Hasan Portrait webInterview mit Hasan Orhan von der Demokratischen Föderation der ArbeiterInnenvereine (DIDF) zur prekären Lage regierungskritischer Medien in der Türkei.

Werkstatt-Blatt: DIDF hat eine Kampagne für Medien- und Pressefreiheit in der Türkei gestartet. Wie schaut derzeit die Situation für alternative und kritische Medien in der Türkei aus?

Hasan: Gegenwärtig ist in der Türkei Journalist zu sein wahrscheinlich der gefährlichste Beruf. Keine Diktatur möchte, dass ihre Gräueltaten öffentlich gemacht werden. So handhaben das auch die Herrschenden in der Türkei. Wenn es so weitergeht, wird in der Türkei kein einziges Medienorgan mehr existieren, das die Öffentlichkeit, die Welt mit Tatsachen informieren kann. Nach Angaben der Journalistengewerkschaft der Türkei (TGS) saßen Ende Mai 2016 insgesamt 36 Journalisten als Verurteilte bzw. Inhaftierte in türkischen Gefängnissen. Diese Zahl ändert sich ständig, weil täglich neue hinzukommen. Dieses düstere Bild findet sich auch in den Berichten internationaler Journalistenorganisationen wieder. In der Rangliste für Pressefreiheit von „Reporter ohne Grenzen“ rutschte die Türkei im letzten Jahr um zwei Plätze nach hinten und befindet sich auf Platz 151 von insgesamt 180 Ländern.

Die Erdogan/AKP-Diktatur nutzt den gescheiterten Putschversuch, um erneut eine Angriffswelle gegen die wenigen verbliebenen “alternativen Medien” wie die Tageszeitung Evrensel (Universal) oder den Fernsehsender Hayatin Sesi TV (Stimme des Lebens TV) rigoros vorzugehen. Nachrichtenagenturen, Zeitungen oder Fernsehsender werden geschlossen, mit Strafen handlungsunfähig gemacht. Alles wird unter dem Deckmantel der “Terrorismusbekämpfung” verboten oder mundtot gemacht. Nach offiziellen Angaben im Amtsblatt werden drei Nachrichtenagenturen, 23 Radiosender, 15 Zeitschriften und 29 Verlagshäuser geschlossen. Es ist unfassbar, was gerade passiert. In den kurdischen Gebieten müssen Jounralist*innen, wenn sie denn ihren Beruf etwas länger ausüben wollen, mit kugelsicheren Westen und Stahlhelm arbeiten. Ihre Artikel werden, wenn sie nicht den Vorgaben der AKP- Diktatur  entsprechen, als „Terrorpropaganda“ betitelt und es folgen hohe Geldstrafen oder mehrjährige Haftstrafen.

Werkstatt-Blatt: Du hast „Hayatin Sesi TV“ und „Evrensel“ erwähnt. Wie wird versucht, diese kritischen Medien mundtot zu machen?

Hasan: Es wird versucht, den Sender „Hayatin Sesi TV“ *) mit hohen Geldstrafen zum Schweigen zu bringen. Sie wissen, dass dieser Sender keine Multimillionäre hinter sich hat und auch keine nennenswerten Summen durch Werbung gewinnt. Was übrigbleibt ist die selbstlose Arbeit der Journalisten*innen und die Solidarität und Unterstützung der Arbeiter*innen und der demokratischen Kräfte. Die Türkische Hörfunk- und Fernsehanstalt (RTÜK) hat den Sender Hayatin Sesi TV ins Visier genommen. Erst vor kurzem wurde gegen den Sender wegen der Berichterstattung zu den Sprengstoffattentaten vom 13. März im Ankara-Güven-Park Buß- und Verwarnungsstrafen vergehängt. Am 22. Juni 2016 folgten zwei weitere Geldstrafen, wobei aber dieses Mal konkret und offen gedroht wird, den Sender bei einer Wiederholung zu schließen. Den neu verhängten „Strafen“ werden zwei Berichte, einmal über das IS Attentat vom 19. März in Istanbul und Interviews in Cizre, zu Grunde gelegt.

Der Sender schreibt in seiner Erklärung: „In einer Stadt, wo hunderte Menschen umgebracht wurden, gehört es zur Pflicht der Journalist*innen die Bewohner zu fragen, was dort passiert ist. Wer das nicht macht, ist kein Journalist. Haben denn die Menschen kein Anrecht, informiert zu werden, was dort passiert ist? Die Regierung und RTÜK stören die kritischen Statements der Menschen. Wir sind uns bewusst, dass diese verhängten „Strafen“ den Weg für die Schließung unseres Senders ebnen sollen. Wir werden uns trotz allem nicht beugen“.

Hinzu kommt, dass Reporter*innen der oppositionellen Tageszeitung Evrensel und von Hayatin Sesi TV, Hasan Akbaş, Fırat Topal, Serpil Berk, und der freie Journalist Sertac Kayar am 10. August in Diyarbakir/Sur von der Polizei willkürlich festgenommen wurden. Als die Journalist*innen nach der Explosion am Tatort über den Anschlag berichtet hatten und danach ins Taxi einstiegen, wurden sie an der 3. Polizeisperre festgenommen. Sie kamen in U-Haft, wo sie psychisch und physisch gefoltert wurden. Die Reporter*innen berichteten, dass die Zustände in der U-Haft qualvoll waren. Neben der physischen Gewalt, wurde ihnen auch angedroht, erschossen zu werden. Die Journalist*innen wurden auch aufgefordert für die Polizei zu arbeiten, was sie ablehnten. Ihnen wurden die Handys weggenommen, die sie nach der Entlassung nicht zurückbekamen. Auch Drohungen wie: „Wir haben eure ganzen Daten und Kontakte, die wir uns zu Nutze machen werden“ mussten sich die Journalist*innen anhören.
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Und seit elf Tagen werden die Reporter Cemil Ugur und Halit Polat aus Mersin ohne eine Erklärung in Untersuchungshaft gehalten. Den beiden Journalisten wird sogar der Kontakt zu ihren Anwälten verweigert. Wir sind sehr besorgt, weil wir kaum Informationen über das Befinden der beiden festgenommenen Journalisten bekommen.

Werkstatt-Blatt: Wie kann man die Kampagne für Medien- und Pressefreiheit in der Türkei unterstützen?

Hasan: Wir haben gesehen, dass wir von den EU-Institutionen, die insbesondere wegen ihres schmutzigen Flüchtlingsdeals die Verbrechen der Herrschenden in der Türkei gegen die Presse- und Meinungsfreiheit ignorieren oder mit moderater Kritik überspielen, nicht viel zu erwarten haben. Deswegen gilt unser Augenmerk der Reaktion von Berufsverbänden, demokratischen Institutionen, Menschenrechtsorganisationen, Gewerkschaften und fortschrittlichen Kräften in Europa. Besonders wichtig ist es, in Europa auf die eigenen Regierungen Druck auszuüben, die Zusammenarbeit mit der Türkei zumindest kritisch zu hinterfragen und die AKP-Regierung aufzufordern, die Menschenrechte zu achten, Meinungs- und Pressefreiheit nicht zu beschneiden und die verhafteten Journalist*innen freizulassen.

Für uns ist es auch von großer Bedeutung, dass die Menschen in Europa nicht durch Tatsachenverdrehungen und irreführende Berichte falsch informiert werden. Deswegen ist es an der Zeit, die Zusammenarbeit und Vernetzung voranzubringen. Aber auch Solidaritätserklärungen wie im Falle der Akademiker*innen und Delegationsbesuche sind sehr wichtig. Die Prozesse gegen Journalisten und Menschenrechtler*innen haben schon begonnen. Zu diesen Gerichtsprozessen Beobachtungsgruppen zu schicken, wäre ebenfalls wirksam. Ich möchte aber an dieser Stelle auch zu einer finanziellen Solidarität aufrufen. Denn gerade diesen „Schwachpunkt“ des Senders versucht die Türkische Hörfunk- und Fernsehanstalt (RTÜK) auszunutzen und durch Geldstrafen, den Sender kleinzukriegen.
(September 2016)


*) Mittlerweile hat die türkische Regierung bereits die Schließung des Senders „Hayatin Sesi TV“ erlassen. Siehe dazu auch den Aufruf von DIDF: sofortige-aufhebung-des-verbots-des-senders-hayat-n-sesi-tv