Dieser Artikel stammt vom August 2023. Er zeigt die ungebremste Entwicklung der deutschen Hochrüstung auf und weist auf die fatalen sozialpolitischen Auswirkungen hin.

 
Mythos „kaputtgesparte Bundeswehr“

Der wohlgepflegte Mythos von der angeblich kaputtgesparten Bundeswehr liefert den Nährboden, auf dem Forderungen nach drastischen Erhöhungen der Militärausgaben schon seit Jahren prächtig gedeihen. Dem kann nicht oft und deutlich genug widersprochen werden: So stieg der Militärhaushalt von (umgerechnet) rund 24 Mrd. Euro im Jahr 2000 bereits deutlich auf etwa 32,5 Mrd. Euro im Jahr 2014 an. Er lag damit auch drastisch über dem eigentlich verbindlich vereinbarten Sparziel vom Juni 2010. Damals war festgelegt worden, alle Ressorts müssten bis 2014 insgesamt 81,6 Mrd. Euro einsparen und die Bundeswehr solle dazu 8,3 Mrd. Euro beitragen. Gemäß dem daran angelehnten Bundeswehrplan sollte der Rüstungshaushalt bis 2014 auf 27,6 Mrd. Euro reduziert werden – ein Beschluss, der augenscheinlich rasch wieder einkassiert worden war. Doch von da ab ging es mit den Militärausgaben erst richtig steil bergauf: Sie kletterten von 34,3 Mrd. Euro (2016) über 38,5 Mrd. Euro (2018) und 45,7 Mrd. Euro (2020) bis auf 50,4 Mrd. Euro (2022) noch vor der Ausrufung der sogenannten Zeitenwende selbst inflationsbereinigt deutlich nach oben.

Ohne die Mär von der angeblich chronisch unterfinanzierten Bundeswehr wäre es – neben dem Schock durch den russischen Angriff auf die Ukraine – Kanzler Olaf Scholz wohl kaum möglich gewesen, in seiner „Zeitenwende-Rede“ am 27. Februar 2022 das Sondervermögen der Bundeswehr von 100 Mrd. Euro in Tateinheit mit Militärausgaben von mindestens 2% des BIP auszurufen.

Nebelkerzen und die Haushaltsplanung 2024

In diesem Jahr beläuft sich das offizielle Militärbudget zwar „nur“ auf 50,1 Mrd. Euro, es kommen aber nun erstmals relevante Gelder im Umfang von 8,4 Mrd. Euro aus dem Sondervermögen hinzu. Außerdem müssen noch weitere nicht im Verteidigungshaushalt verortete militärrelevante Beträge nach NATO-Kriterien addiert werden. Die Details, was alles dazugehört, sind unter Verschluss, bekannt ist aber, dass unter anderem die Ausgaben für UN-Einsätze sowie der deutsche Anteil von 25% an den diversen EU-Rüstungstöpfen (Europäische Friedensfazilität, Europäischer Verteidigungsfonds…) hier eingerechnet werden. Auch die Gelder zur „Ertüchtigung“, also zur Ausbildung und insbesondere Aufrüstung „befreundeter“ Akteure (insbesondere der Ukraine), werden dem Allgemeinen Haushalt entnommen und bei der NATO abgerechnet. Die Bundesregierung schätzt diese zusätzlichen Ausgaben im Jahr 2023 auf 9,5 Mrd. Euro, woraus sich ein Gesamtbetrag von 68,1 Mrd. Euro ergibt – viel, allerdings mit rund 1,6% noch weit unter den anvisierten 2% des BIP.

Stolz geht die Bundesregierung aber inzwischen mit der Ankündigung hausieren, im kommenden Jahr würde dieses Ausgabenziel nun erstmalig erreicht. Hierfür soll die Bundeswehr laut Regierungsentwurf entgegen den bisherigen Planungen 2024 nunmehr 1,7 Mrd. Euro zusätzlich erhalten, wodurch der offizielle Haushalt auf 51.8 Mrd. Euro ansteigt. Hinzu sollen 2024 mindestens noch 19,2 Mrd. Euro aus dem Sondervermögen der Bundeswehr kommen. Diese 71 Mrd. Euro liegen allerdings noch weit unter den vom IWF prognostizierten 84 Mrd. Euro, die im kommenden Jahr 2% des BIP abbilden sollen. Somit müssten sich die Ausgaben nach NATO-Kriterien deutlich erhöhen und tatsächlich kündigte Verteidigungsstaatssekretär Thomas Hitschler Ende Juli für 2024 Zusatzausgaben in diesem Bereich von 14,5 Mrd. Euro an, sodass die Zielmarke sogar übertroffen werden dürfte.

Rückkehr der „Schuldenbremse“ ab 2024

Da Finanzminister Christian Lindner im kommenden Jahr die sogenannte Schuldenbremse wieder einhalten will, ist im Haushaltsentwurf fast jedes Ressort von teils massiven Kürzungen betroffen – besonders weitreichend sind die rund 600 Mio. Euro, die bei der Entwicklungshilfe eingespart werden sollen. Ausgenommen von der Kürzungsorgie sind neben dem Verteidigungsetat nur „Digitales und Verkehr“ sowie „Arbeit und Soziales“, doch diesem Budget soll es in den kommenden Jahren ebenfalls massiv an den Kragen gehen (siehe unten). Angesichts der hier im Raum stehenden Beträge sollte außerdem dringend auf zwei sprachliche Nebelkerzen hingewiesen werden: Erstens handelt es sich selbstverständlich nicht um ein „Sondervermögen“, sondern um Schulden, die spätestens ab 2031 zurückgezahlt werden müssen. Und zweitens verschleiert das Gerede von den 2% des BIP die tatsächlichen Dimensionen, um die es hier geht: Denn bei einem geplanten Budgets von insgsesamt 445,7 Mrd. Euro im Jahr 2024 sind das knapp 20 Prozent des gesamten Haushaltes. Anders ausgedrückt: 2024 sollen die Ministerien Bildung (20,3), Gesundheit (16,8), Entwicklung (11,5), Wirtschaft & Klima (10,9), Wohnen (6,9), Auswärtiges (6,1) und Umwelt (2,4) zusammen immer noch rund 10 Mrd. Euro weniger als das Militär erhalten!

Schwarzes Rüstungsloch

Nicht nur die Verteidigungsausgaben steigen seit Jahren an, noch steiler ging es sogar mit den Rüstungsinvestitionen (Rü-Invest) nach oben, also dem Teil des BMVg-Haushaltes, der allein für die Neuanschaffung von Rüstungsgütern vorgesehen ist. Er kletterte von 4,8 Mrd. Euro (2018) bereits vor dem russischen Angriff auf die Ukraine sprunghaft auf 8 Mrd. Euro (2020) und dann 8,9 Mrd. Euro (2022) deutlich nach oben. Weil aber die Gelder des Sondervermögens primär diesem Bereich zugutekommen sollen, legte Rü-Invest nun noch einmal deutlich auf 16,2 Mrd. Euro (2023) zu, nur um im kommenden Jahr mit einem derzeit geplanten Betrag von 21,9 Mrd. Euro seinen vorläufigen Höhepunkt zu erreichen!

2%-Ziel der NATO

Wer sich natürlich vor allem die Hände reibt, sind die deutschen Rüstungsunternehmen, die, auch wenn der ein oder andere Auftrag in die USA vergeben wird, alles andere als zu kurz kommen. Dies ist allein schon daran ersichtlich, dass die Aktienkurse der größten börsennotierten deutschen Waffenbauer förmlich durch die Decke schossen. Durch das Sondervermögen der Bundeswehr ist erst einmal für die nächsten Jahre gesichert, dass die Gelder weiter sprudeln – die „spannende“ Frage ist allerdings was passiert, wenn dieser Schuldentopf aufgebraucht ist?

Das in diesem Zusammenhang ausschlaggebende „Gesetz zur Finanzierung der Bundeswehr und zur Errichtung eines ‚Sondervermögens Bundeswehr‘“ legt bis 2026 eindeutige Ausgabenziele fest: „Mit Hilfe des Sondervermögens werden im mehrjährigen Durchschnitt von maximal fünf Jahren zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts auf Basis der aktuellen Regierungsprognose für Verteidigungsausgaben nach NATO-Kriterien bereitgestellt.“

Da das Sondervermögen der Bundeswehr spätestens 2026 verplant sein muss, ergibt sich eine riesige Lücke zu den Militärausgaben von 2% des BIP, die laut Bundesregierung auch danach ausgegeben werden sollen – nach den aktuellsten IWF-Schätzungen wären das 2027 rund 95 Mrd. Euro. Sehenden Auges wird hier also auf eine Situation zumarschiert, in der entweder vollmundig gemachte Zusagen wieder einkassiert werden, oder von einem Jahr auf das andere eine Erhöhung der offiziellen Militärausgaben um bis zu 35 Mrd. Euro erfolgen müsste. 

Interessierten Kreisen ist das schon lange klar und sie begannen frühzeitig damit, den Stimmungsteppich für die anstehenden Debatten auszubreiten. Schon im August letzten Jahres forderte etwa das Institut der deutschen Wirtschaft eine „Verstetigung“ der Zeitenwende nach 2026 mittels dauerhafter Militärausgaben von mindestens 2% des BIP durch ein „gut 60 Prozent vergrößertes reguläres Verteidigungsbudget.“

„Rüstung oder Soziales“

Aufgrund der sogenannten Schuldenbremse müsste eine Verstetigung der Zeitenwende auf Kosten nahezu aller anderen Ministerien gehen – vor allem eine Kürzung der Sozialausgaben wäre eigentlich unausweichlich. Mit beeindruckender Deutlichkeit offenbart ein Beitrag in der Europäischen Sicherheit & Technik, Deutschlands führendem militär- und rüstungsnahen Magazin, die Konsequenzen, die sich hieraus ergeben: Es bedürfe einer „grundlegenden gesellschaftlichen Debatte über die nationalen Prioritäten“, gibt dort Redakteur Ole Henckel zum Besten. Am Ende stehe man aber vor einer simplen Wahl: „entweder die Kürzung sozialer Leistungen oder das Scheitern der Zeitenwende für die Bundeswehr.“ Weiter heißt es in dem Artikel: „30 Milliarden Euro mehr bräuchte es derzeit im Verteidigungshaushalt, damit dieser eigenständig das Zwei-Prozent-Ziel erfüllt. Der einzige Posten im Bundeshaushalt, der die Masse dieses zusätzlichen Bedarfes decken könnte, ist der des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales. Die Debatte wird sich also um die Streichung von Sozial-Ausgaben für Militär und Rüstung drehen. […] Der entscheidende Punkt und die damit verbundene Debatte wird allerdings erreicht werden, wenn das Sondervermögen verausgabt ist und man im Bundeshaushalt Prioritäten setzten [sic!] muss. Voraussichtlich wird dieser Zeitpunkt auch mit der kommenden Bundestagswahl zusammenfallen. Rüstung oder Soziales. Dann wird sich zeigen, wie nachhaltig die viel zitierte Zeitenwende ist.“ (4.7.2023)

Die Debatte ist also eröffnet – es wäre schön, wenn sie von lauten Zwischenrufen der Friedens- und Antikriegsbewegung, der Wohlfahrtsverbände, der Gewerkschaften und allen anderen begleitet werden würde, die sich mit diesem Kurs nicht einverstanden erklären wollen.

Der Artikel in voller Länge findet sich auf https://www.imi-online.de/2023/08/28/zeitenwende-heisst-sozialabbau