Im Juli 2022 lud die Österreichische Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie (ÖGKJP) zu einer Pressekonferenz ein, um – einmal mehr – auf die dramatischen Versorgungsmängel in der Kinder- und Jugendpsychiatrie in Österreich hinzuweisen.


Psychische Störungen im Kindes- und Jugendalter werden als sogenannte „neue Morbidität“ angesehen, die mit einer hohen Krankheitslast einhergehen, zu Chronifizierung neigen, transgenerationale Effekte zeigen und nicht selten mit einer lebenslangen Beeinträchtigung der Teilhabe einhergehen können. Diese, bereits vor der Pandemie bekannten, Aspekte wurden durch das Brennglas der Pandemie noch deutlich verstärkt, wie zahlreiche nationale und internationale Studien belegen. In Österreich wiesen im Februar 2021 55 % Jugendlichen depressive Symptome auf, 47 % Angstsymptome, 22,8 % Schlaflosigkeit und 59,5 % gestörtes Essverhalten (Pieh, Plener, Probst, Dale, & Humer, 2021). Darüber hinaus zeigen Daten aus der Kinder- und Jugendpsychiatrie Hall i. T. / Innsbruck, dass die Akutaufnahmen im zweiten Pandemiejahr 2021 um 40.1 % im Vergleich Jahr 2019 gestiegen sind (Sevecke et al., 2022). Durch den Ukraine-Krieg, drohende Armut und Zukunftsängste durch den Klimawandel kommen weitere Belastungen für die psychosoziale Gesundheit der Kinder und Jugendlichen hinzu.

Akuter Bettenmangel

Diese Situation verschärft die bereits vor der Pandemie angespannte Lage der Kinder- und Jugendpsychiatrie sowohl im klinischen als auch im niedergelassenen Bereich in Österreich deutlich. Bereits vor der Pandemie standen in Österreich lediglich 50% der benötigen Krankenhausbetten in der Kinder- und Jugendpsychiatrie zur Verfügung. Auf Basis einer aktuellen Abfrage der ÖGKJP im Juni 2022 gibt es in Österreich 401 vollstationäre und 138 Tagklinik Plätze für 1,73 Millionen Kinder und Jugendliche unter 19 Jahren.

„Drehtüreffekt“

Prof.in Dr.in Kathrin Sevecke, Leitung der Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Universitätsklinik Innsbruck/Hall und Präsidentin der ÖGJKP, schildert die Folgen: „Der Bettenmangel in der Kinder- und Jugendpsychiatrie hat auch Auswirkung auf die Verweildauern, die sich inzwischen deutlich reduziert haben. Dazu kommt, dass Erkrankungen wie Essstörungen, Ängste und Depressionen lange Behandlungsverläufe bedingen und zu Chronifizierung tendieren.“ Sevecke spricht vom „Drehtüreffekt“: „Nur wenigen Patient*innen können längere Therapieaufenthalte ermöglicht werden. Dadurch kommt es zu einer relativ hohen Wiederaufnahmerate.“

Prim.a Dr.in Judith Noske, Leitung der Kinder- u. Jugendpsychiatrie am Standort Hinterbrühl des Landesklinikum Baden-Mödling, ergänzt: „Dem hohen Aufnahmedruck von außen muss mit einem hohen Entlassungsdruck von innen begegnet werden. Krisenaufnahmen dauern im Durchschnitt nur mehr ein bis drei Tage, gleichzeitig nimmt die Bedrohlichkeit von Krisen mit akuter Selbst – und Fremdgefährdung zu, was zusammen mit der Notwendigkeit einer verantwortungsvollen Triage für alle Seiten sehr belastend ist.“

Lange Wartezeiten

Aktuell betragen die Wartezeiten auf psychiatrische und psychotherapeutische Behandlung mehrere Monate. „Das ist besonders tragisch, weil wir wissen, dass durch ein rechtzeitiges, auf die innere Not des jungen Patienten und die Ressourcen der Familie abgestimmtes Intervenieren in sehr vielen Fällen eine Chronifizierung mit all den persönlichen, sozialen und wirtschaftlichen Folgen verhindert werden könnte“, so Noske.

Überlastung auch im niedergelassenen Bereich

Aufgrund der Mängel im stationären Bereich, kommt es bundesweit auch im niedergelassenen Bereich zu einer Überlastung der Praxen. Im niedergelassenen Bereich gibt es 37,5 Kassenstellen (von denen aktuell nicht alle besetzt sind). Laut WHO Schlüssel wären 112 Stellen notwendig. „Es stauen sich nun auch noch mehr schwer kranke junge Patient*innen in die ambulante Versorgung außerhalb der Spitäler zurück“, berichtet Dr. Helmut Krönke, Kinder- und Jugendpsychiater in eigener Praxis in Wien und Bundesfachgruppen-Obmann in der Österreichischen Ärztekammer. Damit die Niederlassung aktuell und in Zukunft noch besser dazu beitragen kann, rasch und bereits früh im Erkrankungsverlauf Symptome zu behandeln, werden vor allem mehr personelle Ressourcen benötigt.

16% der Kinder haben suizidale Gedanken

Oftmals wird eine Psychotherapie empfohlen. Für Eltern, die über keine entsprechenden finanziellen Mittel verfügen, gibt es zwar die Möglichkeit, einen Kassenplatz über ein Beratungszentrum zu organisieren. Doch diese Angebote sind knapp. Die Wartezeit für solche Therapieplätze beträgt sechs bis 18 Monate. Gerade bei schweren psychischen Problemen braucht es aber rasche Hilfe. Eine Studie der Donau-Universität Krems, die im Februar 2021 3.000 SchülerInnen befragte, kam zum erschütternden Ergebnis, dass 16% der über 14-jährigen SchülerInnen suizidale Gedanken haben.

„Dieses Netz ist sehr löchrig“

Kinder und Jugendliche mit psychischen Problemen zu behandeln, braucht es ein multiprofessionales Team (Ärzt*innen, Pflege, Psychologie, Pädagogik, Sozialarbeit,…). Viele der Mitarbeiter*innen, die bislang hoch motiviert waren, sind v.a. nach den letzten beiden Pandemiejahren erschöpft und am Rande ihrer Kapazitäten. „Es braucht ein menschliches Netz, das für die Kinder gespannt werden muss, in das sie fallen können, wenn nötig. Dieses Netz ist sehr löchrig“, so Dr. Daniel Piringer, Sprecher der Ärzt*innen für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Ausbildung.

Die Expert*innen fordern daher dringlich, dass Maßnahmen zur Verbesserung der Kinder- und Jugendpsychiatrischen und -psychotherapeutischen Behandlungsmöglichkeiten ergriffen werden. „Es bedarf ein, für alle sozialen Milieus erreichbares, abgestuftes Angebot, von ambulant über teilstationär, über Hometreatment bis hin zu stationären spezifischen Behandlungskonzepten, um nicht nur Notfallmanagement zu betreiben, sondern eine angemessene Versorgung von der zunehmenden Zahl an manifest psychisch erkrankten Kindern und Jugendlichen sicherstellen zu können“, präzisiert Sevecke.

Verdoppelung des Personals, flächendeckende Psychotherapie, Mental-Health-Koordinator*in

Durch eine Mangelversorgung entstehen nicht nur großes Leid und vielfach chronifizierte Erkrankungsverläufe, sondern auch massive und vermeidbare Kosten, die ein Sparen heute nur noch absurder erscheinen lassen, sind die Expert*innen überzeugt.

Vor diesem Hintergrund fordert die ÖGKJP:

  • doppelt so viel Personal in allen Berufsgruppen in der Kinderpsychiatrie
  • flächendeckende Psychotherapie für Kinder und Jugendliche auf Krankenschein
  • die Einrichtung eines/einer Koordinator*in auf höchster Ebene (Staatssekretariat, Ministerium), die/der ministeriumsübergreifend das Thema Mental Health im Kindes- und Jugendalter koordiniert.

>> Hinweis: "Weg mit dem Deckel!"

Solche Berichte zeigen, wie wichtig es wäre, endlich die bereits seit 2012 existierende „Deckelung“ der Gesundheitsausgaben zu beenden. Bitte unterstützt daher die Solidarwerkstatt-Petition „Weg mit dem Deckel!“