Am 14. September 2019 veranstalteten das Personenkomitee Selbstbestimmtes Österreich und das Wiener Armutsnetzwerk im Wiener WUK ein Symposium zur Budgetpolitik ("50% - na und!"). Dabei beschäftigte sich Boris Lechthaler (Solidarwerkstatt Österreich) mit der Frage "Emanzipation und Austerität". Hier sein Thesenpapier zu diesem Thema.

  1. Die Älteren unter uns werden sich noch an den Beginn der neoliberalen Wende erinnern. Monetarismus, Hochzinspolitik, angebotsorientierte Wirtschaftspolitik, Reaganomics waren die Vokabel mit denen 1979/80 diese Wende assoziiert wurden. Es blieb nicht bloß bei der Ankündigung einer tiefgreifenden Änderung der Machtverhältnisse: mit der Verknappung der Geldmenge, der Beschränkung öffentlicher Budgets für Bildung, Soziales, u.a. , der generellen Beschränkung der Investitionen wurden tatsächlich die Arbeiterbewegung, andere emanzipative Bewegungen, der antiimperialistische Befreiungskampf, das sog. Realsozialistische Lager in eine Defensive gedrängt, die die Welt nachhaltig verändert hat. Ja, in gewissem Sinne wurden sie wegradiert.

  2. Aus dieser Perspektive ist die neoliberale Wende tatsächlich eine sozialreaktionäre Wende, eine Konterrevolution. Die gesellschaftlichen Machtverhältnisse wurden tatsächlich nachhaltig zugunsten der Besitzenden verschoben. Dieser reaktionäre Charakter erscheint mitunter deshalb noch unterstrichen, weil mit der antiautoritären Bewegung der 1960’er und 1970’er Jahre tatsächlich neue Formen emanzipierter Gesellschaftlichkeit für einen Moment der Geschichte virulent zu werden schienen.

  3. Die neoliberale Wende kann dennoch nicht mit Austerität gleichgesetzt werden. Sind emanzipative Kräfte einmal in der Defensive, ist die Herrschaft der Besitzenden gesichert, wird für Rüstung, Geschenke an die Reichen, u.a. durchaus auch darauf verzichtet, bzw. expansive Fiskal und Geldpolitik eingesetzt, solange sie die Herrschaftsverhältnisse nicht gefährdet.

  4. Das gilt nur eingeschränkt für die EU. Das imperiale EU-Projekt bleibt prekär, solange die Nationalstaaten bestehen und damit ein Terrain bleiben, dass von emanzipativen Kräften erobert werden könnte. „Ich brauche Durchgriffsrechte“ formulierte A. Merkel 2011. Dafür wird von supranationalen Bürokratien intensiv gearbeitet. (siehe A. F. Reiterers Beitrag zu diesem Symposium, oder die umfangreiche Dokumentation dieser Politik auf www.solidarwerkstatt.at oder Hinsch, Langthaler: Die EU zerbricht am Euro) Solange jedoch das Imperium nicht die volle Souveränität, das Monopol physischer Gewalt hat, bleibt die Austerität das einzig wirklich wirksame Disziplinierungsmittel. Das gilt in gesteigerter, ja extremistischer Weise für die Eurozone. (Die Staaten außerhalb der Eurozone verzeichneten zwischen 2011 und 2018 ein Wachstum von 2,3% p.a.; die Eurozone kam bloß auf 1%, John Weeks, The Dept Delusion, social europe, 9.9.2019)

  5. Manche zogen aus der Tatsache des sozialreaktionären Charakters der neoliberalen Wende den Schluss, sie sei gegen die Vernunft des historischen Geschichtsverlaufs gerichtet. Sie sei quasi das Aufbäumen einer gesellschaftlichen Formation, die sich eigentlich schon überlebt habe. Es gibt gute Gründe, die Begründung für diesen Glauben nicht in sozialökonomischen Theorien zu suchen, sondern in unserer sozialpsychologischen Prägung. Das ist ein weites und tiefes Feld der Untersuchung. Auf der Ebene ökonomischer Theorie erkennen wir, dass uns jener Autor, der hier am häufigsten ins Treffen geführt wird, Karl Marx, nicht weiterhilft. Seine Kapitalanalyse mag in Zeiten nachfragebasierten industriellen Kapitalismus noch hilfreiche Instrumente geliefert haben. Fassen wir jedoch Neoliberalismus als ein Regime der Eigenkapitalrendite müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass sie marxistisch nicht erklärt werden kann. So etwas wie der „tendenzielle Fall der Profitrate“ kann heute bei Besitzenden bloß Gelächter hervorrufen.

  6. Kapital ist immer auf die Zukunft gerichtet, somit spekulativ. Die neoliberale Wende kann auch als das erfolgreiche Projekt der Eliten gefasst werden, Zukünftiges, Neues in ihrem Sinn in Gang zu setzen. Die neoliberale Wende ist so gewissermaßen, die erfolgreiche Durchsetzung der Fähigkeit, das Kapitalverhältnis auf das Immaterielle in den sozialen Beziehungen anzuwenden. Wer da noch immer die Renaissance des armen „Realkapitals“ beschwört, das vom bösen Finanzkapital marginalisiert wurde, führt uns in die Irre.

  7. Wer Emanzipation durchsetzen will, kann jedoch nicht darauf orientieren, die Dynamik zur Erringung neuer produktiver Potentiale trocken zu legen. Es geht gerade im österreichischen Fall um den Bruch mit der politischen Macht der Exportindustrie und nicht um die Vernichtung ihres Potentials. Dessen politische Macht müssen wir brechen, um dieses Potential für ein neues Niveau emanzipierter Gesellschaftlichkeit zu nutzen. Der Globalismus im Allgemeinen, das supranationale EU-Projekt im Besonderen, sind Fundamente dieser Macht. Wer deshalb postuliert, es gehe nicht um die EU, es gehe um den Kapitalismus, gerät in Verdacht mitunter Wasserträger der Eliten zu sein.

  8. Kampf gegen Austerität und Kampf gegen die Unterordnung unter das EU-Konkurrenzregime sind engstens verknüpft. Kapital als Instrument der Generierung neuer produktiver Potentiale kann emanzipativ gewendet werden. Solidarstaat statt EU-Konkurrenzregime lautet deshalb unser Vorschlag. Wir müssen konkret formulieren können, was uns vorenthalten wird. In der Bildung, in der Gesundheitsversorgung, in der öffentlichen Infrastruktur.

  9. Wir müssen aber auch konkret formulieren können, wie wir das, was uns vorenthalten wird, organisieren können. Der Glaube, es gelte nur die geheimen Konten der Reichen anzuzapfen, ist ebenso unsinnig wie der Glaube, bei Zugang zu den Weinkellern des Zaren ließe sich der Hunger besiegen. Unverzichtbar ist dafür eine Ausweitung der öffentlichen Budgets. Eine Quote von über 50% der öffentlichen Leistungen am BIP ist deshalb die Losung für eine politische Revolution und nicht die neuerdings wieder grassierenden pubertären Enteignungsphantasien.