Im Nahen und Mittleren Osten droht nun der schon oft beschworene Flächenbrand in Kürze Realität zu werden. Eine kurze Zusammenfassung von Joachim Guilliard. Joachim Guilliard ist aktiv beim Friedensbündnis Heidelberg und Heidelberger Forum gegen Militarismus und Krieg.
Der Nahe Osten steht kurz vor eine Explosion. „Armageddon? – Warum der Nahe Osten zu explodieren droht“ überschrieb Michael Lüders seinen jüngsten Podcast. Und die transatlantische Internat. Crisis Group schreibt, „die Ermordung des Hamas-Führers Ismail Haniyeh in Teheran“ habe „die größte Gefahr eines regionalen Krieges seit Jahren“ provoziert. Alle Beteiligten müssten ihr Möglichstes tun, um ihn zu vermeiden. „Der wichtigste Schritt, neben gegenseitiger Zurückhaltung, ist ein Waffenstillstand im Gazastreifen."
Doch davon will die ultra-rechte bis faschistische Netanyahu-Regierung absolut nichts wissen. Sie setzen offenbar auf Eskalation, mit der Absicht, so auch US-Politologen, die USA mit in einen größeren Krieg, möglichst auch mit dem Iran zu verwickeln. Der Aufruf, gemeinsam gegen den Iran zu kämpfen, war der Schwerpunkt Netanyahus in seiner Rede in Washington.
Torpedierung der Verhandlungen
Verhandlungen wurden damit nicht nur erneut torpediert, mit Haniyeh, dem Führer des politischen Flügels der Hamas, der, so der britsche Guardian, als gemäßigt und als renommierter Diplomat galt, hat Israel die Führungsperson der Organisation ermordet, die die Bemühungen um einen Waffenstillstand und Gefangenaustausch auf palästinensischer Seite leitete. Eine militärische Rolle spielte er überhaupt nicht. Auch das „Israeli Institute for National Security Research“ an der Universität Tel Aviv teilte nach seiner Ermordung mit, dass sein Tod die militärischen Fähigkeiten der Hamas nicht beeinträchtigen werde.
Und der katarische Ministerpräsident fragte, mit wem die Israelis eigentlich verhandeln wollen, wenn sie ihre Verhandlungspartner umbringen.
Gar nicht, ist die naheliegende Antwort. Das Schicksal der israelischen Gefangenen im Gazastreifen ist Netanyahu & Co. offensichtlich egal. Netanyahu braucht den Krieg, um sein Amt und damit Immunität vor Strafverfolgung zu behalten. Und selbst wenn er Schritte aus dem Krieg erwägen würde, würden dem seine faschistischen Koalitionspartner entgegenstehen.
Zum Anlass nahmen Netanyahu und seine Gang bekanntlich den Einschlag einer Rakete auf einem Fußballfeld, der zwölf Kinder und Jugendliche tötete – keineswegs in Israel, sondern auf den besetzten syrischen Golanhöhen. Die Toten waren keine Israelis, sondern kamen aus dem syrisch-drusischen Dorf Majdal Shams.
Die Hisbollah, die alle ihre Angriffe auf Israel öffentlich mit Uhrzeit, eingesetzten Waffen und Ziel öffentlich dokumentiert, hat einen Angriff ihrerseits nachdrücklich dementiert. Dies erscheint glaubwürdig, da die Hisbollah keinerlei Motiv haben kann, Drusen in einem besetzten Teil Syriens anzugreifen, die trotz der jahrelangen israelischen Besatzung meist syrische Staatsbürger geblieben sind. Statt eines gezielten Angriffs der Hisbollah könnte natürlich eine fehlgeleitete Rakete eingeschlagen sein. Als wahrscheinlicher wird aber eine israelischen Abwehrrakete angesehen, die ihr Ziel verfehlte.
Der Führer der libanesischen Drusen, Walid Dschumblat, machte in einer Stellungnahme auch Israel verantwortlich und betonte, dass „alles getan werden muss, um die israelische Aggression gegen Palästina und Libanon zu stoppen“. Eine Eskalation müsse vermieden werden. Israel tue alles, „um Konflikte und die Zersplitterung der Region zu befeuern“.
Und auch die Bewohner Majdal Shams wandten sich in einer Erklärung entschieden gegen israelische Vergeltungsmaßnahmen. Netanjahu wurde beim Besuch des Dorfes von wütenden Bewohnern angegriffen, Finanzminister Bezalel Smotrich und israelische Abgeordnete wurden daran gehindert, an der Beerdigung der Kinder teilzunehmen.
Im Westen übernahm man dennoch die israelische Darstellung und auch die Sichtweise, dass Israel das Recht, zur Vergeltung, als Selbstverteidigung habe. Selbstverteidigung wäre es aber selbst dann nicht, wenn es eine libanesische Rakete gewesen wäre. Diese kann für ein widerrechtlich besetztes Gebiet nicht geltend gemacht werden.
Asymmetischer Schlagabtausch
Während israelische Zivilisten aus den Grenzregionen zu Israel evakuiert wurden, müssen die Drusen im Kreuzfeuer des Schlagabtauschs zwischen Israel und Hisbollah ausharren. Auch dieser verläuft völlig asymmetrisch:
In der Zeit vom 7. Oktober 2023 bis 21. Juni 2024 haben sich entlang der „Blauen Linie“ mindestens 7.400 Angriffe ereignet. Das ergibt eine Dokumentation des Armed Conflict Location and Event Data Project (ACLED), das entsprechendes Kartenmaterial veröffentlichte. 83 Prozent dieser Angriffe wurden demnach von Israel verübt, insgesamt 6.142. Dabei wurden mindestens 543 Personen im Libanon getötet. Hisbollah und andere bewaffnete Gruppen seien demnach für 1.258 Angriffe verantwortlich, heißt es in dem Bericht. Dabei seien mindestens 21 Israelis getötet worden.
Nach Angaben der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) wurden auf libanesischer Seite mindestens 340.000 Tiere getötet, 47.000 Olivenbäume und 790 Hektar Agrarland zerstört, und zwar „während der Erntezeit“. Die Folge sei, dass die libanesischen Bauern mehr als 70 Prozent ihrer Ernte (2023/24) verloren und das Angebot von Nahrungsmitteln für die Bevölkerung sich verringert habe.
In großem Umfang feuern die israelischen Streitkräfte weißen Phosphor auf libanesische Wälder und Agrarland. Ernten, Boden und Grundwasser werden verseucht, das Gift bedroht Menschen und Vieh gleichermaßen. Israel zerstöre absichtlich die Lebensgrundlagen der Bevölkerung, (Karin Leukefeld, Südlibanon: Verbranntes Land, NachDenkSeiten, 31. Juli 2024)
Unabhängig davon, wer für den Treffen auf dem Fußballplatz von Majdal Shams verantworlich ist, demonstrierten deutsche Politiker und Medien erneut ihre monströse Schieflage in der Empörung über die dortigen Opfer. Schließlich führt die israelische Armee fast jeden Tag ein oder mehrere Angriffe durch, die eine ähnliche Anzahl von Kindern und Jugendlichen massakrieren, ohne dass dies hierzulande auch nur eine Meldung wert wäre.
So hatten am selben Tag israelischen Streitkräfte erneut eine Schule im südlichen Gazastreifen angegriffen und dabei mindestens 30 Menschen getötet, darunter 15 Kinder.
Und Michael Lüders fordert, man solle sich mal vorstellen, was passieren würde, wenn beispielsweise Netanyahu im Januar nächstes Jahr zur Inauguration des nächsten US-Präsidenten nach Washington fahren und dort in seiner Unterkunft durch eine Bombe getötet würde.
Sowohl der Iran als auch die Hisbollah lassen keinen Zweifel daran, dass sie mit harten Reaktionen auf die Anschläge reagieren werden. Das militärische Potenzial der Hisbollah ist beträchtlich und sie hat bereits demonstriert, dass sie den israelischen Streitkräften gezielte Schläge zufügen können. Die Hardliner in Tel Aviv wiederum drängen schon lange auf einen Angriff auf sie und damit den Libanon.
Die Geschichte verdeckter und offener israelischer Anschläge im Iran ist lang. Doch nach dem israelischen Luftangriff auf das iranische Botschaftsgelände in der syrischen Hauptstadt Damaskus, bei dem u.a. zwei Brigadegeneräle iranischen Revolutionsgarden getötet wurden, hat der Iran zum ersten Mal zurückgeschossen und dabei seine Feuerkraft eindrucksvoll demonstriert. Der Schaden blieb begrenzt, da Teheran Israel und seine Verbündeten durch Ankündigung der Angriffswelle genügend Vorwarnzeit gab.
Flächenbrand
Wird die neue iranische Regierung erneut nach Wegen suchen, eine starke Botschaft zu senden und gleichzeitig das Risiko einer Eskalation zu begrenzen? Oder wird diesmal eine Vorwarnung wegfallen? Washington stellt sich jedenfalls weiterhin voll und ganz hinter das israelische Regime und hat zusätzliche Kriegsschiffe zu dessen Schutz entsandt.
Was geschieht, wenn dieser diesmal nicht ausreicht und Israel massiver zurück schlägt?
Die Israelis wissen ganz genau, dass sie alleine keine Chance haben gegen den Iran, rechnen also mit US-Unterstützung, sobald die Lage entsprechend eskaliert.
Eskalieren wird es vermutlich dann aber an vielen Stellen. Bekanntlich greifen bereits die Ansarollah bzw. Huthi aus dem Jemen ein und auch schiitische Milizen aus dem Irak.
Nicht außer Acht lassen darf man, dass Israel eine Atommacht ist, neben den USA, wohl die, die sich am ehesten trauen könnte, ihre Atomwaffen auch einzusetzen – im Vertrauen darauf, dass niemand auf gleicher Ebene reagieren und die USA sie vor zu heftigen Gegenreaktionen schützen würde.
Und nicht vergessen sollte man auch, dass die Gegner Israels, die aus Solidarität mit den Menschen in Gaza angreifen, die Hisbollah wie die Huthi immer wieder versichern, ihre Angriffe sofort einzustellen, wenn Israel einem Waffenstillstand im Gazastreifen und natürlich mit ihnen zustimmt.
Wenn der Westen also einen Flächenbrand verhindern will, muss er die israelische Führung zwingen, einem Waffenstillstand zuzustimmen.
Joachim Guilliard betreibt den friedenspolitische Blog "Nachgetragen".