Als nach dem Sturz des Regimes von Bashar al Assad die syrische Handelskammer verlautbarte, dass das neue Regime „ein freies Marktsystem auf der Grundlage des Wettbewerbs" (1) einführen werde, knüpften die neuen Machthaber daran an, weshalb der Bürgerkrieg im Jahr 2011 ausgebrochen war. Die syrische Tragödie, der zumindest eine halbe Million Menschen zum Opfer fielen, die Millionen zu Flüchtlingen machte und das ganze Land verheerte, ist nicht zuletzt Folge der neoliberalen Zurichtung eines peripheren Staates unter den Bedingungen wachsender geopolitischer Rivalität. 

Dieser Prozess kann nicht losgelöst werden von dem, was bei uns gemeinhin als „europäische Nachbarschaftspolitik“ verharmlost wird. Nach dem Untergang der Sowjetunion eröffnete sich für die EU ein gewaltiger Expansionsraum, der von Osteuropa über den Nahen Osten bis zu den Mittelmeerstaaten Afrikas reichte. Dieser Raum sollte in die Wertschöpfungsketten der westeuropäischen Konzerne eingebunden werden, ohne aber den Staaten eine EU-Beitrittsperspektive zu eröffnen. 

Die Staaten der „europäischen Nachbarschaft“ sollten sich zu „europäischen Werten“ verpflichten, was im Klartext heißt: die Übernahme des gesamten Acquis communautaire der EU, also aller gültigen Verträge und Rechtsakte, etwa 40.000 Gesetze auf 80.000 Seiten. Seine Übernahme, die eine der wesentlichen Vorbedingungen für eine weitere Annäherung im Rahmen der Nachbarschaftspolitik darstellt, ist gleichbedeutend mit einem tiefgreifenden neoliberalen Umbau der betroffenen Länder, deren Märkte sich dem Freihandel öffnen müssen. Ein ebenes Spielfeld soll faire Ausgangsbedingungen schaffen. Unter höchst ungleichen Ausgangsbedingungen bedeutet ein ebenes Spielfeld aber freie Bahn für die Starken: „Die Freihandelsförderung war historisch immer das Vorrecht der Mächtigen. Und die Förderung und Aufrechterhaltung der Ungleichheit war immer eine Voraussetzung für das erfolgreiche Funktionieren der auf Freihandel basierenden kapitalistischen Marktwirtschaft“ (2). 

Neoliberaler Assoziierungsvertrag

In diesem Sinn handelte ab 2002 die EU mit Syrien einen radikal neoliberalen Assoziierungsvertrag aus:

  • „Ziel dieses Abkommens ist es, […] die Voraussetzungen für die schrittweise Liberalisierung des Waren-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehrs zu schaffen.“ (Artikel 1)
  • Innerhalb kurzer Zeit soll eine Freihandelszone ohne jegliche Schutzmaßnahmen für die heimische Wirtschaft etabliert werden (Artikel 7). Dementsprechend sollen – irreversibel - die Zölle abgeschafft werden (Artikel 9) 
  • Auch der Weg zur Abschaffung von Schutzmaßnahmen außerhalb von Zöllen – sog. nicht-tarifären Handelshemmnissen – soll geebnet werden. (Artikel 23) 
  • Darüber hinaus ist im Assoziierungssabkommen auch die Öffnung Syriens für EU-Investitionen sowie der vollständige Rücktransfer von dort erzielten Gewinnen anvisiert (Artikel 62) 
  • Schließlich wird der syrischen Regierung untersagt, fünf Jahre nach Abschluss der Vereinbarung weiter staatliche Betriebe zu subventionieren. Diese Maßnahme schränkt die syrische Fähigkeit, die einheimische Industrie und v.a. die staatseigenen Betriebe, in denen ein Großteil der Syrer arbeiten, vor der EU-Konkurrenz zu schützen, erheblich ein.

Baschar al Assad, der Anfang 2000 die Regierungsgeschäfte von seinem Vater übernommen hatte, musste zu dieser neoliberalen Rosskur nicht gezwungen werden. Er versprach sich mit Hilfe des äußeren Drucks der EU, die inneren Widerstände gegen die Folgen der Beseitigung der sozialistischen Eigentumsverhältnisse und der weitgehend egalitären Verteilung zu überwinden und so sein Land auf den Kurs einer „modernen“ Volkswirtschaft zu bringen. Zudem hoffte er so, dem Druck neokonservativer Kräfte aus den USA entgegenzuwirken. Diese sahen Syrien aus geopolitischen Gründen als Teil der „Achse des Bösen“ und arbeiteten am Regime Change in Damaskus. 

Ende 2004 wurde das Assoziierungsabkommen zwischen EU und Syrien finalisiert. Offiziell trat es nicht in Kraft, da die Europäische Union die Ratifizierung verweigerte, nachdem Syrien beschuldigt worden war, an der Ermordung des ehemaligen libanesischen Ministerpräsidenten Rafiq al-Hariri am 14. Februar 2005 beteiligt gewesen zu sein. Syrien beeilte sich jedoch, das Assoziierungsabkommen faktisch umzusetzen. Beide Seiten bezogen sich fortan stetig auf das Abkommen „und die syrische Seite begann damit, die im Abkommen enthaltenen wirtschaftlichen Verpflichtungen zu implementieren.“ (3)

Einen radikalen Liberalisierungsschub erfuhr das Land mit der Verabschiedung des 10. Fünfjahresplans 2006. Die deutsch-arabische Handelskammer lobt 2010 diesen rückblickend: „Wichtige Erfolge - wie die Steuerreform, die Vereinheitlichung der Wechselkurse, die Zulassung privater Banken, die Errichtung einer Wertpapierbörse, die Senkung der Körperschaftssteuer von 35 auf 28% (14% für Aktiengesellschaften) und die Schaffung neuer Investitionsgesetze - wurden bereits erreicht. Neben einem stärkeren Privatisierungsfaktor im Außenhandel sind auch einige Maßnahmen zur Förderung von Importen zu erkennen, wie die zum Teil drastischen Zollsenkungen, durch die die Zölle nun weitestgehend dem geforderten Standard der EU-Assoziationsabkommen entsprechen. […] Die Investitionsbedingungen wurden verbessert und vereinfacht. Nun sind zum Beispiel eine 100-prozentige ausländische Eigentümerschaft und der volle Gewinntransfer für ausländische Investitionen möglich.“ (4) 

… mit verheerenden Folgen

Das Ausmaß der Liberalisierungsmaßnahmen war ohne Zweifel dramatisch, allerdings gingen sie nicht so weit wie etwa in Ägypten oder Tunesien. Deshalb lautete die Einschätzung der Europäischen Union, das Land befinde sich zwar auf dem prinzipiell richtigen Weg, es sei dabei lediglich noch zu inkonsequent vorgegangen. Im letzten EU-Indikativprogramm vom August 2010 heißt es hierzu: “Der auf den Weg gebrachte wirtschaftliche Reformprozess in Syrien hat bereits wichtige Verbesserungen des Handels- und Investitionsklimas bewirkt. […] Viel ist bereits erreicht worden. […] Allerdings muss noch mehr getan werden, um das Unternehmertum und die Vergrößerung der syrischen Wettbewerbsfähigkeit zu fördern.“ (5) Allerdings zeigte sich die Europäische Union zuversichtlich, dass im nächsten Fünfjahresplan 2011-2015 weitere substanzielle “Fortschritte” in die gewünschte marktradikale Richtung erzielt werden könnten.

Für die syrische Bevölkerung hatte diese Politik der Liberalisierung und Privatisierung jedoch schon bis dahin verheerende Folgen: 

  • Die Öffnung des syrischen Marktes habe höchst „schädliche Auswirkungen“ auf das einheimische Handwerk, bestätigte die International Crisis Group. Zahlreiche Handwerker stünden auf Grund der Liberalisierung vor dem Ruin und hätten dem Regime deshalb ihre Loyalität aufgekündigt offiziell lag die Arbeitslosenquote im Jahr 2009 bei 8,1%, inoffizielle Schätzungen gingen allerdings von 24,4% aus (6)
  • Das „Miet- und Immobiliengesetz Nr. 6“ hatte darüber hinaus zur Folge, dass es „Vermietern erleichtert wurde, Mieter aus Häusern mit ehemals gebundener Miete zur Räumung zu zwingen.“ 
  • Durch das „Wettbewerbs- und Anti-Monopol-Gesetz“ von 2008 wurden die meisten Bedarfsgüter von der Preisbindung befreit, auch die Subventionen des Energiesektors wurden eingestellt. Die Abschaffung von Preiskontrollen führte zu einem sprunghaften Anstieg der Inflation – einschließlich steigender Mieten belief sie sich auf 17-20% zwischen 2006 und 2008.
  • In Syrien - historisch einem Staat mit eher geringen Einkommensunterschieden – nahm die Ungleichheit drastisch zu: „Seit den Zeiten der syrisch-ägyptischen Union (UAR 1958-61) ist der Reichtum nie so ungleich verteilt gewesen – 50% des Reichtums konzentrieen sich auf 5% der Bevölkerung, [während zugleich] zwischen 11% und 30% unterhalb der Armutsgrenze leben.“ (7)

 Durch diese Politik untergrub die syrische Regierung die Loyalität ihrer eigenen sozialen Basis, vor allem der Arbeiter und Bauern. Die verstärkt neoliberal ausgerichtete Wirtschaftspolitik, verbunden mit einer auf den Assad-Clan konzentrierten Konzessionspraktik, begünstigte eine mafiaartige Vernetzung zwischen Regime und privater Wirtschaft und verschärfte die allgegenwärtige Korruption. Zusätzlich zu den liberalen Wirtschaftsreformen führten auch fünf Dürrejahre zu schlechten Ernten und dem Zustrom verarmter Bauern in die Städte. 2011 brachen schließlich im Zuge des „arabischen Frühlings“ Massenproteste gegen das Regime Assads aus, die nicht zuletzt von der tiefen sozialen Frustration breiter Bevölkerungsteile getragen war. Die Proteste richteten sich gegen wachsende soziale Not und die Korruption des Assad-Regimes. Aufgrund der repressiven Reaktion des Herrschaftsapparates wuchs die Bewegung massiv an. Am Karfreitag 2011 gingen landesweit bereits hunderttausende auf die Straße, im Juli 2011 demonstrierten im ganzen Land bereits über eine Million Menschen. Die Bewegung war - großteils - friedlich, stark dezentral organisiert und lehnte – in großen Teilen - die neoliberalen Reformen, die zur Verarmung breiter Bevölkerungsteile geführt hatte, ab. Samir Aita, 10 Jahre lang Berater der syrischen Regierung, danach in der Opposition, bringt in einem Interview im August 2011 die Stimmung zum Ausdruck: (8).  

Der Westen setzt auf Militarisierung der Proteste

Der Westen und die EU, die noch kurz davor die Fortschritte der neoliberalen Wirtschaftsreformen gelobt hat, waren beunruhigt. Die Protestbewegung war durch die von ihr selbst geförderte Wirtschaftspolitik ausgelöst worden und richtete sich maßgeblich gegen diese. Unter diesen Bedingungen war es mehr als fraglich, ob nach einem Sturz von Assad durch eine demokratische Massenbewegung der neoliberale Weg fortgeführt werden würde. Doch auch von Assad selbst musste mit einem Abrücken von diesem Kurs gerechnet werden, um sein politisches Überleben zu sichern. In dieser Situation setzte der Westen mit aller Kraft auf die Militarisierung des Konflikts. Er unterstützte die dschihadistischen Gruppen, die auf den gewaltsamen Umsturz drängten. Aus Sicht des Westens hatte das drei große Vorteile:

Die progressiven und demokratischen Kräfte, die überwiegend auf gewaltfreien Widerstand orientierten und eine solidarische Wirtschaftspolitik forderten, wurden rasch an den Rand gedrängt.

Von den islamistischen Kräften konnte eine Fortsetzung des neoliberalen Kurses erwartet werden. Ansprechpartner war der „Syrische Nationalrat“ (SNC), der von den Muslimbrüdern dominiert wurde und hervorragende Kontakte zu US-amerikanischen Institutionen und Geldgebern hatte. Der SNC forderte die Bewaffnung der „Freien Syrischen Armee“ (FSA) und eine westliche Militärintervention nach dem Vorbild Libyens. Er versprach, dass eine künftige Regierung Syriens nach dem Sturz Assads „eine freie Marktwirtschaft unterstützen“ werde. Man strebe eine „Reform des Finanzsektors an, um ein investitionsfreundliches Klima zu schaffen“ (9).

Geopolitisch war von den sunnitisch orientierten Dschihadisten eine Abkehr vom Iran und von Russland zu erwarten, welche die Regierung von Assad unterstützten. Schwer verärgerte den Westen, dass sich 2011 – zwei Monate bevor der Aufstand in Syrien losbrach – Assad für eine Erdgaspipeline entschied, die das Erdgas vom Iran über den Irak und Syrien zur Mittelmeerküste transportieren sollte und von Russland unterstützt wurde. Die vom Westen favorisierte Pipeline, die katarisches Erdgas über Syrien und die Türkei nach Europa liefern sollte, wurde dadurch begraben.

Unterstützung für Dschihadisten

Die Unterstützung von USA und EU-Staaten für die Machtergreifung der Dschihadisten ist gut belegt: So heißt es in einem Dokument des US-amerikanischen Militärgeheimdienstes DIA aus dem Jahr 2012, dessen Veröffentlichung von der US-amerikanischen Bürgerrechtsgruppe Judical Watch heuer gerichtlich erzwungen wurde: “Es gibt die Möglichkeit der Schaffung eines sich konstituierenden oder nicht offiziell erklärten salafistischen Kalifats im Osten Syriens, und das ist genau das, was die Unterstützer der [syrischen] Opposition wollen, um das syrische Regime zu isolieren und die schiitische Expansion im Irak durch Iran einzudämmen.” Als die „Unterstützer der Opposition“ werden in dem Geheimdienstdokument explizit genannt: „der Westen, die Golfstaaten und die Türkei“ (10).

Wikileaks veröffentlichte ein geheimes Mail, das Jake Sullivan, der politische Berater der damaligen US-Außenministerin Hillary Clinton, am 12.2.2012 an seine Chefin schrieb. Der Inhalt ist brisant: „Al Qaida ist auf unserer Seite in Syrien“ (11). Die dschihadistische Nusra Front profitierte wie Dutzende bewaffnete Gruppen von dem geheimen CIA-Programm „Timber Sycamore“, das eine Milliarde US-Dollar jährlich umfasste. Damit wurden die gewaltsamen Aufständischen ab 2012 nicht nur bewaffnet, es wurden auch Ausbilder geschickt, die die Kämpfer in den Waffen und in militärischem Vorgehen schulten. Das CIA-Programm, das der damalige US-Präsident Barack Obama genehmigte, wurde vom britischen Auslandsgeheimdienst MI6, dem türkischen Militärgeheimdienst und von Geheimdiensten der arabischen Golfstaaten unterstützt. 

Kein geringerer als Joe Biden, damals US-Vizepräsident, bekannte im Herbst 2014 in einer Rede an der Havard-Universität: „Saudi-Arabien, Vereinigte Arabische Emirate und die Türkei, diese waren so entschlossen, Assad zu stürzen und einen sunnitisch-schiitischen Krieg zu führen, – was also taten sie? Sie schütteten jeden, der gegen Assad kämpfen wollte, mit Hunderten Millionen Dollar und Dutzenden, ja, Tausenden Tonnen Waffen zu. Allerdings belieferten sie auch Leute von al-Nusra und al-Qaida und die extremistischen Elemente der Djihadisten aus allen Teilen der Welt“ (12). Was Biden zu erwähnen vergessen hat: Fast 90% der Waffen Saudi-Arabiens, der Vereinigten Arabischen Emirate und der Türkei kamen aus den USA und der EU.

Internat

 „Wir haben das verursacht“

Die USA und die EU hätten es auch in der Hand gehabt, den Krieg noch in der Anfangsphase zu beenden. Das wissen wir aufgrund eines Interviews, das Martti Ahtisaari, früherer finnischer Präsident und Friedensnobelpreisträger, im September 2015 dem britischen „Guardian“ gegeben hat. Ahtisaari schildert darin, dass der Westen im Jahr 2012 die Chance auf eine bereits damals mögliche politische Lösung des Syrienkonflikts hintertrieb. Ahtisaari nahm am 22. Februar 2012 als Vermittler an einer Sitzung mit Vertretern der ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrats, der USA, Russlands, Großbritannien, Frankreichs und Chinas, in New Ysork teil. Ahtisaari sagte dem „Guardian“, dass er dort Gelegenheit gehabt hatte, mit dem russischen Gesandten Witali Tschurkin zu sprechen. Laut Ahtisaari übermittelte ihm Tschurkin drei Botschaften: „Erstens: Wir sollten der Opposition keine Waffen geben. Zweitens: Wir sollten sofort einen Dialog zwischen der Opposition und Assad einleiten. Drittens: Wir sollten einen eleganten Weg für Assad finden, um abzutreten.“ Ahtisaari übermittelte den Plan den USA, Frankreich und Großbritannien. Die Reaktion der westlichen Großmächte: „Nichts passierte“, denn so Ahtisaari, diese „waren überzeugt, dass Assad in wenigen Wochen aus dem Amt verjagt werden würde und daher nichts getan werden müsse.“ Ahtisaari: „Diese Chance wurde 2012 verspielt.“ Zum damaligen Zeitpunkt waren rd. 7.500 Menschen im syrischen Krieg zu Tode gekommen. Die fehlende Bereitschaft der westlichen Großmächte, einen Friedensdialog im Jahr 2012 einzuleiten, kostete einer halben Million Menschen das Leben und machte 11 Millionen Syrerinnen und Syrer zu Flüchtlingen. „Wir haben das verursacht“, wird Ahtisaari im Guardian zitiert (13).

Die Dschihadisten waren und sind freilich keine bloßen Marionetten des Westens. Als 2014 die Kontrolle über den Islamischen Staat zu entgleiten drohte, setzten die USA auf die kurdische Karte in Syrien. Jetzt verhalf der Kampf gegen den IS den USA dazu, sich im Syrien militärisch festzusetzen und die Kontrolle über die syrische Erdölförderung im Osten des Landes zu übernehmen. 

Insgesamt hatte der Westen nie aufgehört, die Islamisten zu fördern, um eine prowestlichen Regime Change zu erreichen. USA und EU führten einen brutalen Wirtschaftskrieg gegen die syrische Ökonomie und Bevölkerung, der dazu führte, dass 90 Prozent der Menschen unter der Armutsgrenze lebten und das Gesundheitswesen zusammenbrach. Nur die Gebiete Syriens, die von Dschihadisten kontrolliert wurden, waren von den Sanktionen ausgenommen. 2016 appellierten hochrangige christliche Würdenträger aus Syrien an die Europäische Union, die Sanktionen gegen Syrien aufzuheben: „Die Sanktionen gegen Syrien tragen dazu bei, die syrische Gesellschaft zu zerstören: Sie lieferten sie dem Hunger, Epidemien und Elend aus und arbeiten somit den Milizen von Integralisten und Terroristen, die heute auch in Europa zuschlagen, in die Hand“ (14). 

„Schweinehund“

Mit Haiat Tahrir asch-Scham (HTS), wörtlich: Komitee zur Befreiung der Levante, hatte sich eine Dschihadistenmiliz gebildet und mit türkischer Unterstützung im Gouvernement Idlib die Macht an sich gerissen. Nach eigenen Angaben hatte sie sich vom Islamischen Staat und Al Qaida losgesagt, ihre Herrschaft in Idlib gibt aber einen Vorgeschmack darauf, womit in Syrien zu rechnen sein wird, nachdem sie in Damaskus an die Macht gekommen ist: Das Wahlrecht haben lediglich ausgesuchte Männer, Frauen sind davon ausgeschlossen und unterliegen den strengen Regeln der Scharia. ChristInnen, Alawiten und Drusen haben nur beschränkte Rechte. In Untersuchungsberichten des UN-Menschenrechtsrats wurden schwerste Menschenrechtsverbrechen der HTS dokumentiert, darunter Folter, extralegale Hinrichtungen sowie die systematische gewaltsame Unterdrückung politischer Gegner und von Journalisten. Belegt ist auch, dass Inhaftierten die Fingernägel ausgerissen oder Arme und Beine gebrochen wurden. Männliche Gefangene berichteten, sie seien sexuell misshandelt, mit Stromschlägen an ihren Genitalien malträtiert oder vergewaltigt worden; auch Fälle von Vergewaltigungen von Frauen in HTS-Hafteinrichtungen sind dokumentiert. Der Bericht des UN-Menschenrechtsrats bilanziert trocken, es ergebe sich für die westliche Politik die Frage, „ob sie darüber hinwegsehen sollten, wie sie es mit ihren Verbündeten in der Region tun“. (15)

Sie werden: wenn die neuen Machthaber ihr Versprechen einlösen, ein „freies Marktsystem auf der Grundlage des Wettbewerbs“ einzuführen und sich geopolitisch westlich verorten. Wer bereit ist, sich diesem imperialen Neoliberalismus unterzuordnen, bei dem werden Menschenrechte und Demokratie nicht so genau genommen. In Washington und Brüssel gilt auch für Dschihadisten, was seinerzeit US-Präsident Eisenhower über einen lateinamerikanischen Diktator äußerte: „Sicherlich ist er ein Schweinehund, aber er ist unser Schweinehund.“ 

Doch die Geschichte ist noch nicht zu Ende. Die neoliberale Unterordnung Syriens als billiger Rohstofflieferant für das europäische Zentrum, die ethnische Zerstückelung des Landes bieten keine Perspektive. Die progressiven und antiimperialistischen Kräfte in Syrien mögen in der Defensive sein, verschwunden sind sie nicht. Ihre Agenda – geopolitische Unabhängigkeit, solidarische Ökonomie, Einheit des Landes basierend auf ethnischer und religiöser Vielfalt – weist den Ausweg aus der Sackgasse, in die das Bündnis von Neoliberalismus und Dschihadismus Syrien geführt hat.

Gerald Oberansmayr 
(Jänner 2025)


Anmerkungen:

  1. https://www.n-tv.de/wirtschaft/Syrische-Rebellen-versprechen-angeblich-freie-Wirtschaft-article25427640.html
  2. Leaman, Jeremy: Hegemonialer Merkantilismus: Die ökonomische Doppelmoral der Europäischen Union, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 2/2008, S. 76-90, S. 77.
  3. Dostal, Jörg Michael: The European Union’s Role in the Debate on Economic Reform in Syria, Given at the 58th Political Studies Association Annual Conference Swansea University, Wales, 1-3 April 2008; Hinnebusch 2012.
  4. Deutsch-Arabische Industrie- und Handelskammer: Länderprofil Syrien, Stand: 12/2010
  5. European Neighbourhood and Partnership Instrument Syrian Arab Republic National Indicative Programme 2011-2013, S. 5 und 9.
  6. Matar, Linda: The Socioeconomic Roots of the Syrian Uprising, MEI Insights Nr. 58, 26.03.2012, S. 2
  7. Dahi, Omar S./Muni, Yasser: Aufstände in Syrien: Auf der Suche nach der Schnittmenge – zwischen Autoritarismus und Neoliberalismus, in: inamo Nr. 68, Winter 2011, S. 58-64
  8. Interviews mit Samir Aita, dem Chefredakteur der arabischen Ausgabe von „Le-Monde Diplomatique“, gekürzt in: Junge Welt, 19.8.2011
  9. SNC Presents its Vision for the Reconstruction of the Syrian Economy, 25.05.2012
  10. http://www.ag-friedensforschung.de/regionen/Syrien1/salafisten.html
  11. https://www.solidarwerkstatt.at/frieden-neutralitaet/al-qaida-ist-auf-unserer-seite
  12. https://www.solidarwerkstatt.at/frieden-neutralitaet/87-der-waffen-fr-terrorfinanziers-aus-eu-und-usa
  13. The Guardian, 15.9.2015, sh. auch https://www.solidarwerkstatt.at/frieden-neutralitaet/syrien-wir-haben-das-verursacht
  14. https://www.solidarwerkstatt.at/frieden-neutralitaet/die-sanktionen-gegen-syrien-und-die-syrer-sind-unverzueglich-aufzuheben
  15. Aaron Y. Zelin: The Age of Political Jihadism. A Study of Hayat Tahrir al Sham. The Washington Institute for Near East Policy. Washington, May 2022.