Am 19. Juni 2021 fand anlässlich des Weltflüchtlingstags in Linz der Umbrella-March statt, um auf die Situation notleidender Flüchtlinge im Rahmen der EU-Asylpolitik aufmerksam zu machen. Hier die Rede von Anja Krohmer vom Verein Arcobaleno. Sie hat das Flüchtlingslager auf Lesbos besucht. Sie berichtet über ihre Ohnmacht und Wut angesichts der unerträglichen Zustände, die sie dort gesehen hat. Sie ruft auf zu helfen.
Wenn du es mit deiner Familie bis in die Türkei geschafft hast.
Wenn du das UNHCR von eurer nächtlichen Überfahrt informiert hast, das Schlauchboot auch wirklich durchhält und euch das Meer an das europäische Ufer spült.
Du weißt, dass es euer Pech ist, wenn die griechische Polizei dich und deine Kinder dann trotzdem wieder auf dem Meer aussetzt.
Aber du weißt nicht, dass es ebenso euer Pech ist, wenn ihr im Lager aufgenommen werdet. Bis ihr dort ankommt und du erkennst, dass du auch hier keine einzige Chance hast, eure Lage zu ändern.
Wenn deine Kinder endlich in die Schule gehen wollen, aber nicht dürfen, weil ihr Flüchtlinge seid, weil ihr keine Steuernummer bekommt, weil es sowieso keinen Schulbus für sie gibt, weil ihr die aus dem Lager seid.
Wenn dieser Kontrollverlust, diese Ungewissheit, diese Orientierungslosigkeit, dieses endlose Warten dich krank macht. Wiederholte und von Menschen ausgeübte Gewalt - die schlimmste Form der Traumatisierung. Das ist wie Folter. Das ist Folter.
Wenn ich dringend aufs Klo muss, mich beim ersten Versuch angeekelt weigere, nach zwei Stunden mir aber nichts anderes übrig bleibt, dann denke ich an die Menschen im Lager, die täglich keine andere Wahl haben und an die Kranken und Schwächen, die dieses hohe Klo zum Hinhocken nicht benutzen können.
Aber es gibt jetzt Wasser und Seifenspender an jeder Kloreihe. Und viele Feuerlöscher im ganzen Lager. Und 24h Wasser am Tag. Und einen Schutzzaun. Da war der Brand doch zu etwas gut?
Wie verrohrt bin ich, wenn ich das neue Lager deshalb so viel besser finde?
Dort treffe ich Rukia, 12 Jahre, die mehrere Sprachen spricht, die für ihre Eltern und für mich dolmetscht, obwohl sie lieber draußen spielen will.
Rukia, die an meiner Aussprache sofort erkennt, dass meine Muttersprache Deutsch ist.
Rukia, die sich nicht mehr an Syrien erinnern kann, sondern nur noch an das Leben auf der Flucht und die Jahre in der Türkei.
Rukia, die in England leben und Polizistin werden will.
Deren große Augen so traurig sind und für die ich nichts tun kann, die ich einfach zurückgelassen habe
Rukia, und die vielen anderen Kinder, denen wir ihre Zukunft rauben und für die ich heute hier stehe.
Wenn du es als anerkannter Flüchtling endlich aufs Festland geschafft hast, aber deine Hoffnung auf eine gute Zukunft bei der Ankunft im Lager Eleonas in Athen sofort zerstört wird. Das nächste Lager, entsorgt. Aus den Augen, aus dem Sinn.
Wenn du als Familienvater nicht das Geld hast, dass jedes deiner drei Kinder eine Packung Chips um 50 Cent bekommt, obwohl du nur für ihre sichere Zukunft geflohen bist, nicht für dich selbst.
Wenn du nicht weißt, ob es hier oder in Syrien besser ist. Hier stirbst du jeden Tag ein kleines bisschen. In Syrien erwischt dich eine Bombe und du bist wenigstens sofort tot.
Wenn du kein Geld mehr hast, um zum Arzt zu fahren und der Hautausschlag deines Sohnes an Augen und Nase seit einem Jahr nicht richtig behandelt wird.
Wenn du zum Überleben vom Geld deiner Verwandten aus Syrien oder Europa abhängig bist.
Wenn du 5-6 Stunden in der Stadt unterwegs bist, endlich einen riesigen Karren voll Pappe gesammelt hast und dafür 5 Euro bekommst.
Wenn du als Vater deinen Kindern nicht sagen kannst, wie lange sie noch in diesem Lager leben müssen und nicht in die Schule gehen dürfen, weil dich die Behörden immer wieder wegschicken, vertrösten oder selber keine Antwort haben.
Wenn du weißt, dass du mit deiner Familie weiterflüchten musst, weil euer Elend hier unerträglich ist, deine auf der Flucht und im Lager geborenen Kinder aber kein einziges Dokument über ihre Existenz haben.
Wenn dir das Geld für offizielle Reisepässe oder für den Schlepper fehlt. Welchen legalen Fluchtweg für dich und deine Kinder sollst du nehmen, wenn es keinen gibt?
Wenn du versuchst, deine Würde aufrecht zu erhalten, aber diese Frau aus Österreich, die plötzlich vor deinem Container auftaucht, an den vielen Kindern mit den schmuddeligen Kleidern und den wilden Haaren sieht, dass es dir und deinen Nachbarn nicht mehr gelingt, denn deine Umgebung prägt und verändert dich.
So viele WENNs, aber kein einziges DANN
Was von alldem bleibt, sind meine Demut, meine Ohnmacht und meine Wut. Ich ertrage all dieses Zusehen nicht länger!
Die Frage ist, wem nutzen diese Zustände auf den griechischen Inseln und auf dem Festland?
Wem nutzt es, dass Familien in Geiselhaft in Zelten und Containern hausen müssen, statt frei in festen Unterkünften zu leben?
Warum stellt Griechenland anerkannten Flüchtlingen nicht rasch und ohne Schikane alle Papiere aus, damit sie sich auf den Weg nach Mitteleuropa machen können? Wem nutzt es?
Warum gibt es kein geordnetes System der Aufnahme und raschen Verteilung in ganz Europa? Was steckt dahinter?
WENN wir die Antworten auf diese Fragen finden, DANN sind wir dem Ende dieses menschenverachtenden Systems einen Schritt näher.
Bitte dankt mir nicht für diesen Text. Ich habe nichts gemacht. Ich war nur dort. Bitte dankt den Menschen, die im Lager auf Lesbos leben und sich Tag für Tag als Freiwillige engagieren, in dem sie Müll sammeln, Kurzschlüsse reparieren, Coronaprävention und ein Recyclingprojekt betreiben und damit die Situation für alle dort etwas verbessern. Für sie sammeln wir hier Geld. Damit finanzieren wir ihr Ticket für die Fähre, ein paar Lebensmittel, frische Kleidung oder auch einen Koffer, wenn sie die Insel endlich verlassen dürfen.
Dafür danke ich euch!
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Kontakt: www.arcobaleno.info