Der Wirtschaftswissenschaftler Costas Lapavitsas, Professor an der Universität London und früherer Abgeordneter von Syriza in Griechenland, fordert Labour auf, den EU-Austritt Großbritannines zu unterstützen. Denn die EU würde jede sozialistische Politik verhindern.
Der Rücktritt von Theresa May, der Aufstieg von Nigel Farages Brexit-Partei und die Neuwahl der Tory-Führung haben ein grelles Licht auf die Entscheidungsmöglichkeiten geworfen, vor denen die Labour-Partei steht. Trotz gegenteiliger Behauptungen scheint sich das Gleichgewicht zwischen Leavers und Remainers seit dem Referendum nicht verändert zu haben. Sobald wieder politische Führung sichtbar wurde, verstärkte sich wieder die Massenunterstützung für den Brexit, einschließlich der Arbeiterhochburgen von Labour.
Farage sprach die allgemeine Frustration mit den parlamentarischen Trickserein über den Deal von May und den damit verbundene Bruch der Demokratie seit 2016 an. Es ist zutiefst bedauerlich, dass der Rechtspopulismus wieder in der Lage war, in die ureigensten Wahlbezirke der Linken vorzudringen. Sein Erfolg macht es für die Labourpartei entscheidend, eine neue Führung hervorzubringen, während die Wurzeln in der Arbeiterklasse gepflegt werden.
Blockade des demokratischen Willens des Volkes
Der Absturz von May und ihrem Deal ist nur teilweise der dem Brexit innewohnenden Komplexität des Brexit geschuldet. Die Schaltzentralen der ökonomischen und sozialen Macht in Großbritannien sind entschlossen, die engstmöglichen Beziehungen mit dem EU-Binnenmarkt und der Zollunion beizubehalten. Die Londoner City ist das Finanzzentrum der EU, die danach strebt, bei Devisengeschäften, bei Derivat-Clearinggeschäften, Wertpapierausgabe usw. frei zu operieren. Die Industrie, die in den Bereichen Flugzeugbau, Pharma, Rüstung und Hochtechnologie wettbewerbsfähig ist, betrachtet die EU als ihr Terrain. Finanz- und Industriekapital haben wutentbrannt beim Parlament dafür lobbyiert, einen Bruch mit dem EU-Binnenmarkt und der Zollunion zu vermeiden. Im Zuge dessen ist der demokratische Wille des britischen Volkes für zwei Jahre blockiert worden.
Jahrzehntelang war es die politische Strategie des britischen Establishments, die Position als Nettozahler zu akzeptieren – im Austausch für bedeutende Ausnahmeregelungen. Diese Strategie kam an ihr Ende, als David Cameron 2015-16 nicht mehr den „speziellen Status“ Großbritanniens abzusichern vermochte. Nach der Volksabstimmung versuchte May die Strategie umzudrehen, indem Großbritannien zwar aus der EU herausgeführt, aber in jenen Bereichen, die den Großkonzernen wichtig sind, drinnen bleiben sollte. Ihr Deal mit der EU war darauf ausgerichtet, formal dem Austritt zu entsprechen, während die britische Geschäftswelt enge Beziehungen mit der EU aufrechterhält. Sie scheiterte, weil – zusätzlich zu ihrer politischen Ungeschicktheit – sich das britische politische System in einer tiefen Krise befindet und nicht einmal die grundlegendsten Funktionen erfüllen kann.
Der wichtigste Aspekt dieser politischen Krise ist, dass die Konservativen de facto aufgehört haben, für die Interessen des britischen Big Business zu sprechen. Die berechtigten Bedenken in Bezug auf die Souveränität innerhalb der EU haben ein Eigenleben entwickelt, sie haben den nationalistischen Flügel der Torys fest im Griff. Vom Standpunkt des Establishments, wurden die Dinge noch unberechenbarer, nachdem Jeremy Corbyn die Labourparty deutlich nach links bewegt hatte. In diesem Zusammenhang hatte Mays Minderheitenregierung niemals eine Chance.
Farage hat den Zorn der Brexit-Befürworter beflügelt, kann aber keinen Weg anbieten, weil seiner Partei selbst das grundlegendste Programm fehlt. Was ihm gelang, ist, dass die Kandidaten, die um die Tory-Führung kämpfen, eine Sprache des „harten“ Brexit angenommen haben. Aber der neue Vorsitzende wird eine unlösbare Aufgabe ernten, weil die Konservative Partei gespalten und die Mehrheit im Unterhaus gegen einen „No Deal“-Brexit unverändert ist. Blumige Phrasen bringen da wenig. Wenn der 31. Oktober kommt, wird wahrscheinlich erneut eine scharfe politische Krise hervortreten, die den Ruf nach Neuwahlen laut werden lassen könnte.
Kampf um die Seele der Labour-Partei
Es ist daher nicht überraschend, dass der Kampf um die Seele der Labour-Partei erneut begonnen hat, besonders nach dem schlechten Abschneiden bei den Wahlen zu Europäischen Parlament. Das schlechteste Resultat für Labour wäre, wenn sie sich offen mit den Brexit-Gegnern (Remainern) ins Bett legt. Das würde sie von ihren historischen Wurzeln abschneiden, das sozialistische Projekt von Corbyn zugrunde richten und unmittelbar seine politische Führungsposition untergraben. Wahrscheinlich würde es auch die Wahlunterstützung für Labour genau in jenen Randbezirken zerstören, die Labour gewinnen muss. Das wurde von 26 Labour-Abgeordneten in einem Offenen Brief an Corbyn eindruckvoll herausgearbeitet. Es wäre der Sargnagel für Labour, die Widerrufung des Artikels 50 (EU-Austrittsverfahren) zu befürworten. Das wäre eine Beleidigung der Demokratie und eine riesige nationale Demütigung in einem.
Der radikale Wandel, der von Corbyn versprochen wird, ist unmöglich unter dem Regelwerk der EU zu erreichen. Die EU-Strukturen sind so gestaltet, dass sie den Interessen der Großbanken und Großkonzerne dienen. Brüssel würde keine sozialistische Politik in Großbritannien (oder sonstwo) tolerieren. Die EU würde ihre enorme Macht nützen, um diese Politik zu unterminieren und dabei gemeinsame Sache mit britischen Kräften, um so eine demokratische Erneuerung des Landes zu verhindern.
Die Möglichkeiten eines EU-Austritts nutzen!
In der EU zu bleiben und diese zu reformieren, ist ein fruchtloses Unterfangen. Die EU-Institutionen sind so konstruiert, dass sie abgeschottet sind gegenüber dem demokratischen Willen der Bevölkerung. Jede Vertragsreform erfordert Einstimmigkeit aller Mitgliedsstaaten, und jede Reform durch Sekundärrecht erfordert die Zustimmung der EU-Kommission, die Mehrheit der Regierungen und die Mehrheit der EU-Parlamentarier, bevor noch die Hürde des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) übersprungen werden muss. Da gibt es keine Chance.
Großbritannien und seine Bevölkerung brauchen einen Neustart. Die grundlegenden Veränderungen, die Corbyn – insbesondere den Jungen versprochen hat – sind nur möglich, wenn sich Labour nicht an das Remain-Lager kettet. Die Partei muss dabei bleiben, das Ergebnis der Volksabstimmung zu respektieren, aber sie sollte auch mutiger die fundamentalen Möglichkeiten öffentlich darstellen, die durch einen EU-Austritt entstehen. Bis jetzt war Labour nicht bereit, das zu tun. Dadurch verbreitete die Partei Konfusion und ließ es zu, dass die Basis in Richtung Remain abdriftete. Es ist nicht zu spät, diese Schieflage zu korrigieren, wenn Labour Macht will.
Erschienen in: Guardian, 25.6.2019