Patient gerade einen schweren Asthma-Anfall hat? Pflegebedürftige sind nicht immer alt, es gibt eine wachsende Anzahl von chronisch Kranken, sei es COPD, Multiple Sklerose, Menschen mit psychischen Krankheiten, Kinder mit chronischen Krankheiten, von HIV-Betroffene, Obdachlose in Unterbringungseinrichtungen etc. Die Pflegebedürftigkeit nimmt in allen Gruppen markant zu. Die Komplexität der Krankheitsbilder benötigt auch komplex und vernetzt denkendes Personal, doch die Abgänger von Fachhochschulen finden sich nicht in der mobilen Pflege. Weil dort der Bedarf immer mehr steigt, versucht man dem mit eher gering ausgebildetem Personal und mit Zuwanderung (immer mehr aus Drittstaaten) beizukommen.

Mitnichten gibt es immer weniger Junge, die sich für einen Pflegeberuf entscheiden, was sich über die mediale Berichterstattung über die Arbeitsbedingungen in der Pflege und die bekannt schlechte Bezahlung nicht gebessert hat. Ein Teilverschulden ist auch den Personalvertretungen, Geschäftsführungen, Gewerkschaften sowie Betriebsräten anzulasten, die in den letzten Jahren durchaus über den drohenden Notstand informiert waren. Vanessa N. berichtet, dass es ihr in ihrer Tätigkeit eines bekannten Krankenanstaltenträgers nicht möglich war, ihre Arbeitszeit mit ihren Betreuungspflichten zu vereinbaren. Ein Gespräch mit Stations- und Oberschwester sowie Betriebsräten habe keine Dienstplanänderung gebracht, als Alleinerziehende war sie für vier Wochenenddienste in einem Monat trotz ihrer 20h Anstellung eingeteilt. Wegen mangelnden Verständnisses ihrer Vorgesetzten entschied sie sich für eine Tätigkeit in der mobilen Pflege, wo der Kollektivvertrag der Sozialwirtschaft Österreich Arbeitszeiten von 6-22h vorschreibt. Vanessa L. hat den Pflegeberuf aufgegeben, weil er mit ihren Betreuungspflichten nicht vereinbar war.

Claudia R. berichtet von Problemen mit verständnislosen Vorgesetzten. Sie war als diplomierte Krankenschwester ausgebildet und kannte ihren gesetzlich vorgeschriebenen Tätigkeitsbereich. Nach dem Abschluss ihres Masterstudiums wünschte sie sich, nun wenigstens für Tätigkeiten eingesetzt zu werden, die ihrem Ausbildungsbereich als diplomierte Pflegefachkraft entsprechen, scheiterte jedoch an ihrer Vorgesetzten, die kein Masterstudium vorzuweisen hatte und auch nie in den mobilen Diensten gearbeitet hat. Man könne ihr nicht garantieren, dass sie dann genug zu tun hätte. Die Folge war die Kündigung durch die Arbeitnehmerin, die heute in der Schweiz arbeitet.

Österreich ist gerade dabei, hochqualifiziertes einheimisches Personal an besser zahlende Länder zu verlieren. In den Krankenhäusern, Pflegeheimen und mobilen Pflegeeinrichtungen gelten jeweils unterschiedliche Kollektivverträge. Laut OECD-Bericht verfügt Österreich über einen überdurchschnittlich hohen Anteil an Ärzten, jedoch an zu wenigen hochqualifizierten professionellen Pflegekräften, für die der derzeit im SWÖ-KV vorgegebene Sold an die 11€netto nach 10 Berufsjahren unattraktiv ist. Seit 2007 die Legalisierung der 24h Betreuung eingeführt wurde, wird die professionelle Pflege kaputtgespart. Heute wäre der Betrieb in Krankenhäusern, Pflegeheimen und mobilen Diensten ohne EU-Binnenmigration nicht mehr aufrechtzuerhalten. Laut Registrierung der Arbeiterkammer gibt es genügend (einheimische) Pflegekräfte (170.000[1]), doch die finden sich nicht im Pflegeberuf. Das derzeitige Regierungsprogramm sieht sich zwar der Förderung der pflegenden Angehörigen verpflichtet, jedoch steht nichts von der Stärkung der professionellen Pflege geschrieben.

Die Politik wird sich entscheiden müssen, gut qualifiziertes Pflegepersonal hinkünftig in angemessener Zahl auszubilden, bestens zu bezahlen und für Arbeitsbedingungen zu sorgen, die der Gesetzeslage bezüglich psychischer Belastung bzw. auch Schwerarbeit gerecht wird. Nur damit kann auch eine Verweildauer im Beruf erreicht werden. Care-Arbeit ist Schwerarbeit und muss entsprechend entlohnt (und für die Pension angerechnet werden, ist derzeit in den mobilen Diensten nicht der Fall) werden, wenn die Pflege nicht auf Dauer zum Notfall werden soll.
(Februar 2020)

https://www.hilfswerk.at/fileadmin/storage/bgl/user_upload/Unterlage_PK_HWWIFO_17Dez2018_final.pdf

https://www.arbeitsinspektion.gv.at/inspektorat/Gesundheit_im_Betrieb/psychische_Belastungen/

[1] https://www.arbeiterkammer.at/interessenvertretung/arbeitsmarkt/gesundheitsberufe/index.html