Clemens August Graf von Galen, Bischof von Münster in Westfalen, stellte sich mutig gegen das Euthanasieprogramm der Nazis, das eine Vorstufe zum Holocaust war. Von Christian Eder

 

„... der Gnadentod gewährt...“

Die so genannte Aktion „T 4“, 1940 begonnen, erhielt ihren Namen nach der Adresse der Euthanasiezentrale in der Tiergartenstraße 4 in Berlin. Entsprechend der unmenschlichen Diktion vom „lebensunwerten Leben“ sollten die Insassen der staatlichen und kirchlichen Pflegeheime für Behinderte und Geisteskranke erfasst und in mehreren Vernichtungszentren, zu denen auch Hartheim nahe Linz zählte, getötet werden.

Die Aktion, die sogar nach NS- Gesetzen keine rechtliche Grundlage hatte, ging auf eine Ermächtigung Adolf Hitlers zurück. In einem nicht zufällig auf den 1. September 1939, den Beginn des 2. Weltkriegs, rückdatierten Erlass hieß es:

Reichsleiter Bouhler und Dr. med. Brandt sind unter Verantwortung beauftragt, die Befugnis namentlich zu bestimmender Ärzte so zu erweitern, dass nach menschlichem Ermessen unheilbar Kranken bei kritischster Beurteilung ihres Krankheitszustandes der Gnadentod gewährt werden kann.

Dieser „erweiterten Befugnis“ fielen im Zuge der Aktion T 4 über 70 000 Menschen zum Opfer. Ein zentrales Dokument, die „Hartheimer Statistik, spricht davon, dass sie „desinfiziert“ wurden. Menschen als Ungeziefer...

Die Mordaktion an den Behinderten stellt eine Vorstufe des Holocaust dar. Die hier erprobten Methoden fanden in den Massenvernichtungslagern wie Auschwitz- Birkenau, Treblinka, Belzec, Chelmo, Sobibor oder Majdanek Anwendung. Und es gab auch personelle Kontinuitäten: So waren etwa die in Hartheim tätigen Dr. Irnfried Eberl und Franz Stangl Kommandanten im Vernichtungslager Treblinka, in dem allein an die 900 000 Menschen ermordet wurden.

Widerstand gegen die Euthanasie kam nicht zuletzt aus kirchlichen Kreisen. So traten etwa in Österreich neben der Visitatorin der Barmherzigen Schwestern in Salzburg, Anna Berta von Königsegg, der Fürstbischof von Salzburg Dr. Andreas Rohracher und der St. Pöltner Diözesanbischof Michael Memelauer offen gegen den Mord an den Behinderten und Geisteskranken auf.

Wehe uns allen

Wenn man den Grundsatz aufstellt und anwendet, dass man den „unproduktiven“ Mitmenschen töten darf, dann wehe uns allen, wenn wir alt und altersschwach werden! Wenn man die unproduktiven Menschen töten darf, dann wehe den Invaliden, die im Produktionsprozess ihre Kraft, ihre gesunden Knochen eingesetzt, geopfert und eingebüßt haben! Wenn man die unproduktiven Mitmenschen gewaltsam beseitigen darf, dann wehe unseren braven Soldaten, die als Schwerkriegsverletzte, als Krüppel, als Invaliden in die Heimat zurückkehren! Wenn einmal zugegeben wird, dass Menschen das Recht haben, „unproduktive“ Mitmenschen zu töten- und wenn es jetzt zunächst auch nur arme, wehrlose Geisteskranke trifft-, dann ist grundsätzlich der Mord an allen unproduktiven Menschen, also an den unheilbar Kranken, den Invaliden der Arbeit und des Krieges, dann ist der Mord an uns allen, wenn wir alt und altersschwach und damit unproduktiv werden, freigegeben.

Am 3. August 1941 hielt Clemens August Graf von Galen, Bischof von Münster in Westfalen, in der Lamberti- Kirche in Münster die letzte von drei Predigten, die weit über Deutschland hinaus Aufsehen erregten. Er prangerte darin offen und mutig die Euthanasieaktion der Nationalsozialisten an. Hinter dem beschönigenden Begriff „Euthanasie“, was wörtlich übersetzt ja „der schöne Tod“ bedeutet, verbarg sich nichts anderes als der geplante und gezielte Mord an körperlich und geistig behinderten Menschen.

Der unvergleichliche Mut von Bischof Galen wird besonders deutlich, wenn man sich den Zeitpunkt seiner Predigten vergegenwärtig: Das Dritte Reich befand sich damals auf einem scheinbar unaufhaltsamen Siegeszug in Europa. Am 22. Juni 1941 hatte der Überfall auf die Sowjetunion begonnen, der anfangs ein voller Erfolg zu werden versprach. Die deutsche Bevölkerung stand fast geschlossen hinter dem Regime. Und in dieser Situation folgte Bischof Galen allein seinem Gewissen und verurteilte das Unrecht der Machthaber von der Kanzel herab in Worten, die an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig ließen. Wer war dieser Mann?

Der Löwe von Münster

Clemens August Graf von Galen, geboren am 16. März 1878 im Münsteraland, stammte aus einer alteingesessenen Adelsfamilie. Er besuchte im Jesuitenkolleg Feldkirch und in Vechta bei Oldenburg das Gymnasium und studierte danach Theologie im schweizerischen Fribourg sowie in Innsbruck und Münster, wo er 1904 auch zum Priester geweiht wurde.

Im ominösen Jahr 1933 zum Bischof ernannt, galt er als konservativ und rechtskatholisch, wie es für den Spross einer Adelsfamilie auch nicht ungewöhnlich war. Galen stand dem Nationalsozialismus anfangs gar nicht ablehnend gegenüber, vor allem dessen Kampf gegen Liberalismus und Marxismus.

Das sollte sich allerdings schnell ändern. Bald wurde klar, dass das Regimes trotz des 1933 abgeschlossenen Konkordats einen deutlich kirchenfeindlichen Kurs einschlug. Klöster und kirchliche Schulen wurden schikaniert und aufgehoben, widerständige Geistliche verfolgt, das kirchliche Vereinsleben zurückgedrängt.

Bischof Galen wandte sich vor allem gegen den Rassenkult der Nazis, den er als neues Heidentum brandmarkte. Die Thesen des NS- Chefideologen Alfred Rosenberg, die in dem krausen Werk „ Der Mythos des 20. Jahrhunderts“ den deutlichsten Ausdruck fanden, stießen auf die unverhohlene Ablehnung des streitbaren Gottesmannes.

Unterstützung von oberster Stelle erfuhren Galen und andere Kirchenmänner durch die Enzyklika „Mit brennender Sorge“ von 1937, in der Papst Pius XI. vor der nationalsozialistischen Irrlehre warnte. Dennoch, sich auf dem Höhepunkt von Hitlers Macht derart mit dem Regime anzulegen, wagten nur ganz wenige. Graf von Galen wurde dementsprechend ständig von der Gestapo überwacht. Offen gegen den sehr populären Bischof vorzugeben, wagten die Nationalsozialisten aber nicht. Die Abrechnung mit der katholischen Kirche im Allgemeinen und Bischof Galen im Besonderen wurde auf die Zeit nach dem „Endsieg“ verschoben. In einem seiner Tischgespräche am 4. Juli 1942 kündigte Adolf Hitler an, dass dabei „kein Tüpfelchen“ vergessen werden würde.

Ein neuer Seliger

Das unerschrockene Auftreten des Bischofs von Münster trug wohl entscheidend dazu bei, dass die Euthanasie noch 1941 eingestellt wurde. Inoffiziell ging sie allerdings weiter, und es fielen ihr noch tausende Menschen zum Opfer. Aber Clemens August Graf von Galen hatte das Menschenmögliche getan. Auch seiner Macht waren Grenzen gesetzt.

Ende 1945 wurde Bischof Galen zum Kardinal berufen. Wenige Tage nach seiner Rückkehr aus der ewigen Stadt, am 22. März 1946, starb Galen in Münster. Der Prozess zu seiner Seligsprechung soll bald abgeschlossen sein. Dass er eine der größten Gestalten der Kirchengeschichte war, ist seit Langem unbestritten. Sein Beispiel und seine Worte dauern fort.

Nicht verbittert der Vergangenheit nachtrauern, nicht tatenlos warten, bis ein erträumtes Zukunftsbild sich verwirklicht, sondern um Gottes willen mit den Menschen, wie sie jetzt einmal sind, für die Menschen, zwischen die uns Gott gestellt hat, selbstlos arbeiten.
(März 2020)

Christian Eder, St. Valentin