In Griechenland protestierten mehr als eine Million Menschen anlässlich des zweiten Jahrestages des Zugunglücks von Tempi, bei dem 57 Menschen starben, gegen die Lügen- und Vertuschungspolitik der rechten Regierung von Kyriakos Mitsotakis. Politisch hat das Unglück die Austeritäts- und Privatisierungspolitik der EU zu verantworten, in Folge derer das Personal bei den Eisenbahnen um 84% reduziert und die Sicherheit sträflich vernachlässigt wurde.
Die Katastrophe von Tempi (Region Larissa, Griechenland) liegt nun zwei Jahre zurück. 57 meist junge Menschen starben dort am 28. Februar 2023 bei einem schrecklichen Eisenbahnunglück, 25 wurden schwer verletzt. Ein aus dem Norden kommender Güterzug und ein Intercity auf dem Weg von Athen nach Thessaloniki waren kurz vor Mitternacht auf einem eingleisig befahrenen Streckenabschnitt frontal zusammengestoßen. In den Tagen nach dem Debakel, als die Bilder von den entgleisten, ineinander verkeilten Waggons um die Welt gingen, hatte Mitsotakis nicht viel zu sagen: "menschliches Versagen vermutlich". Dem in dieser Nacht in Larissa verantwortlichen Weichensteller wurde die »Schuld« für das schlimmste Zugunglück Griechenlands quasi nebenbei auf die Schultern geladen – einem 59 Jahre alten ehemaligen Pförtner, der im Jahr zuvor im Schnellkurs zum Fahrdienstleiter ausgebildet worden war. Der zuständige Verkehrsminister Kostas Karamanlis schlich sich aus dem Amt.
Keine Aufklärung
24 Monate später sind die Ursachen noch immer nicht aufgeklärt. Die Wut über die Vertuschungsstrategie der rechten Regierung von Kyriakos Mitsotakis entlud sich angesichts der zweiten Jahrestages in einer riesigen Protestwelle am 28. Februar 2025. Hunderttausende Menschen, deren Zahl gegen Mittag zu mehr als einer Million anwuchs, mit Schwerpunkt in Athen und Thessaloniki. Die Straßen, kilometerlang dichtgedrängt von Menschen aller Altersgruppen und sozialen Schichten, wurden zum Gerichtsaal. Ein Generalstreik, zu dem unter anderem Gewerkschaften, Hilfsorganisationen und Kulturträger aufgerufen hatten, legte in Griechenland das Geschäftsleben still, geschlossen blieben Banken, Büros, Schulen und Universitäten.
Rund 80 Prozent der Bevölkerung sind sich inzwischen auch sicher, dass der Premier, seine verantwortlichen Minister und die Chefs der Gesellschaft Hellenic Train lügen, dass sich die Balken biegen. Gewerkschaften und Oppositionsparteien sind sich sicher, dass der 2016 bis 2017 von der damaligen sog. „Troika“ - EU-Kommission, EZB und IWF – geforderte Verkauf des bis dahin staatlichen Bahnbetriebs OSE (Organismós Sidirodrómon Elládos) bei der Ursachenermittlung der Katastrophe von Tempi an erster Stelle zu nennen wäre. Bei einem Schätzwert von rund 200 Millionen Euro wurde der ganze Laden im Januar 2017 für ganze 45 Millionen Euro verscherbelt. Die Folgen trugen, wie bei Privatisierungen üblich, vor allem die Lohnabhängigen. Die neuen Besitzer, die Ferrovie dello Stato Italiane (FS), die als einzige ein Gebot abgegeben hatten, senkten den Personalstand drastisch ab.
EU-Politik: 86% der Personal abgebaut
Von rund 12.500 Beschäftigten der OSE seien im Jahr 2021 nur rund 2.000 übriggeblieben, ermittelten Journalisten des Internetportals Europe Investigate. Nach einem im März 2023 veröffentlichten Bericht des Mediums, der Aussagen des früheren OSE-Sicherheitschefs Christos Retsinas zitiert, hätten mit diesem knappen Personal höchstens 300 der rund 2.500 griechischen Streckenkilometer »sicher betrieben« werden können. Wie Retsinas demnach ausführte, habe das FS-Management zahlreiche, bis dato für die Sicherheit zuständige Eisenbahner abgezogen, um sie im wirtschaftlich wichtigen Passagierbereich einzusetzen.
Eine neue Theorie zur Unfallursache machte unterdessen auch in internationalen Expertenkreisen von sich reden. Eine, die der Regierungschef bis vor wenigen Wochen noch entschieden zurückgewiesen hatte: Der Güterzug hat demnach nicht, wie in allen bisherigen offiziellen Berichten behauptet, nur »Stahlblech und Container« transportiert, sondern auch hochexplosives Material. Gregor Kritidis, einer der Sprecher griechischer Kulturvereine in Deutschland, erklärte: "Es geht hier nicht nur um die Folgen der Austeritäts- und Privatisierungspolitik für die Sicherheit im Schienenverkehr, sondern auch um die Vertuschung der Ursachen der Katastrophe. Die meisten der Opfer kamen nicht bei dem Zusammenstoß der Züge, sondern infolge der Explosion einer illegalen Fracht der Lösungsmittel Xylol und Toluol ums Leben. Mit Lösungsmitteln wird in Griechenland traditionell Benzin gepanscht, die Vermutungen gehen aber dahin, dass es sich bei diesen Transporten um Lieferungen an kriegführende Staaten handelt." (1)
Untersuchungsausschuss
Die Massenprotest haben Wirkung gezeigt. Bei der Sitzung der 300 köpfigen Parlaments stimmten 277 Abgeordnete für die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses gegen den Abgeordneten Christos Triantopoulos von der konservativen Regierungspartei Nea Dimokratia. Die Opposition wirft ihm unter anderem vor, schon wenige Tage nach dem Zugunglück eine Räumung der Unglücksstelle angeordnet zu haben, wobei wichtige Beweise für die Untersuchung der Unglücksursache vernichtet wurden. Der eigentliche Verursacher – die EU-Troika – sitzt freilich (noch) nicht auf der Anklagebank.
Quelle: www.jungewelt.de
Anmerkungen:
(1) Aus: Junge Welt, Der große Zorn, 27.2.2025