Der Westen Wirtschaftskriege in mittlerweile 40 Ländern, auf deren Gebiet ein Drittel der Menschheit wohnt. Sie führen oft zu mehr Opfern als militärische Konflikte – durch Hunger und Zerstörung des Gesundheitssektors. Die Kritik an dieser Politik des Westens wird immer lauter. Teil 2: Von Joachim Guilliard
Auseinandersetzung in UNO und Menschenrechtsrat
Die von den USA und der EU betriebenen Wirtschaftsblockaden werden international seit langem scharf kritisiert, insbesondere wegen ihrer teils verheerenden humanitären Auswirkungen. Die Auseinandersetzung darüber wird vor allem auch seit Jahrzehnten im Rahmen der UNO und UN-Organisationen geführt. Davon drang aber kaum etwas in die westliche Öffentlichkeit. Erst im Jahr 2023 erhielt eine Resolution des Menschenrechtsrats etwas breitere Aufmerksamkeit, die eigenmächtige Zwangsmaßnahmen als Verstoß gegen Völkerrecht, Menschenrechte und das Recht auf Entwicklung verurteilt (1).
Sie ist jedoch keineswegs ein Novum. Seit der Gründung des Rates 2007 wird von der Bewegung der Blockfreien Staaten jedes Jahr eine solche Resolution gegen „die negativen Auswirkungen einseitiger Zwangsmaßnahmen auf die Wahrung der Menschenrechte“ eingebracht und mit wachsender Mehrheit verabschiedet. In diesen Resolutionen wird stets betont, dass nach den internationalen Pakten über „bürgerliche und politische Rechte“ und „wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte“ ein Volk auf keinen Fall seiner eigenen Existenzmittel beraubt werden darf. Sie wenden sich gegen die „schädlichen Auswirkungen einseitiger Zwangsmaßnahmen auf das Recht auf Leben, das Recht eines jeden auf das für ihn erreichbare Höchstmaß an körperlicher und geistiger Gesundheit und medizinischer Versorgung“ wie auch auf das „Recht auf Freiheit von Hunger, auf einen angemessenen Lebensstandard und das Recht auf Entwicklung.“ Schließlich verurteilen sie auch scharf, dass sie sogar die humanitäre Hilfe in Ländern, die von Natur- und anderen Katastrophen betroffen sind, behindern, indem sie u.a. Finanztransfers an die dort tätigen humanitären Organisationen blockieren.
2023 stimmten 33 Mitgliedsstaaten für deren Ächtung, darunter auch Argentinien, Indien, Marokko, Pakistan und Südafrika. Die 13 Gegenstimmen kamen von den USA, den im Rat vertretenen EU-Staaten, Georgien und der Ukraine. Die Mehrheitsverhältnisse in der UN-Generalversammlung sind ähnlich. Hier werden schon länger regelmäßig zwei Resolutionen gegen eigenmächtige Zwangsmaßnahmen verabschiedet, die inhaltlich der des Menschenrechtsrats sehr ähneln. Die erste wurde bereits im Dezember 1983 verabschiedet, gegen „wirtschaftliche Maßnahmen als Mittel des politischen und wirtschaftlichen Zwangs gegen Entwicklungsländer“. Sie verurteilte mit Verweis auf die UNO-Charta, diverse internationale Pakte und Abkommen die Praxis hochentwickelter westlicher Länder, ihre dominierende Stellung in der Weltwirtschaft auszunutzen, um Entwicklungsländern ihren Willen aufzuzwingen. In Folgeresolutionen, die seit 1987 alle zwei Jahre von der „Gruppe der 77“ (G77) und China eingebracht wurden, wurde zudem die internationale Gemeinschaft aufgefordert, dringend wirksame Maßnahmen gegen diese Praxis zu ergreifen.
Seit 1996 wird jedes Jahr eine weitere Resolution mit dem Titel „Menschenrechte und einseitige Zwangsmaßnahmen“ verabschiedet, die von der Bewegung der Blockfreien Staaten eingebracht wird und sich stärker auf die humanitären Folgen der westlichen Sanktionspraxis konzentriert.
Gegen Erpressung - für souveräne Gleichheit
Diese Resolutionen stützen sich alle auf den Grundsatz der Nichteinmischung, der in früheren Resolutionen der UN-Generalversammlung fixiert wurde und als zentraler Bestandteil des Selbstverständnisses der UNO und auch des internationalen Rechts gilt. Diesem zufolge darf kein Staat wirtschaftliche, politische oder sonstige Maßnahmen anwenden, um einen anderen Staat zur Unterordnung zu nötigen.
Die Resolutionen gegen eigenmächtige Zwangsmaßnahmen wurden in der Folge noch präzisiert und ausgeweitet. Die letzte, am 15. Dezember 2022 von der Generalversammlung verabschiedete führt in ihrer auf mittlerweile 34 Punkte angewachsenen Liste eine breite Palette von Rechtsverstößen und schädlicher Auswirkungen auf. Betont wurden stets schon die negativen Folgen für Kinder und die medizinische Versorgung. Mittlerweile werden sie auch als „größtes Hindernis“ für die Verwirklichung des „Rechts auf Entwicklung und der Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung“ verurteilt. Schließlich drängen die Resolutionen die UN-Mitglieder zu wirksamen Gegenmaßnahmen und bekräftigen „das Engagement für die internationale Zusammenarbeit und den Multilateralismus“.
Die letzte verurteilt zudem die Aufnahme von Mitgliedstaaten in einseitige Listen unter falschen Vorwänden […] einschließlich falscher Behauptungen über die Unterstützung des Terrorismus“. Dies ist bekanntlich ein von den USA häufig gebrauchter Vorwand (2). Sie wurde mit 123 Ja- gegen 53 Nein-Stimmen angenommen. Dem Nein der NATO- und EU-Staaten und ihrer engen Verbündeten Australien, Israel, Japan, Neuseeland, Schweiz und Südkorea schlossen sich aus dem Süden nur Kleinstaaten wie die Marshall Inseln, Mikronesien oder Palau an, die völlig vom Westen abhängig sind.
Resolutionen der Generalversammlung sind bekanntlich völkerrechtlich nicht bindend, im Unterschied zu denen des Sicherheitsrats. Durch ihren starken appellatorischen Charakter haben sie aber durchaus erhebliches Gewicht und können in Völkergewohnheitsrecht übergehen. Nach Ansicht einer Reihe von Experten wie des ehemaligen UN-Sonderberichterstatters Idriss Jazairy könnte dies angesichts der Vielzahl der seit vielen Jahren verabschiedeten Resolutionen der UN-Vollversammlung bzgl. Ächtung von unilateralen Zwangsmaßnahmen bereits der Fall sein (3).
Westliche Rechtfertigungen
Dem wird im Westen natürlich vehement widersprochen. Westliche Völkerrechtler gehen sogar soweit, zu behaupten, dass im Gegenteil die langjährige umfangreiche Anwendung eigenmächtiger Maßnahmen diese bereits gewohnheitsrechtlich legitimiere, während die von Sanktionsgegnern ins Feld geführten Normen wie der Grundsatz der Nichteinmischung bereits durch die Praxis vieler Staaten schon so erheblich ausgehöhlt seien, dass sie gewohnheitsrechtlich nicht mehr relevant wären. Das würde bedeuten, dass dominierende Mächte Normen allein dadurch unwirksam machen könnten, dass sie sie häufig brechen.
Die USA erkennen natürlich die Resolutionen gegen Zwangsmaßnahmen nicht an. Sie erklären sie schlicht für irrelevant, da sie das souveräne Recht der Staaten in Frage stellen würden, ihre Wirtschaftsbeziehungen frei zu gestalten und legitime nationale Interessen zu schützen. „Unilaterale Sanktionen“ seien ein „legitimes Mittel“, um „außenpolitische, sicherheitspolitische und andere nationale und internationale Ziele zu erreichen“. Die EU-Staaten teilen weitgehend diesen Standpunkt. Auch sie beharren darauf, dass von einem völkerrechtswidrigen, unter das Interventionsverbot fallenden Zwang überhaupt keine Rede sein könne, da es schließlich jedem Land freistehe, zu entscheiden, mit wem es wie viel Handel treiben möchte.
Diese plumpe Argumentation halten jedoch auch die Wissenschaftlichen Dienste des deutschen Bundestages für nicht haltbar. Sie stellen klar, dass unilaterale Zwangsmaßnahmen als „extreme Formen der Druckausübung“ gelten und unter das Interventionsverbot fallen, sobald sie „die Schwelle der Erheblichkeit überschreiten“, indem sie vitale Staatsinteressen berühren und den sanktionierten Staat in der Ausübung seiner Souveränität spürbar behindern (4). Das ist bei den westlichen Embargos, angesichts des enormen wirtschaftlichen Erpressungspotentials, über das die USA und die alten Kolonialmächte verfügen, sicher der Fall.
Um den Auswüchsen der westlichen Wirtschaftsblockaden mehr entgegensetzen zu können, hat der UN-Menschenrechtsrat 2014 das Amt eines „Sonderberichterstatters über negative Auswirkungen unilateraler Zwangsmaßnahmen auf die Wahrnehmung von Menschenrechten“ geschaffen. Der erste Berichterstatter, der bereits erwähnte algerische Menschenrechtler Idriss Jazairy und seine Nachfolgerin Alena Douhan legen seither regelmäßig ausführliche, gut recherchierte Berichte über die Auswirkungen, wie auch fundierte völkerrechtliche Bewertungen vor. Die aktuelle Sonderberichterstatterin Alena Douhan geht davon aus, „dass etwa 98 Prozent der heute verhängten einseitigen Sanktionen gegen die internationalen Verpflichtungen der Staaten verstoßen.“ (5) Obwohl sie „meist im Namen der Menschenrechte, der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit verhängt“ würden, würden sie, so betonte sie in einem Interview mit der chinesischen Nachrichtenagentur Xinhua, „genau diese Grundsätze, Werte und Normen untergraben“.
Insbesondere die von den USA auf Grundlage willkürlicher Notstandserklärungen verhängten Maßnahmen, so die Völkerrechtsexpertin, würden „eine breite Palette von Menschenrechten in China, Kuba, Haiti, Iran, Nicaragua, der Russischen Föderation, Syrien, Venezuela, Simbabwe und anderen Ländern auf der ganzen Welt“ verletzen. Vor diesem Hintergrund ist klar, dass viele Länder schon seit langem helfen, Wirtschaftsblockaden zu umgehen, und dabei auch schon in den letzten Jahren zunehmend offensiver vorgingen. Mit dem Wirtschaftskrieg gegen Russland gab es in dieser Beziehung jedoch einen regelrechten Schub, der nicht nur Russland zugutekommt, sondern z.B. auch dem Iran und perspektivisch Syrien.
Stark gekürzt, Original siehe:
Anmerkungen:
(1) The negative impact of unilateral coercive measures on the enjoyment of human rights, Resolution A/HRC/52/L.18, 3 April 2023
(2) UN-GA Res 77/214. Human rights and unilateral coercive measures, General Assembly, Seventy-seventh ses sion, 15.12.2022
(3) Idriss Jazairy, Report of the Special Rapporteur on the negative impact of unilateral coercive measures on the enjoyment of human rights, A/HRC/30/4, UNHRC, 10.8.2015
(4) sh. Rechtsfragen zu völkerrechtlichen Sanktionen, Wissenschaftl. Dienste des Dt. Bundestages, 8.7.2019
(5) Interview: Most unilateral sanctions violate international law, says UN expert, Xinhua, 13.07.2022